Aristoteles
Politik
Aristoteles

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Vorwort.

Die hier gegebene Uebersetzung der Politik des Aristoteles folgt dem griechischen Text nach der Becker'schen Schulausgabe, Berlin 1855, in welcher Becker den Text seiner Quartausgabe von 1832 in mehreren Stücken verbessert hat. Die späteren von anderen Herausgebern erfolgten Textrecensionen haben, trotz der dabei geübten Gelehrsamkeit und Sorgfalt, doch für den Zweck der vorliegenden Uebersetzung ihre Bedenken; denn sie gehen meist von der Voraussetzung aus, als müsse diese Schrift des Aristoteles möglichst von allen den Mängeln gereinigt werden, die sich irgend wie auf andere Schultern abwälzen lassen. Bei der ungeheueren schriftstellerischen Thätigkeit des Ar. war er offenbar neben seinen ausgebreiteten eigenen Studien und täglichen mündlichen Vorträgen nicht im Stande, die ersten Entwürfe seiner Schriften nochmals zu revidiren oder gar umzuarbeiten. Sie scheinen vielmehr neben streng durchdachten Hauptsätzen, welche er vielleicht schon für seine Vorträge sich schriftlich notirt hatte, nur weitere Ausführungen in freierer Art zu enthalten, wie dies ja noch heute von den Professoren bei ihren Lectionen geschieht, und bei diesen Ausführungen scheint Ar. sich gleichsam einer schriftlichen Improvisation überlassen zu haben, wo natürlich der Gedankengang und VI Styl nicht so correkt, wie bei jenen Hauptsätzen ausfallen konnte. Nur wenn man einen solchen Gesichtspunkt zulässt, werden die Mängel erklärlich, welche seinen Schriften, namentlich in Bezug auf Anordnung und Eleganz anhaften, und man ist dann nicht genöthigt Lücken anzunehmen, oder den Abschreibern oder Interpolatoren das zur Last zu legen, was nicht ganz den Anforderungen entspricht, die man von einem in voller Ruhe und Musse und mit aller Sorgfalt ausgearbeiteten und revidirten Werke erwarten kann. Dies dürfte sich namentlich gegen die neueste Textrecension von Susemihl geltend machen lassen. (Aristoteles' Politik, griechisch und deutsch, von Susemihl, Leipzig 1879 bei Engelmann.)

Die Politik des Ar. ist häufiger und in mehr moderne Sprachen übersetzt worden, als irgend ein anderes seiner Werke. Abgesehen von den lateinischen Uebersetzungen sind deutsche Uebersetzungen geliefert worden von Garve 1792, von Schlosser 1798, von Fülleborn 1799, von Stahr 1839, von Lindau (Oels) 1843, von Bernays 1872 und von Susemihl 1879. Die letzte ist mit grosser Sorgfalt und Genauigkeit gearbeitet, indess ist gerade dadurch die eigenthümliche Schreibweise des Aristoteles, seine prägnante Kürze des Ausdrucks und zugleich doch das Schleppende und Unbeholfene seines Periodenbaues sehr verdeckt worden, obgleich nach des Unterzeichneten Ansicht auch diese Mängel in der Uebersetzung wieder erscheinen müssen, so weit die deutsche Sprache es gestattet. Man muss insbesondere aus der Uebersetzung erkennen, dass man es mit einem alten Schriftsteller zu thun hat, der in der Ausdrucksweise seiner Gedanken uns sehr fern steht. Indem Schleiermacher gerade dies eingehalten, hat seine Uebersetzung der Platonischen Dialoge noch heute einen eigenthümlichen Werth; sie ist so treu, als möglich, und gerade dadurch fühlt der Leser VII sich dem alten griechischen Autor viel näher gerückt, als wenn der bei Ar. oft schleppende und nachlässige Styl in elegante Perioden umgewandelt und seine durch ihre Kürze oft dunklen Aussprüche mittelst breiter Umschreibungen oder Benutzung moderner, den Griechen noch fremder Begriffe verdeutlicht werden. Es wird immer besser sein, statt dieser Hülfsmittel lieber da, wo Dunkelheiten an sich bestehen, sie in kurzen, der Uebersetzung beigesetzten Noten zu erläutern, als den Text selbst zu verbessern.

