Louise Aston
Lydia
Louise Aston

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Drittes Kapitel

Schon lange bevor die Sonne am östlichen Horizont, der die in weißlich grauen Dunst eingehüllte Ebene begrenzte, ihre ersten Blitzstrahlen gegen die dichte Nebelmasse ausgesandt und ihr Nahen nur erst durch einen breiten, langen, aber schwachen Purpurstreifen, der zuweilen durch den, wie zum Widerstande sich scheinbar immer mehr verdichtenden Nebelflor verwischt wurde, glänzten die im Westen gelegenen Spitzen des Gebirges in dunkelrother Glut, die sich immer tiefer und tiefer senkte. Endlich erschien auch auf der entgegengesetzten Seite ein blutrother feuriger Streifen. Immer höher und höher sich erhebend, gestaltete er sich zuletzt zum leuchtenden Feuerball, welcher auf der scharf hervortretenden Linie des Horizonts tanzend zu schweben schien. Es war ein wundervoller Anblick, wie ihn nur der verstehen und nachempfinden kann, der ihn einmal in seiner ganzen Größe und Schönheit genossen hat. Jede Beschreibung ist matt und farblos gegen eine solche Wirklichkeit. Die zuckenden, sprühenden Strahlen der Sonne, welche wie feurige Pfeile des zürnenden Gottes durcheinander schießen, bis sie die kämpfenden Nebelmassen zerstreuen, die sich nun fliehend um die Gipfel der Bäume schaaren, als wollten sie im Schatten der Wälder ein schützendes Bollwerk gegen die Macht des Lichts suchen – die glühenden Bergspitzen und vor Allem der frische balsamische Duft, welcher wie ein phantastischer Traum der halb noch träumenden Erde auf Berg und Thal, auf Wald und Flur schwebt –: Wer vermag jemals alle die stillen Wonneschauer und die schweigende Begeisterung zu vergessen, die ihn bei der Feier dieses erhabenen Naturkultus durchbebte?

Als die Strahlen des sich höher aufschwingenden Sonnenballs auf die Dächer des noch größtentheils im tiefen Schlaf ruhenden Dorfes fielen, und nur erst einzelne Badegäste, denen der Arzt einen frühen Spaziergang als Kur verschrieben hatte, gähnend und fröstelnd sich zu diesem unbequemen Geschäfte bereit machten, öffneten sich auch die grünen Läden des letzten weißen Häuschens, über dessen Dach die, uns aus der Beschreibung Carls schon bekannten mächtigen Kastanienbäume ihre schützenden Zweige ausstreckten.

Das Fenster war jedoch mit zwei übereinanderstehenden Reihen von Blumentöpfen so bestellt, daß man Anfangs nichts von dem menschlichen Wesen bemerken konnte, das so früh den schönen Morgen begrüßen zu wollen schien, als eine niedliche, feine Hand und einen runden Arm von überraschender Zartheit und Weiße. Die Läden waren nun wohl geöffnet, allein sie mußten noch von beiden Seiten des Fensters befestigt werden. Dies schien auch die Besitzerin der kleinen Hand und des reizenden Arms für nothwendig zu erachten, denn sie öffnete auch den andern Fensterflügel und nahm die oberste Reihe der Blumentöpfe behutsam ab und schien einen nach dem andern auf einen neben dem Fenster stehenden Tisch zu setzen. Nach Beendigung dieses Geschäfts beugte sie etwas den Kopf vor, indem sie einen schnellen Blick über den Gartenzaun auf die nächste Umgebung und seitwärts auf die Straße warf, ob sie auch nicht von einem unbefugten Zuschauer belauscht werde. Durch die tiefe Stille ringsumher beruhigt, richtete sie nun ihre Blicke in die Ferne. War es die Glut des östlichen Himmels, an dem eben die Sonne in ihrer vollsten Pracht sich erhoben hatte, welche auf ihrem lieblich schönen Gesicht wiederstrahlte, oder war es die stille Wonne ihres Innern, die halb wehmüthige Freude über die unfaßbare und doch die ganze Menschenbrust erweiternde Schönheit der Natur: ihre Wangen rötheten sich tiefer, ihre Augen wurden glänzend und feucht und ihre Hände legten sich unwillkührlich, wie in lautloser, heiliger Andacht über dem schneller wogenden jungfräulichen Busen zusammen. Eine tiefe ruhige Sehnsucht lag auf ihren Zügen und in dem blauen Auge, das wie in schmerzlich inniger Empfindung nur halb aufgeschlagen in die Ferne blickte. Es war ein überaus lieblicher Anblick, ein Anblick, der dem zweifelsüchtigen Landsfeld gewiß den vollen Glauben an reine Weiblichkeit wiedergegeben hätte.

