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Grauen.

I

Wie gewöhnlich brachte Ninotschka den Abend bei Iwolgins zu. Bei den Alten fühlte sie sich gut, da es bei ihnen hell und gemütlich war, dann aber kam sie selbst mit ihrer Jugend und ihren Hoffnungen, die ihren ganzen Körper erfüllten, immer und überall in guter Stimmung. Die ganze Zeit hindurch plapperte sie davon, wie stark sie ihr Leben erfassen und genießen wolle. Gegen elf Uhr machte sie sich auf den Heimweg, und der alte Iwolgin ging selbst zur Begleitung mit.

Draußen war es finster und feucht. Hinter den schwarzen undeutlichen Umrissen der Hütten und Scheunen, die in eine schattenhafte schwere Masse zusammengeflossen waren, lag unsichtbar der Fluß, von dem stoßweise ein feuchter Wind herüberwehte. Drohend und traurig surrten die Weiden an den Gemüsegärten. Auf dem Flusse keuchte es, kroch langsam mit zäh anschwellendem Rascheln heran und zerfiel plötzlich unter seltsamem Klingen, Knirschen und Schluchzen.

»Das Eis geht los,« meinte Iwolgin, mit Mühe gegen den Wind schreitend.

Der Wind zerrte an den Schößen seines Mantels und dem Rock Ninotschkas, und spritzte ihnen kleine kalte Tropfen ins Gesicht.

»Der Frühling kommt!« antwortete Ninotschka so lustig, klingend, wie alles, was sie sagte.

Und wirklich schien es, als schritt jemand in der Finsternis der Nacht über den Fluß, über die Luft, über den Wind.

»Nun sind Sie bald zu Hause!« sagte Iwolgin, nur um dem lieben Mädchen, das in seinem alten Herzen stets ein ganz eigenartig warmes und trauriges Gefühl hervorrief, etwas Angenehmes zu sagen.

»Ja, jetzt, Gott sei Dank, bald!« rief Ninotschka, sich vom Wind abwendend.

Sie passierten eine dunkle, nasse Straße und bogen nach dem Platze um. Er war leer und strömte Kälte wie in einem Keller aus. An der Kirchenmauer lag noch schmelzender Schnee, der in der grauen Finsternis undeutlich schimmerte. Hinter der Kirche, die in den dunklen, kahlen Bäumen, deren Wipfel wie schwarze Knochen krachten, fast versank, schob sich ein großes aus Ziegelsteinen gebautes Haus mit kahlen Ecken hervor; zwei seiner grell erleuchteten Fenster sahen ihnen gerade in die Augen.

»Ah, da ist jemand angekommen,« meinte Ninotschka neugierig.

Sie kamen ans Tor, blickten in den dunklen Hof, von wo ihnen der Mist feuchten Dunst ins Gesicht hauchte, und blieben vor den Stufen zur Schule stehen.

Ninotschka streckte die Hand aus. Iwolgin drückte freundschaftlich mit seiner alten Hand ihre kleinen zarten Finger und sagte:

»Gute Nacht, kleines Glück!«

Die Mütze über die Ohren gezogen, hastig den Stock schwingend, ging er zurück, sah sich nach den Fenstern um, in deren Lichtschein sein gekrümmter Rücken glänzte und verschwand im grauen windigen Nebel.

Ninotschka stieg eilig die Stufen hinauf und klopfte an das dunkle Fenster. Jemand trat aus dem Tor, und schritt schwer über die Pfützen auf die Stufen zu.

»Bist du es, Matwej?« fragte Ninotschka: »hast du den Schlüssel? … Wer ist gekommen? …«

»Ich bin's, Fräulein,« antwortete er rauh.

»Hast du den Schlüssel?«

»Hier …«

Matwej stieg die Stufen knarrend herauf, schob sich an Ninotschka vorbei und öffnete die Tür. Mit leisem Geräusch versank sie schwer in der schwarzen Finsternis. Es roch nach frischem Brot.

»Wer ist angekommen?« fragte Ninotschka nochmals.

Matwej schwieg eine Zeitlang.

»Der Untersuchungsrichter mit dem Arzte, auch der Kommissar … In Tarassowka ist eine Leiche gemeldet worden …«

Ninotschka tastete sich durch den Flur, trat ins Schulzimmer und suchte lange nach Streichhölzern.

