Louise Aston
Lydia
Louise Aston

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Sechstes Kapitel

Mehrere Tage waren seitdem verflossen, als eines Morgens der Doctor Langhals mit triumphirender Miene zum Baron kam. »Endlich habe ich sie so weit gebracht!« – rief er, sich die Hände reibend und im Zimmer auf und ab trippelnd – »aber es hat Mühe gekostet. – Doch ein prächtiges Mädchen, die Kleine. Was sagen Sie dazu, Baron?«

»Wozu?« – fragte dieser zerstreut. Er hatte die Worte des Doctors, an dessen Art er sich schon gewöhnt hatte, ganz überhört.

»Kleiden Sie sich an, das heißt, lassen Sie sich ankleiden, denn aus der Binde darf der Arm noch nicht heraus. Wir machen heute unsern ersten Spaziergang, denn wir sind genesen, vollkommen genesen. Nun, was denken Sie dazu, Verehrtester?« – »Ich denke, daß Sie heute etwas stark gefrühstückt haben!«

»Fehlgeschossen, theuerster Freund, gänzlich fehlgeschossen. Im Gegentheil, ich bin so nüchtern wie ein Küchlein, das eben das Ei verläßt.« Bei diesen Worten schenkte er sich ein Glas Wein ein, das der Baron, der seine Schwachheit kannte, stets für ihn bereit hielt. »Aber eilen Sie, eilen Sie; sonst kommen wir zu spät. Die Damen waren schon im Begriff, nach Hause zurückzukehren.«

»Die Damen?« – fragte Landsfeld mit schlecht verhehltem Interesse, indem er seinem Diener klingelte.

»Nun freilich, die Forsträthin mit ihrer Tochter. Die verdammte Geschichte mit dem Berger muß dem armen Kinde doch sehr zu Herzen gegangen sein. Kein Wunder freilich. Sind mit einander aufgewachsen. Sie wissen wohl, daß die Eltern der beiden Leutchen in demselben Orte wohnten. Bergers Vater war Prediger. Als er starb, ging seine Mutter mit ihm nach Wien, um ihm Gelegenheit zu geben, sein wirklich bedeutendes musikalisches Talent auszubilden. Unterdeß war auch Lydiens Vater gestorben und die Forsträthin mit ihrer Tochter nach Berlin gezogen, wohin sich denn auch zuweilen der junge Berger begab. Dort hat er sich mit ihr vor einem Jahre verlobt. Bald nach der Verlobung begab er sich auf eine Reise nach Italien, wo er über ein halbes Jahr blieb, dann noch seiner Mutter einen Besuch abstattete und endlich hier wieder mit Dornthals zusammentraf. Wann und wo er zuerst Frau von Rosen kennen gelernt, habe ich nicht erfahren können. Wahrscheinlich in Italien.«

»Nein. Schon in Berlin, vor seiner Verlobung« – berichtigte Landsfeld, der mit großem Interesse die Erzählung des Doctors anzuhören schien. »Und Sie glauben, daß Lydia noch immer –«

»O« – unterbrach ihn Langhals – »im Gegentheil! Als ich ihr heute erzählte, daß ich einen Brief von Berger aus Wien erhalten –«

»Was natürlich ein Scherz war« – bemerkte der Baron.

»Herr, was denken Sie? Ich scherzen? und auf so profane Weise mit diesem herrlichen Mädchen!«

»Nun, nun« – beschwichtigte Landsfeld den Aufgeregten, der wirklich diesmal böse war. »Es war nur ein Scherz von mir.«

»Schöner Scherz!« brummte der Medikus grollend. »Nun gut. – Als ich ihr also das mittheile – was glauben Sie, daß sie sagte?«

»Nun?« – fragte Landsfeld, dem es von Wichtigkeit war, die Gesinnungsweise und Denkart Lydiens kennen zu lernen.

Da sagte sie, tief Athem schöpfend: »Gott sei Dank!« und setzte alsbald kalt hinzu: »Ich konnte es mir wohl denken. Er hatte nicht einmal dazu Kraft genug. – Verstehen Sie etwas davon? Ich habe mir schon den Kopf darüber zerbrochen, was sie eigentlich damit gemeint haben mag. Doch ich sehe eben, daß Sie fertig sind. Nun, lassen Sie uns denn gehen. – Geben Sie mir den linken Arm.«

Als sie auf der Promenade anlangten, richteten sich Aller Blicke neugierig auf den bleichen jungen Mann, dessen Duellgeschichte bereits allgemein bekannt war. Als sie in eine Seitenallee einbogen, standen sie plötzlich vor Lydia, ihrer Mutter und deren unzertrennlichem Begleiter, dem Hofrath. Vielleicht mochte es gerade in dem scheinbar Unvorbereiteten und Unerwarteten liegen, daß dies erste Zusammentreffen Lydiens mit dem Baron weniger peinlich war, als es Beide gefürchtet hatten. Zwar färbten sich ihre bleichen Wangen plötzlich mit einem zarten Roth, das auch nicht wieder verschwand. Aber ohne dies Zeichen einer innern Bewegung hätte man nicht vermuthet, daß durch das Erscheinen Landsfelds irgend eine Veränderung in ihr vorgegangen. Mit unbefangner Anmuth erwiederte sie die stumme, ernste Verbeugung des Barons, der sich sogleich, nachdem die Ceremonie der gegenseitigen Vorstellung durch den kleinen Doctor mit allem ihm möglichen Pathos beendet war, an die Forsträthin wandte.