Sie seufzte tief, ohne wohl zu wissen, warum. Denn was konnte dieses Kindesherz schon getroffen haben, daß es von Schmerz erfüllt war? Ein unbestimmtes Sehnen nur war es, was ihre Brust bewegte und zugleich erweiterte. Denn es war ihr, als müßte sie alles das Schöne, Herrliche und Große, was sich da draußen vor ihren Blicken entfaltete, hineinziehen in die Brust, oder als müßte sie selbst sich hinausstürzen und sich auflösen in die allgemeine Seligkeit der Natur. Ein innerlich tiefer, aber lautloser Jubel durchzog zugleich ihr ganzes Wesen – sie weinte, ob vor Schmerz oder vor Wonne, sie wußte es selbst nicht. Eine Thräne fiel auf ihren vollen, weißen Busen herab, der in ungestümen Wallungen sich unter dem lose befestigten Nachtkleide hervorgedrängt hatte, als wolle er sich in dem thaufeuchten Balsam der kühlen Morgenluft baden. Unwillkührlich erröthend, obschon sie sich allein und unbelauscht wußte, zog sie, zum schnellen Bewußtsein der Wirklichkeit erwachend, das Kleid über der Brust zusammen und bog sich, nachdem sie noch eine Thräne aus dem Auge getrocknet, über die Blumentöpfe hinaus, um die Laden zu befestigen.

In diesem Augenblicke kam Landsfeld, in Begleitung Corneliens und des nachfolgenden Dieners, der die Waffen unter dem Mantel trug, um die Ecke. Lydia sprang schnell vom Fenster zurück, doch hatte bereits der scharfe Blick des Barons sie erreicht, was er indeß durch keine Bewegung verrieth. Vielmehr ging er ruhig und wie in ein eifriges Gespräch mit seiner Begleiterin versenkt, ohne einen zweiten Blick nach dem Fenster zu werfen, vor demselben vorüber.

Lydia holte tief Athem, ihre Farbe, die einen Augenblick das Gesicht völlig verlassen hatte, kehrte allmählig wieder zurück. Ueber ihren eigenen Schreck lächelnd, trat sie wieder an das Fenster, indem sie jedoch vorher noch einen Blick in den Spiegel warf, um sich von der Ordnung ihrer Toilette zu überzeugen. In der That hatte sie zu einer so ängstlichen Flucht keine Veranlassung, denn das sehr reizende Morgenhäubchen, welche das kindlichreine Oval ihres Gesichts umschloß, war eben so untadelhaft, wie das lange faltige, blendend weiße Morgenkleid, das bis hoch über die Schulter hinaufreichte. – Nachdem sie noch die Vorsicht angewendet, das letztere unter dem Halse mit Hülfe einer Nadel zu einem festeren Anschluß zu zwingen, wobei sie abermals erröthend die Augen niederschlagen mußte, weil ihr einfiel, wie gering der Zeitraum war, welcher zwischen dem Erscheinen des vorhererwähnten Paares und dem Fall der Thräne, die sie aus ihrer Träumerei erweckt hatte, lag – trat sie abermals an das Fenster, um endlich einmal ihr Geschäft zu vollenden.

Diesmal wurde sie von Niemandem beunruhigt. Nachdem die Laden befestigt waren, begann sie die in die Stube gestellten Töpfe wieder an ihren früheren Platz zu stellen, als sie zwischen den beiden mittelsten Töpfen der unteren Reihe ein zusammengewickeltes Blatt Papier bemerkte. Sie zog es neugierig hervor, und öffnete es. Da erblickte sie auf der Einlage ihre eigene Schrift. Als sie das Blatt entfaltete, erkannte sie ein Billet, das sie vor einigen Tagen an ihren Verlobten geschrieben.

Um so neugieriger ergriff sie nun das andere Blättchen, in dem jenes eingeschlagen war, und las unter wachsendem Erstaunen folgende mit Bleifeder geschriebenen Worte:

Unsere Freuden sind wie Stäubchen, die von den Rädern des Lebenswagens fliegen, um sich einen Augenblick in der Sonne zu spiegeln.