An sich bietet diese Schrift des Ar. für eine deutsche Uebersetzung weniger Schwierigkeiten, wie irgend eine andere seiner philosophischen Schriften. Zu ihrem vollen Verständniss gehört allerdings eine gute Kenntniss der alten Geschichte überhaupt und der griechischen insbesondere, sowie eine Vertrautheit mit den griechischen Alterthümern, da Ar. in dieser Schrift mehr, als sonst, sich auf zahlreiche Beispiele aus der Geschichte Griechenlands und seiner Colonien bezieht und deshalb das Thatsächliche der griechischen Verfassungen und des griechischen Lebens in der Hauptsache dem Leser bekannt sein muss. Eben deshalb ist bei dem, im Band 85 gegebenen Erläuterungen zu dieser Schrift unterlassen worden, ausführliche geschichtliche Ergänzungen zu den, in der Sache meist nur kurz angedeuteten Beispielen zu geben. Das Nöthige hierüber kann aus den zahlreichen Handbüchern über Geschichte und Alterthümer Griechenlands mit Leichtigkeit entnommen werden; hier würden diese Erläuterungen einen viel zu grossen Raum eingenommen und das philosophische Interesse, was bei der Philosophischen Bibliothek die Hauptsache bleibt, sehr zurückgedrängt haben.

Die Aechtheit dieser Schrift, als eines Werkes von Aristoteles ist, wenigstens in allen seinen wichtigsten VIII Stücken, nie bezweifelt worden. Dagegen wird von den Philologen schon seit langer Zeit über die richtige Anordnung der einzelnen Bücher gestritten. In der neueren Zeit hat man die alte Ordnung, wie sie in den wenigen, auf uns gekommenen Handschriften besteht, verlassen und hinter dem dritten Buche gleich das alte 7. und 8. Buch folgen lassen, und diese damit zu dem 4. und 5. Buche gemacht; dann hat man das alte 4. als sechstes und das alte 6. als siebentes und das alte 5. als achtes folgen lassen und damit die Schrift beschlossen. Bei diesem, von den Philologen geführten Streit ist zwar ausserordentlich viel Gelehrsamkeit und Scharfsinn entwickelt worden, allein das philosophische Interesse ist dabei ein sehr geringes. Auch das Verständniss der einzelnen Bücher wird dadurch nicht im mindesten erleichtert, ja vielleicht erschwert. Ar. selbst hat am Schlusse seiner Ethik den Plan für die Politik, die mit jener ein Werk bilden sollte, dahin skizzirt, dass darin die Abhandlung über die beste Verfassung erst nach der Darstellung und Beurtheilung der wirklich vorhandenen Verfassungen folgen solle, wie es bei der alten Ordnung auch der Fall ist. Da Ar. in dieser Schrift nicht deduktiv, sondern wesentlich induktiv verfährt, so entsprach es ganz dieser Methode, so wie dem leichteren Verständniss, diesen idealen Theil erst der Betrachtung des Wirklichen nachfolgen zu lassen. Um die in dieser Stelle enthaltene Bestätigung der alten Ordnung der Bücher zu beseitigen, war man genöthigt, diesen Schluss der Ethik für unächt zu erklären; allein die Gründe dafür drehen sich im Kreise, indem man vorweg behauptet, nur die neue Ordnung entspreche dem, was man von dem System einer Wissenschaft verlangen müsse. Da indess trotzdem Becker seine Ausgabe nach den neueren Vorschlägen geordnet hat, so hat dies auch in der Uebersetzung hier geschehen müssen, und eine IX weitere Erörterung dieser Frage kann um so mehr hier unterbleiben, als sie, wie gesagt, kein philosophisches Interesse hat. Auch werden einzelne weitere Bedenken gegen die neue Ordnung gelegentlich bei den betreffenden Stellen erwähnt werden; man hat sie meist damit zu beseitigen gesucht, dass man diese Stellen für spätere Interpolationen erklärte, womit man allerdings am schnellsten fertig wurde.