»Wir schulden Ihnen vielen Dank« – sagte diese, nachdem sie einige mehr gleichgültige, obwohl hier nicht blos conventionelle Fragen nach ihrem gegenseitigen Befinden gewechselt – »daß Sie auf Gefahr ihres eigenen Lebens den jungen Mann verschonten.«

»Schlagen Sie mein Verdienst dabei nicht zu hoch an« – erwiederte er bescheiden. »Berger war von Leidenschaft verblendet – ich konnte vermuthen, daß er keine sichere Hand haben und wahrscheinlich fehlschießen würde. Die Kräfte waren also ungleich vertheilt. Außerdem wollte ich mein Bewußtsein nicht mit einer That beschweren, deren Erinnerung nur qualvoll sein kann. Ich haßte den jungen Mann nicht, obwohl mir, als ich unmittelbar nach dem Wortwechsel, der die Ursache des Duells war, Ihnen und Ihrer Fräulein Tochter begegnete, seine Verirrung unbegreiflich erschien. Denn ich kannte die Dame, welche ihn so bezaubert hatte.«

»Sie kannten sie?« – fragte Frau von Dornthal in einem Ton, der wie eine Aufforderung zur weiteren Erklärung klang. Landsfeld warf einen forschenden Blick auf die ernsten Züge der Forsträthin. Dann verzog sich die eine Seite seines Mundes zu einem fast unmerklichen Lächeln. Denn er dachte an den Grund, den möglicherweise die Mutter Lydiens zu solcher Aufforderung haben konnte, vielleicht unbewußt hatte.

»Schon seit mehreren Jahren« – erwiederte er mit ruhiger Unbefangenheit. »Zuerst lernte ich sie in Berlin kennen. Die Richtung, welche damals meine innere Entwicklung genommen, begünstigte den mächtigen Eindruck, den sie auf mich machte. Ich glaubte gefunden zu haben, wonach ich mich schon so lange gesehnt hatte, einen weiblichen Charakter, in dem sich die innerliche Freiheit des Menschengeistes mit der zarten Selbstbeschränkung edler Weiblichkeit zur lebendigsten Harmonie zusammenschlösse, und der Widerspruch zwischen der Ueberwindung aller Schranken des Vorurtheils und des Aberglaubens mit der energischen Aufrechthaltung sittlicher Würde gelöst hätte.« – Landsfeld schwieg.

»Und Sie wurden in Ihrer Erwartung getäuscht?« – fragte mit sichtbar wachsendem Interesse die Forsträthin, die selber einen für die Idealität menschlicher Größe und Würde schwärmenden Sinn besaß.

»Mein Bedürfniß, sie verwirklicht zu sehen, war zu groß, als daß ich nicht jeden sich allmählig geltend machenden Zweifel geflissentlich unterdrückt hätte. Ich bin beschämt, es Ihnen gestehen zu müssen, gnädige Frau, daß ich mich länger als ein Jahr in meiner Selbsttäuschung so unendlich glücklich fühlen konnte.« –

Landsfeld gehörte zu jenen eigenthümlichen Charakteren, die sich in eine willkührlich erzeugte Vorstellung so hinein zu leben im Stande sind, daß sie den Mitteln, welche sie zur Aufrechterhaltung des Scheins in Anwendung bringen, gegen sich selbst eine Macht einräumen, deren Kraft und Wirkung der der Wahrheit völlig gleich ist. Als er jene Worte sagte, schlug er unwillkührlich die Augen zu Boden und eine flüchtige Röthe bedeckte seine Stirn. Es lag eine solche Wahrheit in dieser scheinbaren Bewegung, daß die Forsträthin seine Hand ergriff und mit Herzlichkeit drückte. Sie glaubte jetzt alles Uebrige zu verstehen, bis auf die Beleidigung der Dame, welche sie sich bisher nur aus einem unedlen Charakterzuge des Barons hatte erklären können. Sie begriff die Bitterkeit, welche nach einer solchen Enttäuschung die Brust eines Mannes, wie Landsfeld ihr erschien, erfüllen mußte, wenn sie auch einen derartigen Ausbruch derselben nicht billigen konnte. Sie wandelten eine Zeit lang schweigend neben einander her.

Landsfeld schien in tiefe Gedanken verloren.

Als wolle er sich mit Gewalt daraus emporraffen, sagte er plötzlich:

»Ich habe mich noch wegen der unüberlegten Art und Weise zu rechtfertigen, gnädige Frau, mit der ich Ihre Fräulein Tochter auf die Ihnen Beiden bevorstehende Gemüthsbewegung vorbereiten wollte. Daß ich nur die Absicht hatte, Ihre Besorgniß wo möglich zu heben, werden Sie wohl aus der Ungeschicklichkeit, womit ich die Sache anfing, selbst erkannt haben.