»Wo lasse ich sie nur immer!«

Matwej stand irgendwo in der Finsternis und schwieg.

Ninotschka fand die Streichhölzer und steckte die Lampe an. Ein schwaches Licht breitete sich zitternd durch das Zimmer, das voll von sargähnlichen Bänken stand.

»Ich muß wegen Pferde auf die Post gehen, Fräulein, und wegen Zeugen auch nach Tarassowka …«

»In der Nacht?« Ninotschka blieb verwundert mit der Lampe in der Hand ihm gegenüber stehen.

Matwej reckte den Hals und seufzte.

»Ihnen wär's besser bei Väterchen, Gebräuchliche Bezeichnung des Popen. D. Uebers. Fräulein, wenn Sie gehen möchten, die da sind tüchtig betrunken. Brüllen; schlafen lassen werden die Sie wohl nicht, passen Sie auf …«

»Ach was,« antwortete Ninotschka, »sind sie wirklich sehr betrunken?«

»Aber gehörig,« halb verdrießlich, halb neidisch antwortete Matwej schwerfällig und seufzte wieder. »Den ganzen Abend haben sie ohne Aufhören gesoffen … Sie sollten zu Väterchen … wahrhaftig … das geht bei denen die ganze Nacht.«

»Ach was,« antwortete Ninotschka wieder.

Matwej schwieg mißbilligend.

»Na, dann gehe ich also …«

Ninotschka begleitete den Bauern hinaus, riegelte hinter ihm die Türe zu, ging durch die Klasse und trat mit der Lampe in ihr Zimmer.

Sofort vernahm sie hinter der abgeschlossenen, deckenverhangenen Tür, die ihr Zimmer von dem »für eintreffende Beamte« trennte, lautes, total betrunkenes Lachen, Gläserklirren und das Knarren des Diwans. Unter der Tür drang starker Tabaksgeruch durch; dazu noch etwas Schweres und Heißes.

Ninotschka öffnete das Halbfenster, sah sich neugierig nach der Tür um und horchte mit gespanntem Ohr.

»Schon gut, schon gut … wir kennen Euch! … Der hat selber schon längst sondiert …« schrie eine rohe, unangenehme Stimme.

»Stiller, du!« sagte ein anderer, gluckste aber selbst vor trunkenem, stumpfsinnigen Lachen.

Alle drei brachen in solches Gelächter aus, daß die Wände zitterten.

»Nein, bei Gott, Herrschaften, nur ein einziges Mal …«

Ninotschka fühlte sich plötzlich aus irgend einem Grund beleidigt und bedrückt, obgleich sie nichts verstand. Unschlüssig trat sie an den Tisch zurück.

– – »Aber wirklich, es wäre bester, über Nacht bei Iwolgins zu bleiben,« dachte sie erschrocken und angewidert.

Hinter der Wand wurde gejohlt, gelärmt, mit Stühlen rumort, manchmal begann, wie es schien, eine Schlägerei, als wäre es ein Käfig mit wilden Tieren.

Ninotschka bemühte sich nicht hinzuhören. Sie saß nachdenklich am Tisch, sah in die Flamme der Lampe und dachte:

»Und da sagt man noch, daß Bildung die Menschen verfeinert … Unsere Bauern würden nicht so zu johlen anfangen. Dabei wissen sie, daß ich hier bin … Nein, ein schlechter Mensch wird durch die Bildung noch schlechter … geradezu absichtlich tut er alles das.«

Dann begann sie daran zu denken, daß sie schon Ende April würde abreisen können.

»Wenn es nur schneller wäre … Bin müde! …«

Und unbewußt machte Ninotschka ein müdes, gelangweiltes Gesicht, doch immer kam ihr etwas Frohes und Helles in den Sinn, schwirrten interessante Gesichter vor ihr, tat sich ein weiter, lichter Raum auf und ihre Lippen lächelten in stiller Freude den dunkel gewordenen, nachdenklichen Augen zu.

Es wurde plötzlich mehrmals an die Tür geklopft.

Ninotschka fuhr zusammen und hob den Kopf.