Was die in Band 85 folgenden Erläuterungen zu dieser Schrift des Ar. anlangt, so sind bei denselben die bisherigen in der Phil. Bibl. befolgten Grundsätze festgehalten worden; nur die historischen und antiquarischen Ergänzungen sind, wie erwähnt, hier meist weggeblieben, und wesentlich nur die philosophische Seite der Schrift im Auge behalten worden. Allerdings tritt das Philosophische in dieser Schrift überhaupt nur wenig hervor, insbesondere viel weniger, als selbst in der Ethik. Die Ursache liegt ziemlich klar vor. Trotzdem, dass Ar. in seinen Analytiken nur die deduktive, auf logische Schlüsse und die angeblich in der Vernunft enthaltenen allgemeinen Wahrheiten gebaute Darstellung als die wissenschaftliche und als die allein zur Wahrheit führende Methode hinstellt, hat doch sein praktischer Sinn in allen, dem Seienden zugewandten Disciplinen an diesem Ausspruch nicht festhalten können, sondern der induktiven, mit der Beobachtung des Wirklichen beginnenden Methode sich zugewendet. Schon in der Ethik (B. 68, S. 13) erkennt Ar. dies selbst an und erklärt es zwar für einen Mangel, aber doch für einen unvermeidlichen. Diese Methode wird dann in der Politik in noch überwiegenderem Maasse eingehalten.

Vor Ar. war dieses Gebiet nur bruchstückweise bearbeitet worden und selbst Plato hatte die wirklich vorhandenen Verfassungen in seinem Staate nur flüchtig behandelt; so fiel dem Ar. als nächste Aufgabe zu, den ungeheuren X Reichthum innerhalb dieses Gebietes vorerst zu ordnen, d. h. auf bestimmte Arten und Gattungen zurückzuführen, die Begriffe dafür festzustellen und die hier sich ergebenden Gesetze hervorzuheben. Dies alles ist indess noch keine Philosophie, sondern bildet die Aufgabe der besonderen Wissenschaften, aus denen erst allmälig das Philosophische sich herausarbeitet und erst dann für sich dargestellt werden kann – ähnlich wie man im Gebiet der Natur die Naturgeschichte, die Naturwissenschaft und die Naturphilosophie heutzutage unterscheidet. Indem Ar. so vor allem noch mit Herstellung dieser besonderen politischen Wissenschaft zu thun hatte, musste schon deshalb der höhere philosophische Theil zurücktreten. Aber selbst da, wo er am Schlusse der Schrift zu diesem Theil, d. h. zu dem sogenannten Idealstaat übergehen will, zeigt sich die auffallende Erscheinung, dass er sehr bald wieder davon ablässt und in das Besondere zurückfällt. Von dem besten Staat wird nur wenig gesagt, vielmehr geht Ar. schnell wieder zu dem meistentheils besten und zu dem im gegebenen Falle besten über.