Jenes Billet, das ich den Abend vorher zwischen die Blumentöpfe steckte, hatte ich unter der Bank gefunden, auf welcher der junge Berger mit Frau von Rosen kurz vor meinem Zusammentreffen mit ihnen gesessen hatte. Ich weiß nicht, welches Gefühl mich damals zwang, jene Worte auf den Zettel zu schreiben, in den ich das Billet einwickelte. Es geschah, nachdem ich mich lange Zeit auf den Bergen umhergetrieben, in dem Augenblicke, als ich an Ihrem Hause vorbei kam. Erst als ich in meiner Wohnung angelangt war, fiel mir das Unpassende meiner Handlungsweise ein, und ich war eben im Begriff, wieder umzukehren und den Zettel zu zerreißen, als Berger zu mir kam, um mir in eigener Person seine Forderung zu überbringen. Da erschienen mir jene, durch den Augenblick hervorgerufenen Worte wie von einer höhern Ahnung eingegeben und ich beschloß, an dem, was ich gethan, Nichts zu ändern. Mit dem Briefe, den ich am folgenden Morgen an Fräulein Lydia abschickte, hatte es freilich eine andere Bewandtniß. Sie werden mir aus seinem Inhalt wohl keinen Vorwurf machen, hoffe ich, aber ohne Zweifel und mit Recht daraus, daß ich mich nicht an Sie wandte.«

»In der That« – sagte die Forsträthin zögernd, der es peinlich war, diesen Punkt berührt zu sehen, welcher ihr damals einen noch größeren Beweis für die Taktlosigkeit des Barons abgegeben hatte, als seine Beleidigung gegen Frau von Rosen.

»Lassen Sie mich mit einem Worte diese Sache aufklären. Ich wußte Ihren Namen noch nicht, gnädige Frau, da ich erst denselben Morgen angekommen. Berger ging erst gegen eilf Uhr Abends von mir. Erkundigungen konnte ich also nicht mehr erst einziehen. Am andern Morgen um fünf Uhr war das Zusammentreffen auf den Bergen angesetzt. Gesprächsweise erfuhr ich von Berger, den ich unmöglich direct danach fragen konnte, den Vornamen Ihrer Fräulein Tochter. Sobald er mich verlassen, schrieb ich jenen Brief an Fräulein Lydia und gab ihn am andern Morgen meinem Diener mit dem Befehl, ihn auf der Promenade abzugeben.«

»Lassen wir diese peinlichen Erörterungen, Herr Baron« – sagte die Forsträthin, welche durch die gegebene Erklärung befriedigt war, »für die ich Ihnen jedoch von Herzen dankbar bin. Ohnehin möchte ich eine Bitte an Sie richten, die Sie mir wohl nicht abschlagen, auch nicht, ich hoffe es, unrichtig verstehen werden, die nämlich, so wenig wie möglich diese überwundene Vergangenheit zu berühren, besonders« – setzte sie leiser hinzu – »im Gespräch mit meiner Tochter. Nicht wahr, Sie werden mir diesen Gefallen thun?« –

»Gnädige Frau« – erwiederte Landsfeld mit ernster Miene – »es würde mich tief betrüben, sollten Sie das Gefühl, welches mich zu den obigen Aufklärungen gedrängt hat, mit einem Mangel an Discretion und Zartgefühl verwechseln. Auch ohne Ihren ausdrücklichen Wunsch wäre diese erste Erörterung auch die letzte gewesen, da sie nur den Zweck hatte, mein Benehmen in Ihren Augen zu rechtfertigen.«

»Es war nicht meine Absicht, Sie kränken zu wollen« – sagte die Forsträthin mit halb bittendem Tone. »Nicht ein Mißtrauen gegen Ihr Zartgefühl, Herr Baron, nur die Sorge gegen meine schon von so vielen Aufregungen angegriffene Tochter trieb mich zu jener Bitte, die ich indeß sicherlich unterdrückt haben würde, hätte ich vermuthen können, daß Sie darin etwas Kränkendes finden können.«