»G–gnädiges Fräulein,« rief jemand so nahe, als wäre er im selben Zimmer: »dürfte man nicht bei Ihnen ein Ke – Kerzchen ausbitten … bei uns geht die Lampe aus.«

Ninotschka lächelte verlegen, als wenn der Sprechende sie sehen könne, und antwortete ebenso verlegen:

»Ach, bitte …«

Sie stand auf, kramte eilig in der Kommode, zog ein Licht hervor und ging zur Tür. Der Riegel war auf ihrer Seite, Ninotschka schob ihn zurück, öffnete ein klein wenig und streckte die Hand durch den Spalt.

»Hier, nehmen Sie bitte.«

»Tausendmal Da–Dank, gnädiges Fräulein …« sprach dieselbe Stimme unnatürlich höflich, nach Art Trunkener mit der Zunge in Verwirrung kommend. Ninotschka schien es, daß er einen Bückling machte, aber das Licht wurde ihr nicht abgenommen. Sie hielt die Hand hinter der Tür und bewegte sie hin und her.

Ihr kam es vor, als kicherte jemand; dann hatte sie plötzlich die Empfindung, daß irgend etwas Widerwärtiges heimlich neben ihrer Hand vorbereitet würde. Doch bevor sie noch Zeit hatte, etwas zu verstehen, griff eine verschwitzte schlaffe Hand nach dem Licht und drückte Ninotschkas Fingerspitzen mit frivoler Galanterie leicht an das glitschige kalte Stearin.

» Merci, merci, gnädiges Fräulein,« sagte dieselbe Stimme eilig und noch unnatürlicher.

»Nichts zu sagen, wirklich,« antwortete Ninotschka mechanisch und zog die Hand zurück.

Im Nebenzimmer war es scheinbar stiller. Man hörte nur ein undeutliches zurückhaltendes Dröhnen.

Ninotschka beruhigte sich, setzte sich aufs Bett, seufzte müde und kleidete sich aus. Sie legte Schuhe, Rock und Bluse ab, und blieb im bloßen Hemd und langen schwarzen Strümpfen mit hellblauen Gummistrumpfbändern sitzen. Ihre von dem Schwarz engumspannten Beine schienen kindlich zart, ihre Arme schimmerten naiv. Sie begann das Haar für die Nacht zurechtzumachen: legte die Haarnadeln auf die Knie und fing an, den Zopf zu flechten.

»Gnädiges Fräulein,« ertönte hinter der Tür wieder eine Stimme, »wir trinken Tee … vielleicht möchten Sie, mit uns ein Täßchen?«

Es war dieselbe Stimme, betrunken, unnatürlich galant, aber doch lag etwas Neues, Beunruhigendes in ihr: es machte den Eindruck, als blähten sich bei jedem Wort die Nasenflügel des Sprechenden.

»Nein, danke!« antwortete Ninotschka erschrocken nach der Decke greifend.

Die Stimme verstummte; es wurde still. Eine Sekunde lang schien alles zu schweigen; nur vom Flusse drang durch die Fensterklappen das ferne Scharren und Keuchen. Der Wind riß an den Läden und dröhnte unter dem Dach; von dort fiel etwas herab und brach unten klirrend in Scherben. Wahrscheinlich war ein Eiszapfen zerschlagen.

Leise, fast verstohlen, als suche sie sich zu verstecken, legte sich Nina ins Bett und zog die Decke bis ans Kinn. Ihre Augen wurden weit und schauten mit eiskaltem unbegreiflichen Grauen ohne zu blinzeln auf die Tür, während plötzlich in ihrem Kopf wie in einem Wirbel aufgescheuchte Gedanken kreisten:

»Fliehen muß ich … Wenn nur Matwej bald käme …«

Aber statt dessen, statt zu fliehen, fürchtete sie, sich zu rühren, zog die Decke mit zusammengekrampften Fingern weiter ans Kinn herauf und suchte sich zu beruhigen!

»Unsinn, Betrunkene … was können sie tun … sie werden doch nicht versuchen, hereinzukommen …«

Das schien ihr selbstverständlich unzweifelhaft, und doch fühlte sie schon im selben Augenblick das Nahen von etwas Sinnlosem, aber Furchtbarem.

Hinter der Tür war es still.

»Na ja … und den Riegel hat sie wahrscheinlich aufgelassen …« tuschelte jemand so nahe, als wäre er dicht an ihrem Ohr. Von diesem Tuscheln, das gerade dadurch entsetzlich wirkte, weil es kaum hörbar war, und doch von ihr so vernommen wurde, als hätte man es ihr durchdringend laut zugerufen, – packte Ninotschka tödliche Angst.