Eine ihr selbst unerklärliche Angst ergriff Lydia bei diesen Worten; es war ihr, als sei ein großes Unglück geschehen, und doch hatte sie keine Vorstellung davon, was es eigentlich sei, das sie so in Furcht setzte. Es lag in den Worten des Zettels – das fühlte sie wohl – etwas Düsteres, Unheil Andeutendes, das sie zur Resignation und Fassung aufforderte. Zuweilen schien ihr eine Art melancholischen Trostes darin zu liegen, für einen großen unbekannten Verlust, der ihr drohte, oder der sie gar schon betroffen hatte. – Eine unnennbare Unruhe ergriff sie. Sollte sie die mit Bleistift geschriebenen Worte mit dem Inhalt des Billets in Verbindung setzen, das sie an ihren Verlobten geschrieben? Oder hatte den Letzteren ein Unfall getroffen? Der Gedanke trieb alles Blut nach ihrem Herzen. Wieder und wieder las sie die räthselhaften Worte, ohne den tieferen Sinn, den sie darin vermuthete, zu begreifen. Sie eilte in das Nebenzimmer, um zu sehen, ob ihre Mutter, zu der sie ein unbedingtes, schrankenloses Vertrauen hatte, schon wach geworden. Diese wollte sie um Rath fragen.

»Liebes Kind« – sagte die würdige und liebenswürdige Frau, nachdem sie mit Aufmerksamkeit beide Zettel durchlesen – »Du beunruhigst Dich, wie es mir scheint, mit Unrecht. Was sollte Berger widerfahren sein? Vielleicht haben die Worte, die Dir solche Angst machen, schon auf dem Zettel gestanden, ehe ihn der unbekannte Finder des Billets zum Umschlag für das Letztere gebraucht. Auch muß es wohl ein Bekannter sein, denn wer anders, als ein solcher, kennt Deinen Vornamen und Deine Wohnung? – Vielleicht ist es auch ein Scherz von irgend Jemand. Alles dies scheint mir der Wahrheit näher zu liegen, als Deine gänzlich unbegründete Ahnung von irgend einem Unglück. Beruhige Dich deshalb. – Heute Nachmittag wirst Du ja ohnehin Berger sehen, denn er versprach uns ja zu einem Spaziergang abzuholen. Theile ihm dann offen die Thatsache, aber auch nur diese, mit. Er wird Dir gewiß genügende Erklärung darüber geben können.«