Genauer betrachtet liegt dies indess nicht in einer Flüchtigkeit des Ar.; auch nicht in dem Mangel an Vorarbeiten, die allerdings hier, von Plato abgesehen, fehlten, sondern offenbar darin, dass das Gebiet der Politik für die philosophische Behandlung weit weniger Stoff bietet, als die Gebiete der Natur, des Schönen und des logischen Denkens und Erkennens. Sowie man einsieht, dass in dem Gebiete der Ethik und Politik es kein sachliches Princip giebt, aus dem ein absolut und allgemein gültiger Inhalt sich ableiten lässt, sondern dass das Sittliche seinen Inhalt nur aus dem Gebiete der Lust entnimmt und seine, dem Treiben der Lust entgegengesetzte Kraft lediglich aus den Gefühlen der Achtung vor den Geboten erhabener Autoritäten empfängt, kann von einen absoluten, für alle XI Zeiten und alle Völker gültigen Inhalt der sittlichen Begriffe und Gesetze nicht mehr die Rede sein. Die verschiedenen Arten und Grade der Lust und der Empfänglichkeit für dieselben sind einer steten, allmäligen Veränderung unterworfen, welche bedingt wird, von den je nach den Ländern und Zeiten geschehenden Fortschritt in dem Wissen des Menschen und in seiner Macht über die Kräfte der Natur. Indem die jeweiligen Autoritäten, d. h. der Fürst, das Volk als Ganzes und die höchsten Priester diesen Inhalt in ihre Gebote aufnehmen, wird er für die Einzelnen zu einem Sittlichen. Deshalb hat das eine Land und die eine Zeit nicht mehr Recht, den Inhalt ihres Sittlichen für den allein wahren zu behaupten, wie jedes andere Land und jede andere Zeit den ihrigen. Damit ist denn eine Philosophie, welche einen absolut sittlichen Inhalt aufstellen will und soll, eine Unmöglichkeit; ihre Aufgabe liegt hier nur darin, diese eigenthümliche Natur des Sittlichen und die Wahrheit dieser Auffassung an jeder einzelnen sittlichen Gestaltung näher darzulegen. Von einem Idealstaat und einer idealen Sittlichkeit mit einem bestimmten Inhalt kann deshalb in der Philosophie nicht die Rede sein, so wenig wie von einem Ideal-Baume oder einem Ideal-Thiere in der Naturphilosophie und wenn die Philosophie dies dennoch versucht, so kommen, wie die Erfahrung lehrt, nur unausführbare Utopien heraus, oder Gestaltungen, welche der Verfasser lediglich nach den Principien der Sittlichkeit seines Landes und seiner Zeit aufgestellt hat und wo er anstatt ein Absolutes zu bieten, nur das zu seiner Zeit Bestehende je nach seinen persönlichen Neigungen und seinem beschränkten Gesichtskreise meist zu einer Carrikatur umgestaltet hat, welche ihm vielleicht für den Idealstaat gelten mag, aber welche weder das vermeinte Absolute enthält, noch irgend eine Verwirklichung, selbst nicht für seine Zeit und sein Land erreicht. XII Denn die hier wirkenden Kräfte kann der Einzelne, und noch dazu der Gelehrte weder in ihrer Vollständigkeit, noch in ihrer verhältnissmässigen gegenseitigen Stärke übersehen und wenn ja ein Versuch mit der Verwirklichung solcher Construktionen gemacht wird, so fallen sie bei dem ersten Windstoss, wie Kartenhäuser zusammen.

Bei Ar. bestand zwar diese bewusste und klare Einsicht in die Natur des Sittlichen noch nicht; er hielt im Ganzen, wie Plato, die Grundzüge des Sittlichen, wie sie in Griechenland bestanden für die absoluten, allein wahren und ewig gültigen; aber er war doch ein zu klarer, durch die Beobachtung geschulter Kopf, um sich in solche Staats-Ideale, wie das Platonische zu weit zu verirren. Der Einfluss seines grossen Lehrers liess ihn wohl noch an dem Begriff eines »besten Staats« festhalten, allein in der Ausführung desselben stockte ihm der Griffel; er kam nicht über einige vage Sätze hinaus und indem er dies selbst fühlte, ging er schnell wieder zu den Gestaltungen über, wo ihm die Wirklichkeit einen festeren Boden gewährte, nämlich auf die relativ besten Verfassungen und auf die aus der Erfahrung zu entnehmenden Mittel, wie dergleichen Verbesserungen bei den bestehenden Staaten zu erreichen seien.

Man kann deshalb die Politik des Ar. als eine Bestätigung jener philosophisch-realistischen Lehre von der Natur des Sittlichen ansehen, wie sie oben angedeutet worden und von dem Unterzeichneten in Bd. XI. der Phil. Bibl., sowie in seiner Uebersetzung von Hobbes Schrift: »Ueber den Bürger«, (Leipzig 1873 bei Brockhaus) und in den Verhandlungen der Phil. Gesellschaft zu Berlin, Heft 13 und 14 (Leipzig 1878 bei Koschny) ausführlicher entwickelt worden ist. Gerade dadurch, dass Ar. das Gegentheil dieser Lehre versuchte, aber auszuführen nicht vermochte, hat er wider Willen den XIII besten Beweis dafür gegeben, dass es kein Absolut-Sittliches für den Menschen giebt und dass die von den Gelehrten entworfenen Staatsideale, wenn verwirklicht, grösseren Schaden anrichten würden, als selbst die schlechteste der bestehenden Verfassungen.