Der Baron verbeugte sich, zum Zeichen, daß er hierdurch völlig zufrieden gestellt sei. Und in der That konnte er es auch in anderem Sinne sein. Denn dadurch, daß er die Mutter Lydiens zu einer Art von Entschuldigung gegen ihn gebracht hatte, war seine Stellung ihr gegenüber eine in jeder Beziehung selbstständige und freie geworden. Daß er diese ausgezeichnete Frau richtig beurtheilt hatte, bewies ihm die ganze Art und Weise, mit der sie ihn behandelte, jene von einem Dritten gar nicht wahrnehmbare Innigkeit im Tone, wie sie nur zwischen Charakteren möglich ist, deren gegenseitige Achtung aus einem innern, auf ideeller Sympathie gegründeten Verständniß stammt. Und doch ist gerade hier die Täuschung am leichtesten. Denn Derjenige, dessen Herz von idealer Schwärmerei erfüllt ist, und folglich an sich selbst und an die Wahrheit seiner Empfindung glaubt, ist gegen Trivialität und Schlauheit eben so sicher gewappnet, als gegen die ideellen Phantasiemenschen schutzlos; denn da er nicht den Unterschied zwischen der ideellen Wahrheit des Herzens und dem ideellen Schein der Phantasie verstehen kann, so begreift er auch nicht die Möglichkeit einer Täuschung durch den letzteren. Landsfeld hatte die Hoheit und Reinheit der Seele von Lydiens Mutter in ihrem ersten, forschend auf ihn gerichteten Blick gelesen und daraus sofort die Rolle erkannt, welche er ihr gegenüber zu spielen hatte. Die Täuschung war ihm über Erwarten gelungen, was auch großentheils daraus zu erklären war, daß allerdings ein Theil des Charakters, den er hier darstellte, in seinem eigenen Wesen begründet war, nur mit dem Unterschiede, daß er ihn zu einem bestimmten Zweck und durch willkührliche Mittel nach Außen kehrte. Lydia war unterdeß von ihren beiden Begleitern nach Möglichkeit unterhalten worden. Besonders bot der kugelrunde Doctor seine ganze Beredtsamkeit auf, um die trüben Gedanken, welche noch immer in ihren niedergeschlagenen Augen zu lesen waren, zu zerstreuen. Sie hatte hiervon den großen Vortheil, ihren Träumereien ungestört nachzuhängen, ohne durch offene Unaufmerksamkeit ihren redseligen Begleiter zu kränken. Denn wenn der Doctor über jede an ihn gerichtete Frage die größte Freude empfand, so war er doch selbstsüchtig genug, diese Freude selbst keinem Andern zu bereiten; was ihm jedoch merkwürdiger Weise als eine Liebenswürdigkeit ausgelegt wurde. Außerdem pflegte er jeden Witz, der seiner beweglichen Zunge entströmte, nicht blos nachher, wenn er schon heraus war, durch ein Lachen zu belohnen, sondern auf dieselbe Weise schon vorher anzukündigen, wodurch seine Zuhörer immer in den Stand gesetzt wurden, zu beurtheilen, was der Doctor für einen Witz halte, und folglich belacht haben wolle. Lydia lächelte auch manchmal, aber weniger über die Scherze des unterhaltsamen Jüngers Aeskulaps, als über die komische Ankündigung derselben, theils auch aus Gutmüthigkeit und angeborener Liebenswürdigkeit. Zuweilen erhob sie ihren Blick so weit, daß er den einige Schritte von ihr neben ihrer Mutter hinwandelnden Baron erreichte. Wenn sie auch nicht den Inhalt des Gesprächs verstehen konnte, so entnahm sie doch aus dem ernsten und eindringlichen Tone, mit dem dasselbe geführt wurde, daß die Unterhaltung keine blos conventionelle Bedeutung hatte und keinen gleichgültigen Gegenstand betraf. War es die Nichtbefriedigung des Interesses, das sie selber an dem Gespräch nahm, oder das peinliche Gefühl, selber Gegenstand einer von Anderen geführten Unterhaltung zu sein, oder war es vielleicht auch eine Art von Verletztheit über die scheinbare Nichtachtung des Barons, der sie gar nicht zu bemerken schien, oder endlich war es Alles dieses zusammen – was wohl das Wahrscheinlichste sein mochte –: genug, als der Baron stehen blieb, um sich von ihrer Mutter und den nachfolgenden Dreien zu verabschieden, konnte sie seine fast herzlichen, obwohl höflichen Abschiedsworte nur mit einer kurzen, kalten Verbeugung erwiedern. Landsfeld war ein zu feiner Menschenkenner, und verstand sich besonders auf das weibliche Herz zu gut, war vielleicht auch ein zu großer Egoist, als daß er diese Kälte nicht richtig zu seinen Gunsten gedeutet hätte. Wieder schwebte jenes leise Lächeln des Triumphs auf seinen Lippen, als er sich in Begleitung des Doctors mit raschen Schritten entfernte.

»Ein merkwürdiger Mann« – sagte die Forsträthin, wie in Gedanken vor sich hinsprechend, als sie am Arm ihrer Tochter den Rückweg nach Hause antrat. »Warum lachst Du?« – fuhr sie zu Lydia gewandt fort.

»Ich dachte daran, daß der Doctor schon öfter denselben Ausspruch gethan« – erwiederte diese fast bitter. »Dasselbe sagte er aber auch über Andere.« –

Diese Anspielung auf Frau von Rosen hatte besonders durch den Ton, mit dem sie gemacht wurde, etwas Verletzendes in sich, welches der Forsträthin wehe that. Sie schwieg jedoch, weil sie fürchtete, daß eine Vertheidigung des Barons das Vorurtheil, welches Lydia gegen ihn zu haben schien, nur verstärken möchte.

Am folgenden Tage, als sie Beide die Seitenallee langsam auf und ab wandelten, sagte nach längerem Schweigen die Forsträthin: »Es ist nun Zeit, liebes Kind, daß wir uns bald zur Abreise fertig machen. Meine Kur geht mit dieser Woche zu Ende. Mich wundert, daß sich der Hofrath gar nicht sehen läßt, ich möchte gern mit ihm darüber sprechen. Vielleicht begleitet er uns.«

Lydia erschrak über den Entschluß ihrer Mutter, doch, als wenn sie sich selber für diese Bewegung, die sie sich nicht erklären konnte, strafen wollte, sagte sie schnell: »Du hast Recht, liebe Mutter; es ist hohe Zeit, daß wir nach Hause kommen. Es verlangt mich sehr danach. Pr---t hat für mich auch keinen Reiz mehr, seit –«

In diesem Augenblicke kam hastigen Schrittes der Doctor auf sie zu. »Wissen Sie schon, Verehrteste – ein merkwürdiger Mensch – der! – hm! Fataler Zufall!« –

Lydia erschrak abermals, aber sie schwieg.

»Was ist's? Wovon sprechen Sie?« – fragte die Forsträthin. Der Doctor lächelte über das ganze breite Gesicht, denn er hatte eine Frage zu beantworten und begann mit pathetischem Tone und in seiner gewöhnlichen abgebrochenen Weise zu erzählen, wie der Baron gestern Nachmittag trotz seines ausdrücklichen Verbots auf die Berge gestiegen und bis tief in die Nacht in den Wäldern umhergeirrt. Dadurch sei die nur leicht verharrschte Wunde so entzündet worden, daß die ganze Mühe, die er sich mit ihm gegeben, umsonst sei. Nun müsse er wieder die Stube hüten, was ihn in die unangenehmste Laune von der Welt gesetzt habe. »Fataler Zufall!« – schloß er seine Erzählung.