Die Ruhe, mit der die Mutter sprach, wirkte auf Lydia wohlthätig ein. Sie wurde ebenfalls ruhiger und begriff zuletzt nicht, wie sie sich einer so kindischen Furcht habe hingeben können. Bald war von der ganzen Unruhe weiter kein Gefühl in ihr zurückgeblieben, als das der Erwartung und Neugierde, wie sich bei Bergers Erscheinen die Sache aufklären würde. Sie eilte leichten Schrittes in den Garten hinter dem Hause hinab, um die Blumen zu tränken, ehe die Sonne zu hoch gestiegen. Mit einem halb wehmüthigen, halb freudigen Blicke sah ihre Mutter ihr nach. Sie war keineswegs so ruhig und unbesorgt, als sie es Lydien gegenüber geschienen hatte. Denn seit einigen Tagen war sie durch verschiedene Aeußerungen einiger Badegäste, die das Verhältniß Lydiens zu Berger nicht kannten, oder nicht zu kennen sich den Anschein gaben, aufmerksam auf das Betragen des Letzteren geworden. Es hatte ihr geschienen, als würde sein Name nicht selten in Verbindung mit dem einer vor einigen Tagen angekommenen Dame genannt, die durch ihre eigenthümliche Stellung in der Welt, da sie nur in Begleitung einer jungen Dienerin zu reisen schien, so wie durch die Freiheit und Selbständigkeit ihres Benehmens allgemeines Aufsehen erregte. Sie hatte bisher ihre Vermuthungen und Befürchtungen vor Lydia verborgen, weil sie zuvor klar sehen wollte, ehe sie das harmlose Kind beunruhigen wollte. Es war zwar möglich, daß Berger auf seiner Reise nach Italien, die er seiner künstlerischen Ausbildung wegen unternommen, Frau von Rosen irgendwo kennen gelernt und nur die Bekanntschaft, die vielleicht ganz oberflächlicher Natur war, wieder aufgenommen hatte. Aber diese Vermuthungen lösten die Bedenken, welche der Mutter Lydiens aufgestiegen waren, nicht; vielmehr gewannen die letzteren durch den Umstand, daß Berger bisher noch mit keiner Sylbe seiner neuen Bekanntschaft erwähnt hatte, in ihr ein so großes Gewicht, daß sie zuletzt sogar auf den Verdacht fiel, das Zusammentreffen Bergers mit Frau von Rosen im hiesigen Bade sei nicht ganz einem glücklichen oder unglücklichen Zufalle zuzuschreiben. Unter diesen Umständen mußte auch der Vorfall, welcher ihrer Tochter einen so großen Schreck verursacht hatte, für sie eine ganz andere und wichtigere Bedeutung gewinnen, als sie Lydia gegenüber ihm beizulegen geschienen hatte. Schon mehrmals hatte sie den Vorsatz gefaßt, mit Berger offen über sein Betragen zu sprechen. Doch da sie bisher in dem Benehmen gegen Lydia im Grunde nichts auszusetzen gehabt hatte, vielmehr über seine achtungsvolle Zurückhaltung nur erfreut sein konnte, so war sie immer wieder von demselben zurückgekommen, da sie wohl wußte, wie nachtheilig ein solches Gespräch auf die Unbefangenheit und Klarheit des Verhältnisses wirken mußte, im Fall ihre Verdachtsgründe sich als nichtig ergeben sollten. Dieser letzte Vorfall aber gab eine genügende und sich durch sich selbst rechtfertigende Veranlassung, um an Berger eine Frage zur Erklärung desselben zu richten. So faßte sie denn in demselben Augenblicke, als sie nach Lesung der mit Bleifeder geschriebenen Worte Lydia zu beruhigen versuchte, den Entschluß, noch heute über alle ihre Bedenken und Zweifel in's Klare zu kommen; ein Entschluß, der, je länger sie darüber nachdachte, um so größere Festigkeit erlangte, als sie in jenen räthselhaften Worten, die an Lydia gerichtet zu sein schienen, nur eine Art Bestätigung ihrer Befürchtungen erblicken zu müssen glaubte.

Indessen hatte Lydia ihre Beschäftigung im Garten beendet, und war im Begriff, ihren Vogel, dessen Bauer sie bereits zwischen den Blumentöpfen des nach dem Garten hinaussehenden Fensters aufgestellt hatte, mit Nahrung zu versehen, als ihre Mutter sie rief.

»Ich glaube, es wird jetzt Zeit sein, daß wir uns ankleiden, liebes Kind. Die Stunde, da ich zur Quelle muß, naht heran, und im Fall Du nicht vorziehest, zurückzubleiben –«

»Ach nein, laß mich mit Dir gehen, liebe Mutter. Du wirst so leicht müde, wenn Du keinen Begleiter hast, auf den Du Dich stützen kannst. Ich mag auch heute nicht allein zu Hause bleiben, mir ist so bange, ich weiß selber nicht warum.«

»Furchtsames Kind, Du« – lächelte die Mutter, der im Grunde nicht minder bange zu Muthe war.

Nach einer halben Stunde war die Toilette der Damen beendet. Arm in Arm traten sie aus dem Hause und begaben sich langsam nach der ziemlich entfernten Quelle. Da diese an dem entgegengesetzten Ende des Dorfs höher hinauf am Abhange des Berges gelegen war, so hätten sie das Dorf seiner ganzen Länge nach durchmessen müssen. Indeß führte hinter der rechts gelegenen Häuserreihe, am Ufer des Bachs, der nach seinem Austritt aus dem Park an dem Dorfe sich hinschlängelte, ein schmaler, nur höchstens für zwei Personen betretbarer Fußsteig, den die beiden Damen sonst wegen seiner Feuchtigkeit des Morgens zu vermeiden pflegten. Heute jedoch schien die Sonne so warm und erquicklich, daß sie unwillkührlich, statt die Straße hinabzugehen, um die Ecke des Hauses bogen, um den erwähnten Fußsteig zu gewinnen, auf dem sie in weit kürzerer Zeit die Quelle erreichen konnten.