Indem Ar., wie gesagt, diese klare Erkenntniss noch nicht besass, sondern vielfach noch von den platonischen Ansichten beeinflusst war, erklären sich auch manche andere, in seiner Politik hervortretende Mängel. So z. B., dass er eine sittliche Staatsleitung fordert, welche auf der Tugend des einzelnen Bürgers beruht und mit derselben parallel geht. Das Irrige dieser Ansicht hat Ar. im Verlaufe seiner Schrift selbst anerkannt, indem er für jede der verschiedenen Arten von Staatsverfassungen eine besondere Art von Tugend verlangt, wo oft die der einen Verfassung der der anderen widerspricht. Will man die Staatsleitung durchaus als eine Tugend (ἀρετη) behandeln, so mag dies geschehen, aber dann kann unmöglich diese Tugend selbst in Arten zerfallen, welche das Entgegengesetzte vorschreiben.

Aus gleichem Grunde ist Ar. erst in dem letzten Buche zu der deutlicheren Einsicht gelangt, dass das Sittliche, wie es für das Privatleben gilt, nicht ohne weiteres auch für den Staatsmann als Pflicht bei der Leitung des Staats aufgestellt werden kann. Wesentlich ist hier, dass für den Staat das egoistische Princip anderen Staaten gegenüber das höchste ist, während für die Privatverhältnisse das Princip der Liebe für Andere gleiche Geltung verlangt.

Indem so in Wahrheit das staatliche Handeln weit mehr nach den Regeln der Klugheit, als der Sittlichkeit bemessen werden muss und selbst der Inhalt der abzufassenden Gesetze sich überwiegend nach dem Nutzen bestimmt, welcher daraus den Bürgern erwächst, wie die XIV Motive und parlamentarischen Verhandlungen bei jedem Gesetzesvorschlage deutlich ergeben, so hat die Politik, insofern sie als Wissenschaft die Regeln dieses staatlichen Handelns feststellen will, noch mit weit grösseren Schwierigkeiten zu kämpfen, als sie schon bei der Privatmoral bestehen. Letztere hat wenigstens an den Aussprüchen der Autoritäten einen festen Halt, welcher sie von der Erwägung des Nutzens und Schadens bei der Erfüllung einer Pflicht befreit; allein wenn das staatliche Handeln, also z. B. die Frage, ob ein Krieg zu beginnen oder nicht, ob eine Colonie auszusenden, und wohin, welche Bestimmungen über Erziehung, Zulassung von Fremden, Beschränkung des Verkehrs, über Entrichtung von Steuern, über den Abschluss von Bündnissen u. s. w. lediglich nach dem Nutzen zu bemessen ist, welcher daraus für das eigene Volk erwartet wird, so sind offenbar diese Fragen viel schwerer zu beantworten, als die in der Privatmoral auftretenden.

In beiden entspringen diese Schwierigkeiten lediglich aus den gleichzeitigen Collisionen verschiedener Pflichten oder verschiedener Klugheitsregeln. Selbst die kleinste Handlung hat, je nach den Gesichtspunkten, ihre guten und ihre schädlichen Folgen und erscheint demnach bald als sittlich, bald als unrecht. In den meisten Fällen ist diese Vergleichung zwischen Nutzen und Schaden ausserordentlich complicirt und die grossen Staatsmänner würden nicht so selten sein, wenn diese Erwägungen, dieses Herausfühlen des entscheidenden Punktes so leicht wäre, wie man nach den Büchern über Politik es glauben sollte. Alle diese Bücher einschliesslich der Politik des Ar. können nur die einzelnen Gesichtspunkte aufzählen, nach denen das staatliche Handeln zu bemessen ist; und schon hier können sie bei der grossen Mannigfaltigkeit dieser Gesichtspunkte, nach welchen eine, nur halbwegs wichtige XV Maassregel zu prüfen ist, dieselben nur in einer Weise bieten, welche theils zu allgemein und unbestimmt ist, theils immer unvollständig bleibt. Noch schwerer, ja meist unmöglich ist es der Wissenschaft, die verhältnissmässige Wichtigkeit der einzelnen Bedenken bei einer staatlichen Maassregel gegen einander abzuwägen und gleichsam einen Gradmesser dieser Wichtigkeit aufzustellen; und doch kann ohne einen solchen der Entschluss in dem einzelnen Fall nicht nach diesen abstracten Regeln allein getroffen werden. So fühlt zuletzt ein Jeder, dass hier der geniale Blick des Staatsmannes durch keine Wissenschaft ersetzt werden kann.