»Das thut mir leid« – bemerkte die Forsträthin – »um so mehr, als wir nun wohl das Vergnügen entbehren werden, ihn noch einmal zu sehen.« –

Lydia befand sich seit mehreren Tagen schon in einer Stimmung, die ihr selbst unheimlich und drückend war, da sie mit ihrer klaren und tiefen Natur in vollem Widerspruch stand. Sie war sich selbst ein Räthsel. Dies machte sie unruhig, und, was ihrem sonstigen Wesen ganz fremd war, launisch. Sie fühlte über Bergers Handlungsweise jetzt keinen Schmerz mehr, nur wenn sie in einsamen Stunden der vergangenen Zeit dachte, an ihre Heimath, an die süße Gewohnheit eines vertraulichen unbefangenen Umgangs mit dem jungen Mann, als sie mit ihrer Mutter nach Berlin übersiedelt war, an seine Lieder, die er für sie componirt – dann überfiel sie wohl ein Gefühl der Wehmuth, und ihre Thränen strömten die innere Trauer ihrer Seele aus. Doch bald überkam sie in solchen Augenblicken eine andere, bittere Empfindung; wie ein frostiger Hauch durchschauerte ihr Herz der Gedanke an die Zerrissenheit und Unwürdigkeit des früher Geliebten, und eine trostlose Kälte, eine Leere an Empfindung verdrängte die Wehmuth aus ihrer Brust. Daß sie ihn nicht mehr liebte, ja daß sie ihn vielleicht nie geliebt hatte, wurde ihr immer klarer, aber sie hatte noch nicht das Bewußtsein, das nur die Erfahrung giebt, was der Grund dieser Gereiztheit sei, nämlich, daß sie im Begriff sei, einer andern Liebe Raum in ihrem Busen zu geben. Vielleicht ahnte sie diese Veränderung in sich, wenigstens wehrte sie sich instinktmäßig dagegen, aber wenn ihr Jemand den Namen Landsfeld genannt hätte, so würde sie wahrscheinlich mit Entrüstung eine solche Vermuthung von sich abgewiesen haben. – Was war nun aber die Quelle dieser erwachenden Leidenschaft? Der Baron hatte eigentlich noch kein Wort mit ihr gesprochen, sie kaum beachtet, gewiß aber in keiner Weise sich ihr genähert. Welcher geheimnißvolle Einfluß konnte also seinerseits von ihm ausgeübt sein? War es die männliche, energische Kraft seines Geistes, die sich in seiner Handlungsweise gegen Berger ausgesprochen hatte? Dies hatte ihm wohl Lydiens Achtung erworben, aber wie wäre ihre Leidenschaft dadurch rege geworden. Oder war es die ritterliche Schönheit seiner Gestalt, die einen Eindruck auf ihre Sinne gemacht hätte? Dazu war Lydia noch zu unbefangen und harmlos. Ihre Sinnlichkeit war eine völlig geschlossene Knospe, der sich noch kein belebender Sonnenstrahl genaht. Was also war dieser räthselhafte Grund? Ein einziger Blick war es, der sie in ihrem mädchenhaften Far niente gestört, jener Blick, den Landsfeld auf sie geworfen, als er an dem ersten Tage nach der Scene in dem Rondel ihr begegnet hatte, und den sie nie wieder vergessen. Eine dämonische Gewalt mußte in diesem Blick gelegen haben, denn sie fühlte, wie er alles Blut ihr nach dem Herzen jagte, und es im nächsten Augenblicke mit reißender Schnelligkeit durch alle Adern trieb. Dieser eine Blick ruhte seitdem, ohne daß sie es ahnte, im tiefsten Winkel ihres Herzens, und tauchte nur dann auf, wenn irgend ein großes Ereigniß ihre Kraft in Anspruch nahm. Er hatte ihr den Muth zu jenem Gespräch mit Berger gegeben, er hatte sie in dem Kampfe der Trennung aufrecht erhalten, aus ihm schöpfte sie jetzt ihr ganzes inneres Leben, dessen Veränderung sie wohl fühlte, ohne über ihre geheimnißvolle Quelle im Klaren zu sein. – Jetzt, wo die durch die Stürme der vorigen Woche in Bewegung gesetzten Wellen sich allmählich geebnet hatten, fühlte sie eine unendliche Leere in ihrer innern Welt. Kalt und theilnahmlos, aber von steter Unruhe, deren Ursache sie vergeblich nachsann, hin und her getrieben, suchte sie sich durch mancherlei Beschäftigung zu zerstreuen. Aber weder ihr Vogel, noch ihre Blumen, über die sie sich früher wie ein Kind hatte freuen können, waren im Stande, ihr ein Lächeln abzugewinnen. Mit Besorgniß blickte zuweilen die Mutter, der diese gänzliche Veränderung in ihrem Wesen nicht entging, auf ihre bleichen Wangen und getrübten Augen. Da sie dieselbe jedoch auf den Eindruck schob, den die peinliche und verletzende Art, in der sie sich von ihrem Jugendfreunde und Verlobten getrennt hatte, auf sie hervorgebracht, so vermied sie es, darüber zu sprechen, in der Hoffnung, daß die Zeit, wie überall, auch hier als der beste Arzt sich geltend machen würde.

Eines Tages, es war der zweite vor ihrer Abreise, als sie eben von ihrer Morgenpromenade zurückgekehrt waren, klopfte es an der Thüre und Landsfeld trat herein. Sein Arm ruhte noch immer in der Binde und sein Gesicht war noch bleicher als gewöhnlich. Auch Lydia erbleichte, und hatte kaum die Kraft, sich vom Stuhle zu erheben. Die Forsträthin lud ihn mit großer Herzlichkeit zum Sitzen ein.