»Was haben wir zu riskieren?« drang dasselbe scharfe Tuscheln in ihr Ohr; in der gleichen Minute ertönte ein eigentümlich behutsames und unheimliches Knarren. Als wenn jemand leise, mit angehaltenem Atem, versuchte, hinter dem Teppich die Tür aufzumachen. Alles kreiste in Ninotschkas Kopf, stürzte zusammen, furchtbare tierische Angst faßte ihren Körper und ihre Seele, der scharfe und grelle Gedanke an eine undenkbare Sinnlosigkeit, etwas Unmögliches, beleuchtete mit einem Blitz, wie ihr schien, die ganze Welt; es war ihr, als würde sie von jemandem in die Höhe geschleudert. Sie sprang auf und blieb nackt, klein, in geschärfter Schönheit vor dem Bett stehen.

Der Teppich bewegte sich ein wenig, und hinter ihm trat im Dunkel, ein unbestimmter schwarzer Schatten hervor.

»Wer … was sind Sie! … Gehen Sie hinaus, ich schreie!« … sagte Ninotschka mit kläglicher, zittriger Stimme.

Der Schatten schwankte plötzlich, machte einen Schritt vorwärts, ein großer, schwerer Mensch trat, halb fallend, ins Zimmer. Und gleich nach ihm schob sich ein zweiter und ein dritter Schatten herein.

»Und – wir … sind gekommen … Ihnen für das Licht zu danken … und … überhaupt … vielleicht ist's Ihnen langweilig … ein so prächtiges junges Mädchen und gleichzeitig …« sagte ein Mann, an dessen runden, fetten Augen, die jeden menschlichen Ausdruck verloren hatten, Ninotschka erkannte, daß er betrunken war. Und noch etwas, das Letzte und Unentrinnbare. Auf die Seite springend, schrie sie gellend:

»Hilfe!«

»Tß … du!« pfiff jemand erschrocken.

Dann wälzte sich ein riesiger heißer Körper auf sie und drückte sie mit ganzer Kraft quer aufs Bett. Jemand packte ihr nacktes Bein mit verschwitzten harten Fingern oberhalb des Knies und stieß es zur Seite, während er in aufsteigender Wut und Wollust nach Atem rang …


II

Sie würden sofort nüchtern, als sie sich gesättigt hatten, als alles zu Ende war und das ganze Entsetzen des Geschehenen, kalt und ratlos, vor ihnen stand.

Draußen wurde es schon grau, die Lampe erlosch, im Zimmer war es schwül. Die Kissen lagen auf der Erde, die Decke war von den Füßen zusammengetreten worden. Statt eines Hemdes hatte Ninotschka nur noch Fetzen am Leib; sie lag nackt da, am ganzen Körper blaue Flecken und Risse, wand sich, schlug um sich, weinte und schrie. Sie sah nicht mehr schön aus, nur noch beklagenswert, fast abstoßend sogar.

Der blasse Polizeikommissar, in Hemd und Reithose, hielt sie auf dem Bett fest, indem er sich mit dem ganzen Körper quer auf sie wälzte und drückte ihr den Mund zu. Arzt und Untersuchungsrichter standen daneben und trampelten sinnlos auf einem Fleck herum. Ihre Arme zuckten, ihre Augen weiteten sich trübe, ihre Gesichter schimmerten in dem eigentümlichen Grau der Morgendämmerung.

»Hören Sie, meine Liebe … jetzt ist doch alles egal … nichts mehr zurückzubringen … Hören Sie … Es ist doch jetzt alles ganz egal, begreifen Sie doch …« redeten alle drei, sich gegenseitig ins Wort fallend, und wieder gleichzeitig ratlos verstummend, auf sie ein.

Aber Ninotschka, in der nichts mehr von der früheren hellen, lieben Zartheit war, nur noch etwas Verunstaltetes, Beschmutztes, – wand sich in den Händen des Polizeikommissars und schrie, die Augen wahnsinnig aufgerollt.

»Was soll man jetzt mit ihr anfangen?« murmelte der Untersuchungsrichter in verzweifelter feiger Wut durch die Zähne.

Vom Dorfe her wurde schon unbestimmtes Lärmen vernehmbar. Dicht unter dem Fenster krähte ein Hahn dreimal laut und energisch.