Hieraus erklärt sich auch, weshalb die von Ar. in seiner Politik gegebenen Anweisungen auf einen Leser, der nur einigermaassen an der Leitung eines Staats praktisch betheiligt gewesen ist, einen so wenig befriedigenden Eindruck machen. Man wird bei ihm selten auf eine Regel stossen, der man in ihrer Isolirung nicht zustimmen könnte; allein die allein praktische Frage, welcher von diesen vielen, in dem einzelnen Fall gleichzeitig eingreifenden und doch einander widerstreitenden Regeln der Vorrang gebührt, vermag keine Wissenschaft zu lösen. So fühlt der Mann der Praxis, wie die politische Wissenschaft ihn gerade in diesem wichtigsten Punkte im Stich lässt, und so erklärt sich, wie alle diese einzelnen weisen Lehren ihn sehr kühl lassen.

Es ist nach der Ansicht des Unterzeichneten der Werth dieser Schrift des Ar. von jeher weit überschätzt worden; ja selbst das, was an ihr getadelt wird, verschwindet gegen das, was sie nicht leistet und überhaupt zu leisten nicht vermag. So sagt z. B. Zeller (Geschichte der griechischen Philosophie, Bd. II., Absch. 2, S. 672; dritte Ausgabe, 1879): »Wahrscheinlich wurde die Vollendung der Politik des Ar. durch den Tod ihres Verfassers unterbrochen; XVI aber selbst in der auf uns gekommenen Gestalt sind die acht Bücher der Politik des Ar. eines von den bewunderungswürdigsten Werken, welche das Alterthum uns hinterlassen hat; in so seltener Vereinigung, so gleichmässig abgewogener Stärke treten uns in demselben die Eigenschaften entgegen, welche sich sonst in der Regel nur ungleich vertheilt finden: die umfassende Kenntniss des geschichtlichen Thatbestandes, die Beherrschung dieses Materials durch ein tiefdringendes, wissenschaftliches Denken und des einsichtsvollsten Verständnisses für die realen Bedingungen des Staatslebens«. Aehnlich sagen Becker (Staatslehre des Aristoteles, Leipzig 1878) und mit ihm Susemihl (Aristoteles' Politik, Leipzig 1879, Bd. I., S. 8): »Das richtige Verständniss der Schrift des Ar. hat sich erst mit der Entwickelung des modernen Staats allmälig dahin gebildet, dass man jetzt selbst bei ihrer unvollendeten Gestalt einstimmig in ihr das Grösste und Reichste erkennt, was wir aus dem Alterthume, und wenn man den Unterschied der Zeiten berücksichtigt, wohl das Grösste, was wir überhaupt auf dem Gebiete der politischen Theorie besitzen«.

In ähnlicher Weise fliesst das Urtheil der meisten Bearbeiter der Schrift über von Bewunderung derselben. Viel kühler urtheilt schon Hegel, trotzdem, dass er zu den grössten Verehrern des Ar. gehört. Er sagt (Geschichte der Philosophie, Bd. II., S. 400) nachdem er dargelegt, dass Aristoteles ebenso wie er, (Hegel) nicht den einzelnen Menschen, sondern den Staat für das Höhere erkläre, und dass der Staat die Substantialität des Einzelnen ausmache: »Hieraus erhellt, dass Ar. den Gedanken eines sogenannten Naturrechts nicht haben konnte. Im Uebrigen enthält seine Politik noch jetzt lehrreiche Ansichten der Kenntniss von den inneren Momenten des Staats und der Beschreibung der verschiedenen Verfassungen. Aber die XVII bürgerliche Freiheit kannte er noch nicht; erst nachdem der Staat diese in sich empfangen, konnte die höhere Freiheit hervorgehen; das was die Alten geleistet haben, sind Naturspiele und Naturprodukte; Zufall und Laune des Einzelnen«.