»So sind Sie also noch nicht fort?« – sagte er hastig, indem er tief Athem schöpfte. »Der Doctor Langhals sagte mir, Sie reisten heute ab. – Sie entschuldigen meinen Besuch« – setzte er alsbald mit einer so natürlichen Verwirrung über seine Hast hinzu, daß die Forsträthin unwillkührlich über den unbefangenen Ausdruck seiner Theilnahme, die sie darin zu erkennen glaubte, lächeln mußte.

»Wir hatten allerdings die Absicht« – sagte sie – »aber theils Furcht für die noch immer angegriffene Gesundheit meiner Tochter –«

»Sie sind unwohl, Fräulein?« – unterbrach sie Landsfeld, indem er sich mit einer Mischung von herzlicher Theilnahme und ernster Zurückhaltung an Lydia wandte. Es waren die ersten Worte, welche er an sie richtete. So allgemein ihr Inhalt war, so vielbedeutend klangen sie ihr durch den Ton, mit dem sie gesprochen wurden.

Sie erröthete sanft, indem sie erwiederte, daß sie sich bereits kräftig genug fühle, um ohne Gefahr in zwei Tagen die Reise antreten zu können. »Ueberdies« – setzte sie mit etwas mehr Lebhaftigkeit hinzu – »glaube ich, daß die schädliche Nachwirkung von Gemüthsleiden durch den Wechsel des Orts an Stärke verliere. Man sagt ja immer, daß das Reisen zerstreue, und verordnet es sogar als Heilmittel bei Gemüthsleiden.« Das Letztere sprach sie mit einem Anflug von Bitterkeit im Tone, die jetzt fast immer die wenigen Gedanken begleitete, welche sie äußerte. Landsfeld war überrascht von dem hellen Glanz, welcher in diesem Augenblick aus ihrem tiefblauen Auge strahlte, und ihrem reizenden Gesicht einen eigenthümlich fesselnden Ausdruck von geistiger Tiefe verlieh. Er dachte sich dieses liebliche Wesen als seine Gattin – und fragte sich, ob er im Stande sein würde, fest zu bleiben in dem Entschlusse, dem Scheine der Wahrheit zu trotzen und zu zweifeln – bis zur letzten unbezweifelbaren Überzeugung. Er fühlte die ganze Gefahr des Kampfes, den er mit sich selbst kämpfen werde. Einen Moment schwankte er. Die Süßigkeit gläubiger vertrauender Hingebung zog mit allen Wonneschauern durch seine Brust. Aber er dachte an Alice. – – Er wollte ja Wahrheit, nichts als Wahrheit. – Mit fester Hand riß er die jungen Wurzeln des Vertrauens, das sich in seinem Herzen zu regen begann, heraus, und wiederholte seinen Schwur der Entsagung. – Es war, wie gesagt, nur ein Augenblick, wo er von diesen hin und her wogenden Empfindungen durchströmt wurde, aber ein entscheidender. Sein großer feuriger Blick bohrte sich tief in den Lydiens ein, als wollte er ihre tiefsten Tiefen ausmessen. Es war derselbe Blick, dessen Gewalt sie bei seinem ersten Begegnen gefühlt hatte. Ihr Busen hob sich über den ungestümen Schlägen ihres Herzens und eine tiefe Angst durchzitterte ihre Seele. Dieser Mann erschien ihr wie ein Dämon, welcher mit eherner Faust ihren Geist umklammern wollte, und sie fühlte klar, daß sie ihn entweder lieben oder hassen müßte, vielleicht Beides.

Landsfeld bemerkte die Wirkung, welche er diesmal wider seinen Willen hervorgebracht. Er wandte seinen Blick von Lydia ab und bemerkte, sich mehr zur Forsträthin wendend, in ruhigerem Ton: »Ich habe mich oft über die Ansicht gewundert, daß man reisen müsse, um sich von seinem Schmerze zu zerstreuen. Aber ist der nicht glücklicher, welcher bleibt, wenn der Geliebte scheidet? gewiß, denn er hat zu Gefährten die mitfühlenden Plätze, die Denkmäler seiner Liebe. Unglücklicher der, welcher scheidet, um an fremdem Orte zu erwachen. Er hat nur sich und seinen Schmerz, in dem er sich ewig spiegelt, in den er, wenn fremde Mißtöne sein Herz zerreißen, zurückflieht, um ihn ewig wieder auf's Neue zu fühlen.«

»Sie haben Recht« – erwiederte Frau von Dornthal – »wenn Sie von einer Trennung sprechen, die durch äußere Umstände oder durch die Gewalt eines Dritten herbeigeführt worden, ohne daß einer der Getrennten selbst daran Schuld ist.«

Der Baron hatte geflissentlich jede Anspielung auf Berger vermieden, und Lydia wußte ihm Dank dafür. »Ich glaube« – fuhr er daher fort – »daß die Ursache des Schmerzes für die Wirkung mehr oder weniger gleichgültig ist. Denn die Erinnerung bleibt doch eine reine, oder ist sie nicht rein, so reinigt sie sich von selbst im reinen Herzen. Denn ein reines Herz ist ein Läuterungsfeuer, in dem sowohl der Schmerz, wie die Freude von allen Schlacken gereinigt werden.«

»Jeder geistige Schmerz« – fragte Lydia – »wäre also nach Ihrer Ansicht etwas Edles?«