Still wanderten sie neben einander her, jede mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Durch instinktartige Furcht davon abgehalten, vermieden sie es, über das heutige Ereigniß zu sprechen, obwohl sie Beide ahnen mochten, daß dies gerade der gemeinschaftliche Gegenstand ihres Nachdenkens und die Ursache ihres Schweigens war. Als sie über die Hälfte des Wegs zurückgelegt, hörten sie plötzlich in weiter Ferne einen Schuß fallen, der vom Gebirge herabzutönen schien. Ein schnelles, aber rasch unterdrücktes Zittern des Arms ihrer Mutter, der sich auf den ihrigen stützte, bewies Lydia, daß ihre Mutter durch den Schuß erschreckt worden war. Sie erblaßte.

»Mein Gott, liebe Mutter –«

»Still, mein Kind. Es war eine bloße Schwäche.«

Ein zweiter Schuß fiel, aus derselben Richtung herüberschallend. Die innere Aufregung Lydiens nahm zu. Ihre Mutter hatte die Fassung völlig wieder erlangt, aber nicht ohne eine gewaltsame innere Anstrengung, die dem milden Ernst, welcher gewöhnlich auf ihren regelmäßigen und feinen Zügen lag, einen Charakter von Erhabenheit und Seelengröße verlieh.

Nach einer längeren Pause fiel ein dritter und unmittelbar darauf ein vierter Schuß. – Die Schritte der beiden Damen wurden schneller, als wollten sie dem unheimlichen Eindruck, den das Schießen auf sie hervorbrachte, entfliehen. Erhitzt und fast athemlos, ob mehr vor innerer Bewegung oder von der körperlichen Aufregung war schwer zu entscheiden, langten sie im Brunnenhäuschen an, um das sich bereits eine große Zahl von Trinkenden versammelt hatte. Das Geräusch und die gleichgültigen, zuweilen vom munteren Gelächter unterbrochenen Gespräche wirkten beruhigend auf ihre aufgeregten Gemüther. Lydia wurde von einigen jungen Mädchen, die ihr in der Residenz, wo sie mit ihrer Mutter die letzten beiden Winter nach dem Tode ihres Vaters, des Forstraths von Dornthal, zugebracht hatte, bekannt waren, umringt und vergaß bald unter Scherzen und Lachen ihre eben gehabte Angst. An die Forsträthin von Dornthal schloß sich ebenfalls ein Bekannter an, ein Freund ihres verstorbenen Mannes, der Hofrath Rupf, dessen geschäftiges, prunksilberartiges Wesen, gepaart mit einer grenzenlosen Bonhommie und unerschöpflichen Laune, ihn zum allgemeinen Liebling der Badegäste und besonders des weiblichen Theils derselben gemacht hatte, weil er sich nichts mehr angelegen sein ließ, als für das allgemeine Vergnügen und gemüthliche Zusammenleben der Badegesellschaft zu sorgen. Wenn man den langen, aber beweglichen Mann durch die bunten Reihen der jungen Mädchen hüpfen sah, um sich nach dem Befinden der Einen zu erkundigen, oder den Rath der Andern in Betreff der Arrangirung einer Partie einzuholen, so mußte die warme Sympathie auffallen, die ein so ernster und ruhiger Charakter, wie ihn Frau von Dornthal besaß, gegen den maitre de plaisir an den Tag legte. Auf der andern Seite war aber auch das Benehmen Rupf's gegen die Mutter Lydiens ein ganz verschiedenes von dem, was er gegen jede Andere annahm. So übertrieben höflich, fast an's Geckenhafte streifend, seine Courtoisie gegen die jungen Mädchen war, die ihre muthwilligsten Launen an ihm ausließen, so zurückhaltend innig und freundlich warm zeigte er sich gegen die Forsträthin. Diese wußte sein treues, biederes Herz, seine rührende Anhänglichkeit an ihren verstorbenen Gemahl, und Aufopferung seiner Interessen für sie selbst und ihre Angelegenheiten wohl zu schätzen. Sie verehrte ihn als ihren besten, wahrhaft ergebenen Freund und hatte ein unbeschränktes Vertrauen zu ihm. Mit Herzlichkeit erwiederte sie daher auch jetzt den Händedruck des Hofraths, der sich mit theilnehmender Besorgniß nach ihrem Befinden erkundigte.