Wenn dagegen jene vorerwähnten Männer diese Schrift des Ar. so überaus hoch stellen, so erklärt sich dies wohl aus dem Umstande, dass sie alle zu dem Stande der Gelehrten und Professoren gehören, welche an der Leitung der allgemeinen Staatsangelegenheiten niemals sich praktisch betheiligt haben. Nur in solchen beschränkten Verhältnissen kann man zu der Meinung gelangen, dass jene reiche Anzahl von Rathschlägen, welche Ar. in seiner Schrift dem Politiker giebt, und deren Güte als einzelne betrachtet, meist anerkannt werden muss, zureiche, um einen Staat zweckmässig und zum Heile seiner Bürger zu leiten. Dass diese Regeln meist viel zu allgemein lauten, dass sie beinah immer im einzelnen Fall mit einander in Collision gerathen, dass man nur mittelst Compromisse regieren kann, also alle diese Regeln für die zu treffende Entscheidung nichts helfen, wird in solcher Stellung selten bemerkt. Dazu kommt, dass die meisten dieser allgemeinen Rathschläge für einen, in öffentlichen Angelegenheiten halbwegs erfahrenen Mann auf der Hand liegen und dass heutzutage schon jeder aufmerksame Zeitungsleser dergleichen Lehren aus dem Stegreife zu Dutzenden hersagen kann. Sie sind überdem bei Ar. mit Privatmoral so verquickt, dass in ihrer Anwendung leicht fehl gegriffen werden kann, und nur da, wo sich Ar. von dieser Vermischung frei macht und das Politische rein nach dem Princip der Staatsklugheit bemisst, wie dies namentlich im letzten Buche geschieht, tritt die staatsmännische Einsicht deutlicher bei ihm hervor.

Vieles hat dagegen nur einen blendenden Schein: so XVIII die scharfe Gegenüberstellung der guten und der ausgearteten Verfassungen; während doch jeder wirkliche Staat seine guten und seine schlechten Seiten hat. Solche Gegensätze sind ebenso unwahr, wie der von guten und schlechten Menschen. Dergleichen gefällt dem Theoretiker, weil es nach seiner Meinung Ordnung in das Chaos bringt und das Urtheil erleichtert, aber in der Praxis verwandelt es sich zum Unwahren und Unbrauchbaren. Auch die Autarkie (das sich selbst Genugsein) des Staats, worin Ar. das Wesentliche desselben gegenüber den kleineren Verbindungen findet, erscheint zwar auf den ersten Blick als ein treffender Gedanke. Allein er ist nur dann wahr, wenn man die Ehen, die Familien, die Gemeinden, die wirthschaftlichen Organisationen und die mannigfachen freien Verbindungen Einzelner für besondere Zwecke, als integrirende Theile des Staats behandelt; dann erst kommt die Autarkie heraus, ja selbst dann muss noch die zu Zeiten nöthige Verbindung mit anderen Staaten hinzukommen. Eine solche Ausdehnung des Staatsbegriffs ist aber nicht zulässig; der Staat ist vielmehr nur der Schlussstein in den mancherlei Verbindungen der Menschen, welcher den niederen Verbindungen nur die letzte Sicherheit und eine gewisse Unterstützung gewährt; aber die innere Thätigkeit dieser niederen Verbindungen, wie der Familie, der Gemeinden, der Zünfte u. s. w. gehört nicht zur Thätigkeit des Staats. Die Omnipotenz des Staats, wie sie in den antiken Zeiten bestand, ist mit dem Fortschritt der Cultur immer mehr zurückgedrängt worden; in allen Staaten bestehen jetzt verfassungsmässige Grundrechte, welche selbst der Macht des Staats Grenzen setzen.