»Ah …« schrie Ninotschka, die ihren Mund unter der Hand des Polizeikommissars hervorgewunden hatte, durchdringend. Doch er packte sie mit festem Griff schonungslos ins Gesicht, preßte es nieder und zerdrückte es, daß Speichel und Blut an seinen Fingern kleben blieben. Eine Sekunde sahen sie sich beide in die Augen, unverwandt, als flössen sie in einem scharfen Blick zusammen und dieser Blick war grauenhaft, unmenschlich.

»Nun, nun … schrei m–mal!« zischte er mit sinnlosem Triumphe.


III

Es war heller sonniger Morgen. Vor den Häusern und Zäunen lagen noch lange, nasse Schatten und dort, wo die Sonne hinfiel, funkelten blendend kleine Pfützen; die in den Schmutz getretenen Strohhalme glänzten wie golden. Der Schulhof war leer; man sah nur gleichmäßige Räderspuren, die in dem nassen Boden zurückgeblieben waren. In dem Zimmer »für eintreffende Beamte« waren alle Möbel, außer dem Diwan, der hübsch fest gerade vor der Tür stand, abgerückt; Flaschen, trübe Gläser, Häufchen aufgeweichter Asche, zertretene Zigarettenstummel lagen herum. Hinter der Tür, im Zimmer Ninotschkas, war es so still und regungslos, als bewahrten die fest verriegelten Türhälften mit dicht zusammengepreßten Zähnen ein stummes Geheimnis.

Bis gegen elf Uhr drängten sich Knaben und Mädchen vor den Stufen zur Schule, rannten einander nach, stupsten und schlugen sich und lärmten, wie eine Schar Sperlinge. Um elf aber entstand plötzliche, unheimliche Stille. Irgend jemand lief, bei jedem Schritt schwer und deutlich auftretend, mit einer grauenhaften Nachricht die Straße herunter, und die Straße wurde lebendig. Alles kam in Bewegung, von allen Seiten kamen Menschen zum Vorschein und liefen aufgeschreckt schreiend, zur Schule. Der alte Iwolgin kam angerannt, der dicke Gemeindevorsteher und der Wachtmeister. Die Tür wurde geöffnet, und in das stille Zimmer Ninotschkas, das für immer verstummt und traurig zu sein schien, stürmten lärmende Menschen mit erschrockenen und neugierigen Gesichtern herein.

Mit stummer, trauriger Zunge erzählte es von einem unbekannten, grauenvollen Lebensende. Es sah aufgeräumt aus, aber augenscheinlich in aller Eile und ungeschickt, von fremden Händen: die Möbel waren in allzu peinlicher Ordnung zurechtgestellt, das Bett zugedeckt, als wäre es längst verlassen und vergessen, Ninotschkas Kleidungsstücke waren zu sorgfältig, verlogen, auf dem Stuhle zurechtgelegt. Dazu lag über dem Zimmer ein kaum wahrnehmbarer, fast unfaßbarer starrer Geruch.

Ninotschka, in einem reinen weißen Hemde, dessen Bügelfältchen sich noch nicht aufgeklappt hatten und das noch nach Seife roch, hing in einer Zimmerecke am Kleiderständer, von dem alle Kleider heruntergenommen waren. Die dünnen Arme, schon grünlich schimmernd fielen hilflos am Körper herunter, die Beine in schwarzen Strümpfen und mit hellblauen Strumpfbändern, bogen sich unnatürlich nach außen, als strebten sie voll Qual nach der Erde, der Kopf war zurückgeworfen, ungeheuer groß, aufgedunsen, blau, mit unmenschlichen gläsernen Augen und rauher blauer Zunge, die sich in dem toten kalten Mund nach oben wölbte; – auf den blauen Lippen stand erstarrter, schmutziger blutiger Schaum und ein Ausdruck von Grauen und Qual, die für die Lebenden nicht mehr begreiflich, nicht faßbar waren.

Der alte Iwolgin schrie wild auf, die Menschen redeten und schrieen sinnlos durcheinander als hätten sie plötzlich den Verstand verloren, durch die Straße ging ein schwerer, vernehmlicher Seufzer und zerfloß in der dichten schwarzen Volksmenge, die sich um die Stufen drängte.