»Gewiß« – erwiederte Landsfeld. »Wenigstens wird er es mit der Zeit. Er trägt sogar immer einen größeren Adel in sich, als die Freude, möge diese noch so schuldlos und rein sein. Wohl Jeder macht wenigstens einmal in seinem Leben die Erfahrung an sich, daß das schmerzliche Gefühl ein wahres Element unserer geistigen Existenz ist und mit dem Edelsten in unserer Natur harmonirt. Es liegt ein Genuß darin, sich in den Schmerz zu versenken, davon die tiefste Tiefe zu erschöpfen und die bitteren Tropfen mit wehmüthiger Wollust zu schlürfen. Der Schmerz ist das eigentlich geistige Element der Hoffnung oder Erinnerung. Und jeder ideelle, inmaterielle Genuß ist entweder Hoffnung oder Erinnerung. Der Schmerz ist das Flügelschlagen unserer Seele an die Stäbe des Kerkers, die Klage des gefesselten Prometheus, an dessen Leber der Adler frißt; die Rache des unendlichen Ideals an dem beschränkten Menschengeist.«

Landsfeld hatte sich in einen Enthusiasmus hineingesprochen, der mehr eine Rückwirkung des überaus seelenvollen Ausdrucks in den Zügen der jüngeren seiner Zuhörerinnen war, als aus seiner momentanen Stimmung hervorging. Mit ruhigerem Ton fuhr er fort:

»Daher kommt es, daß wir weit mehr von den wehmüthigen Zügen eines schönen Gesichts, von der Rührung der Freude, der die Thränen an den Wimpern hangen, angezogen werden, als von dem fröhlichen Anblick eines heiter lachenden Profils. Deshalb dringt das melancholische Moll tief in unsere Empfindung und setzt die innersten geheimsten Saiten unseres Gefühls in nachhallende Schwingungen, während das hüpfende heiter versöhnende Dur nur die Oberfläche unserer Seele durchdringt und mehr unsern Geschmack, als unser Herz befriedigt. Ja, in ganzen Völkern zeigt sich dieser Drang nach dem Schmerzlichen, vorzüglich in der Musik; z. B. bei den Polen, Ungarn, wogegen den Franzosen und Engländern dieser Nationalzug ganz fremd ist.

Woher nun dieser Drang nach dem Wehmüthigen, woher die Furcht vor der Versöhnung? Woher dieses Gefühl des Erhabenen, Edlen, Idealen im Schmerze und in der Wehmuth, welche Nichts ist, als der Genuß des Schmerzes. Nur der Mensch ist der Wehmuth fähig. Das Thier fühlt nur Freude oder Schmerz, im materiellen Sinne. Woher diese Lust an der geistigen Qual?

Weil der Mensch nur diese ewig mit sich selbst ringende Natur hat. Habe ich also nicht Recht, wenn ich behaupte, daß der Schmerz ein wesentliches Element das wahrhaften Menschenseins ist?

Darum ist er es, weil er etwas Göttliches ist, oder doch aus ihm stammt, nämlich aus dem unendlichen, nie ganz gestillten Drange nach der Freiheit des Geistes. Nie gestillt – darin liegt seine Quelle. Denn die Freiheit ist ein unerreichbares Ideal.

Der Schmerz ist deshalb etwas Göttliches, weil er die Empfindung ist, daß wir nicht Götter sein können, und doch Götter sein wollen. – Er ist das ›Mich dürstet‹ des Gottes, den wir in uns haben, und den wir in uns selbst kreuzigen, weil wir ihn nicht verstehen.«

Landsfeld sagte diese Worte mit dem Ausdruck einer tiefen Trauer auf seinem Gesicht, als fühle er den Schmerz der ganzen Menschheit selber in seinem Innern wühlen. Lydia war in eigenthümlicher Bewegung. Als wäre plötzlich ihre bisherige Welt aus ihren Angeln gehoben und eine andere, unendlichere an ihre Stelle gesetzt, so überwältigend drangen seine Worte in ihre Seele, so tief erschütterten sie sie bis in ihre letzten Wurzeln. Eine flammende Röthe zog, während Landsfeld sprach, wie der Morgenschein eines neuen Tages auf ihre Wangen herauf, als sie mit zitternden Lippen und feuchtem Auge an seinen schwärmerischen Blicken hing; und als er nun schwieg, und sein Auge, das bisher halb niedergeschlagen war, sich langsam nach dem Auge Lydiens erhob, das schlug sie die ihrigen zu Boden; aber ihr Erröthen wurde noch tiefer und flammender, als sie, ihre Bewegung bekämpfend, sagte:

»Ihre Anschauungsweise, Herr Baron, ist mir zwar neu, doch glaube ich Sie vollkommen verstanden zu haben. Ich gebe Ihnen zu, daß der geistige Schmerz die Seele adelt, weil er selbst etwas Edles ist. Auch das glaube ich nicht falsch aufzufassen, was Sie unter der Idealität des Genusses begreifen. Wie Sie aber diese Idealität nur in der Erinnerung und in der Hoffnung, also immer doch in der Entbehrung, im Mangel finden, das verstehe ich nicht. Haben Sie nie Augenblicke gehabt, wo Sie, von einer durchaus reinen, edlen Empfindung, oder einem schönen und großen Gedanken durchdrungen, sich gestehen mußten, daß die Gegenwart und ihr Bewußtsein auch ideelle Genüsse gewähren könne? – Ist dies aber so, so kann man dem Schmerz wohl nicht allein das Vorrecht zuerkennen, edler als Empfindungen anderer Art zu sein. Ich meine, daß es auch geistige Freuden giebt, die eben so reinen Ursprungs und eben so idealer Natur sind, als geistige Schmerzen.«

Eben wollte Landsfeld antworten, als der Hofrath Rupf eintrat. »Es ist mir lieb, daß Sie kommen,« sagte die Forsträthin zu diesem – »ich möchte mit Ihnen über unsere Reise sprechen.« Sie führte ihn in's Nebenzimmer, indem sie den Baron wegen dieser Unterbrechung um Entschuldigung bat.