Auch was die Ordnung des Stoffes und die Aufstellung der Begriffe in der Lehre vom Staat anlangt, so ist das Verdienst des Ar. wohl überschätzt worden. Die Mannigfaltigkeit der Verfassungen war schon längst von ihm auf XIX bestimmte Arten zurückgeführt und die Ergänzungen, welche Ar. hier versucht, sind nicht immer gelungen. Der falsche Gegensatz von guten und ausgearteten Verfassungen ist schon erwähnt; dazu kommt, dass Ar. von diesem Gegensatz im Fortgange seines Werkes wenig Gebrauch machen kann. Er kommt da auf die gebräuchlichen Eintheilungen von Oligarchien und Demokratien in den griechischen Staaten zurück und unterscheidet bei jeder von diesen die guten und die schlechten, während doch im III. Buche sie sämmtlich als ausgeartet gelten und die Aristokratie und der Freistaat (πολιτεια) ihnen als die guten Arten gegenübergestellt werden. Daher erklärt sich auch, dass die Begriffe dieser beiden letzten Arten schwankend bleiben und man schwer herausfinden kann, wie sich die Aristokratie von der besten Oligarchie und der Freistaat von der besten Demokratie unterscheidet. – Ebenso bedenklich ist die Aufstellung der Tugend (ἀρετη) neben dem Reichthum und der Armuth als ein unterscheidendes Element für die verschiedenen Klassen der Bürger. Wer soll über das Kriterium der Tugend entscheiden? und welche Tugend ist darunter zu verstehen? Schon die Betrachtung der einzelnen damals bestehenden Verfassungen hätte den Ar. lehren sollen, dass jede Staatsorganisation bestimmter äusserer Merkmale bedarf, an welche allein die politischen Rechte geknüpft werden können.

Neben diesen hier hervorgehobenen Mängeln finden sich noch manche andere, welche indess besser für die Erläuterungen der betreffenden Stellen aufgespart bleiben und dort eingesehen werden können. Es versteht sich, dass damit der Leser von dem Studium dieser Schrift nicht abgeschreckt werden soll; aber es war in seinem eigenen Interesse nöthig jene in's Maasslose gesteigerten Lobeserhebungen der Schrift auf ihr richtiges Maass XX zurückzuführen. Die Politik des Ar. ist weit wichtiger für den Geschichtschreiber, für den Volkswirth als für den Philosophen und für den praktischen Staatsmann. Sie war in Bezug auf die nächste Aufgabe der beginnenden Wissenschaft des Staats, d. h. für die Ordnung des Stoffes, für richtige Aufstellung der obersten Begriffe, für die nächstliegenden Regeln der politischen Klugheit sicherlich ein Schritt von grossem Werthe, aber seit der Entwickelung des parlamentarischen Lebens und der politischen Tagespresse in der neueren Zeit ist die Bildung und das Urtheil über die öffentlichen Verhältnisse so vorgeschritten, und selbst in die Mittelklassen der Gesellschaft so weit eingedrungen, dass ein Leser, der einigermaassen diesen Erörterungen mit Aufmerksamkeit gefolgt ist, schwerlich aus dieser Schrift viel Belehrung sich wird erholen können, selbst wenn man von den viel verwickelteren Verhältnissen absieht, mit denen die heutige Staatsleitung zu rechnen hat.

Will man die Schriften des Ar., so weit sie auf uns gekommen sind, nach ihrem philosophischen Werthe ordnen, so dürften nach der Ansicht des Unterzeichneten, die logischen des sogenannten Organons die erste Stelle verdienen; auf diese würde die Physik folgen müssen; die dritte Stelle würde die Metaphysik einnehmen können; die vierte das was von den Schriften über Rhetorik und Poetik auf uns gekommen ist; die fünfte die nikomachische Ethik und erst an letzter Stelle dürfte die Politik zu stellen sein, ohne dass damit ihr Werth für Geschichte, Alterthumskunde und die erste Begründung einer wissenschaftlichen Lehre über den Staat bestritten werden soll.

Berlin, im April 1880.

v. Kirchmann.

 


 


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