»Kommen Sie, lieber Freund« – sagte sie, ihren Arm in den seinigen legend. »Ich möchte Sie um Ihren Rath in einer Angelegenheit bitten, die mir große Sorge macht.«

»Sprechen Sie, theuerste Räthin, sprechen Sie – mein Rath, meine Hülfe, das wissen Sie ja, kann Ihnen niemals entgehen, wenn ich sie zu geben im Stande bin.«

Sie schlugen einen weniger betretenen Seitenweg ein.

Die Forsträthin theilte ihm unverholen ihre ganze Besorgniß in Betreff Bergers mit, indem sie ihn zugleich bat, ihr Alles, was er aus glaubwürdiger Quelle, oder aus eigener Wahrnehmung über die Bekanntschaft zwischen Lydiens Verlobten mit Frau von Rosen wüßte, mitzutheilen. Eine halbe Stunde mochten sie im eifrigsten Gespräch begriffen gewesen sein, das nur durch einen öfter wiederholten Gang zum Brunnen unterbrochen wurde, als sie plötzlich durch ein lautes Geschrei aufmerksam gemacht wurden, das mitten aus dem Kreise der noch kurz zuvor heiter lachenden Mädchen hervorzuschallen schien. Voll trüber Ahnung und schon durch das Gespräch aufgeregt, eilte die Forsträthin nach der Stelle des Tumults. Die Mädchen waren um eine ihrer Gefährtinnen beschäftigt, die eben in Ohnmacht gefallen war. Es war Lydia. Ihr schöner Kopf ruhte bewegungslos in dem Schooße einer ihrer Freundinnen, die sich auf die Kniee niedergeworfen hatte. Ihr linker Arm war, wie vor innerm Schmerz, auf die Brust gepreßt und in der rechten Hand hielt sie krampfhaft ein zusammen geknittertes Stück Papier. Eine allgemeine Verwirrung herrschte in der Gesellschaft. Die Mutter Lydiens warf sich mit einem lauten Schrei auf ihre Tochter und wäre selbst bewußtlos hingesunken, wenn nicht die große Energie ihres Geistes sie aufrecht erhalten hätte. Der Hofrath eilte, ohne sich lange nach der Ursache dieses unglücklichen Zufalls zu erkundigen, sogleich fort, um einen Wagen zu holen, in dem Lydia nach Hause gebracht werden konnte.

In den ersten Minuten war die Forsträthin nicht im Stande, weder eine Frage zu thun, noch ihrer Tochter eine wirksame Hülfe zu leisten. Glücklicherweise war der Badearzt in der Nähe. Seinen Bemühungen gelang es bald, Lydia zur Bewegung und zum Leben zurückzurufen. Aber sie verstand Nichts von dem, was um sie her vorging. Ihr Bewußtsein war mit einem dichten Schleier verdeckt, der wohl das Licht durchdringen, aber nicht die Form und das Wesen der Gegenstände erkennen läßt. Matt und willenlos ließ sie sich in den indeß herbeigekommenen Wagen heben, in den außer ihrer Mutter auch der Hofrath mit einstieg. Rasch fuhren sie in's Dorf hinab nach dem Häuschen unter den Kastanienbäumen.

»Haben Sie Etwas über die Ursache von Lydiens Unwohlsein erfahren können?« – fragte der Hofrath, der zu derartigen Erkundigungen keine Zeit gehabt.

»Es wurde nur von einem kleinen Knaben gesprochen, der auf Lydia zugegangen sei, als kenne er sie schon lange, und ihr einen Brief überreicht habe. Sie habe ihn sogleich mit sichtlicher Bewegung erbrochen und, nachdem sie einen Blick hineingeworfen, sei sie sofort bewußtlos niedergesunken.«

»Vielleicht ist dieß der unselige Brief« – äußerte der Hofrath, auf das zerknitterte Papier in der rechten Hand Lydiens deutend.

Rasch griff die Forsträthin danach, nachdem der Hofrath mit Mühe die zusammengepreßte Hand geöffnet und den Zettel herausgenommen hatte.

»Gott sei Dank!« – athmete die geängstigte Mutter tief auf.

Ein Thränenstrom, der ihrer bisher zurückgehaltenen Angst Luft machte, stürzte aus ihren Augen. »Lesen Sie« – setzte sie hinzu, dem Hofrath das Papier hinreichend, indem sie sich ermattet in die Wagenecke zurücklehnte.


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