»Ich vermuthe« – sagte dieser lächelnd zu Lydia, indem er das frühere Gespräch wieder aufnahm – »daß Sie in der Vertheidigung der Freude an den idealen Eindruck denken, den eine großartige oder schöne Naturerscheinung auf uns hervorbringt. Aber denken Sie zurück an die Art dieser Eindrücke? Ist es wirklich Freude gewesen, nur Freude, was Sie in solchen Augenblicken erfüllte? Hat kein Gefühl der eigenen Beschränktheit, keine Sehnsucht nach der unendlichen Freiheit diese Freude getrübt? Ich bezweifle es. Je tiefer sich der Blick in die Ferne verliert, je höher er in den ewigen Himmel aufsteigt, desto beklemmter wird die Brust, desto unendlicher die Sehnsucht, die Schranken der Gegenwart zu durchbrechen und sich in die absolute Tiefe zu versenken.«

Lydia dachte an jenen Morgen, an dem sie mit so wehmüthigen Empfindungen den Sonnenaufgang betrachtet, und eine Thräne trat in ihr Auge. »Sie haben doch wohl Recht« – sagte sie fast traurig. – »Aber ist es nicht ein entmuthigender Gedanke, daß der Mensch nur durch das Opfer seiner Unbefangenheit und seines Frohsinns sich dem Ideale nähern kann, daß er also nur entweder in der Erinnerung oder in der Hoffnung leben darf, wenn er sich seines geistigen Wesens bewußt werden will?«

»Ich denke nicht, daß diese Entbehrung so groß ist. Denn was liegt zwischen Erinnerung und Hoffnung? Dasselbe, was zwischen Vergangenheit und Zukunft: die Wirklichkeit, die Gegenwart. So sagt man, ohne zu bedenken, daß, wenn man anders unter Wirklichkeit und Gegenwart das Bewußtsein davon versteht, die Wirklichkeit nicht gegenwärtig und die Gegenwart nicht wirklich ist. Wie die Gegenwart der Punkt ist, in dem Vergangenheit und Zukunft zusammentreffen, und der ewig fließt, so ist die Wirklichkeit der Punkt, in dem sich Erinnerung und Hoffnung berühren. Dieser Punkt ist aber in der That gleich Null. Alle Gefühle, die unsere Seele rührten, alle Empfindungen, die unsern Geist erhoben, beziehen sich entweder auf etwas hinter ihnen oder vor ihnen Liegendes. Und wollte er auch das Gegenwärtige sich zum Bewußtsein bringen, so wäre es doch schon etwas Vergangenes, ehe es in's Bewußtsein käme. So reproducirt jeder hüpfende Pulsschlag ein neues Gefühl und jeder belebende Athemzug ist die Quelle einer frischen Empfindung. Aber jedes dieser zitternden, rosigen Kinder des Herzens begeht in seiner Geburt einen Muttermord, um von seinem eigenen Kinde in der nächsten Sekunde erstickt zu werden.« –

Es lag eine solche Trostlosigkeit in dem leisen und wehmüthigen Tone, mit dem Landsfeld diese Worte sprach, daß Lydia ihre Thränen nicht zurückhalten konnte. Wie erstaunt und erfreut war sie daher, als plötzlich Landsfelds Blicke zu leuchten begannen, und eine edle Begeisterung auf seinem Gesichte glänzte, als er folgendermaßen schloß:

»Aber Eines giebt es, was nicht dem Wechsel erliegt, was weder mit der bloßen Wirklichkeit noch mit der Unwirklichkeit im Widerspruche steht, was man weder in der Vergangenheit, noch in der Zukunft zu suchen braucht: es ist das Bewußtsein dessen, was man will, das Gefühl dessen, was man glaubt, und das Vertrauen zu dem, was man liebt – und die Quelle von diesen dreien: Die Ueberzeugung von der Wahrheit des Guten und Schönen in sich selbst und in denen, die man liebt.«

Er stand bei diesen Worten auf, faßte Lydiens Hand und drückte einen warmen, innigen Kuß darauf. Zitternd vor innerer Bewegung hatte sie nicht die Kraft, ihm ihre Hand zu entziehen.

Er entfernte sich schnell, als fürchte er bei längerem Bleiben nicht Herr seiner Empfindung zu bleiben.

Als Frau von Dornthal wieder eintrat, fiel ihr Lydia weinend um den Hals.

»Was ist's? Was fehlt Dir, Lydia?« – fragte sie erschreckt.

»O, Nichts, Nichts, theure Mutter. Aber laß uns bald abreisen.«

»Beruhige Dich nur. Morgen gehen wir ganz bestimmt. – Der Baron ist schon fort?«

»Er wollte Dich wohl nicht stören.« – Lydia erröthete über diese erste Unwahrheit gegen ihre Mutter. Denn sie glaubte recht wohl den eigentlichen Grund seines hastigen Abschiedes zu kennen.


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