IV

Der Polizeikommissar, der Untersuchungsrichter und der Kreisarzt waren am nächsten Tage gegen Abend, einzeln, nicht zusammen, eingetroffen. Es war noch hell, aber die Schatten begannen sich bereits in die Länge zu ziehen, unter ihnen schimmerte eine dünne Eiskruste. Vom Gemeindehaus gingen sie nach der Schule, vor der nur zwei Wächter mit blinkenden Amtsschildern standen. Die Beamten stiegen schweigend die Stufen hinan und traten in das Schulhaus. Der dicke, aufgedunsene Kreisarzt atmete schwer und bewegte sinnlos die Finger.

Der hagere, hochgewachsene Polizeikommissar ging mit einem Gesicht, hart, wie aus Stein, resolut und sicher, voran. Der Untersuchungsrichter hielt sich abseits, sein dünner blasser Hals unter einem kleinen frechen Gesicht mit aufgezwirbeltem blonden Schnurrbart zog sich krampfhaft in die Schultern ein.

Als erster trat der Polizeikommissar ins Zimmer und ging geradewegs auf Ninotschkas Leiche zu, die regungslos und kalt durch das Laken schimmerte. Eine Sekunde lang sah er gerade in ihr totes Gesicht, dann wendete er sich ab und sagte kalt:

»Wegschaffen! …«

Die beiden Wächter warfen schleunig ihre Mützen hinter die Tür und kamen, behutsam mit den Bastschuhen auftretend, an das Bett heran. Ihre Hände zitterten, selbst in ihren angespannt gekrümmten Rücken war das Grauen und Mitleid zu spüren; ihr keuchender Atem aber blieb stumpf und unterwürfig.

»Schneller,« rief der Polizeikommissar mit derselben kalten, gewohnheitsmäßig harten Stimme.

Die Bauern gerieten in Hast. Ninotschkas schwarze Füßchen zitterten, schlugen hoch und fielen hilflos nieder. Von dem mit rauhem, erdbeernem Drillich bekleideten Arm fiel ein blasses grünliches Händchen herab und hing zu Boden.

»Tragt sie nach dem Hof, in die Scheune …«

Die Bauern setzten sich in Bewegung, blieben stehen, rückten wieder an, und trugen sie, die Hände überschlagen, wie eine furchtbar schwere und zerbrechliche Last hinaus.

Und als sich die schwarzen Füßchen, eigentümlich vorwärts dringend, aus der Schultür auf die Stufen schoben, ging der gleiche gedämpfte Seufzer des Grauens und der Verständnislosigkeit durch die Straße, die plötzlich von hunderten weit aufgerissener Augen beleuchtet wurde.

»Jagen Sie das Volk auseinander,« rief entsetzt keuchend, der Arzt dem Polizeikommissar ins Ohr.

Der Polizeikommissar richtete sich auf. Sein Gesicht wurde gebieterisch:

»Was habt Ihr da zu suchen … Auseinandergehen, Marsch!«

Die Menge geriet stumm in Bewegung, drängte sich eine Weile, wogte hin und her und blieb auf der Stelle.

»Auseinandergehen, auseinandergehen!« riefen plötzlich der Wachtmeister und die Polizeidiener.

Ninotschka war bereits in die Scheune getragen und dort auf das gefrorene harte Gerüst niedergelegt worden. Das kleine tote Köpfchen wackelte noch einmal leise und erstarrte.

Einer der Wächter bekreuzigte sich erschrocken.

Der Kommissar sah ihn flüchtig an und sagte mechanisch:

»Schere dich hinaus … Rufe die Zeugen.«

Das Gesicht des Bauern zog sich zusammen, war für einen Augenblick wie nach innen gesunken, und die stumpfsinnige Angst eines Schwachkopfs trat hinter dem hellen, durchsichtigen Mitleid auf seine Mienen.


V

Nach der Obduktion saßen der Kreisarzt und der Untersuchungsrichter schweigend im Gemeindehaus zusammen, draußen war eine sternenlose Nacht, die schwarz durch die Fenster hineinlugte.

»Ach, mein Gott, mein Gott!« seufzte still der Arzt, während er mit seinen dicken Fingern, die vergessen zu haben schienen, wie man es macht, an einer Zigarette drehte.

Der Richter sah ihn kurz an und ging im Zimmer auf und ab.

Beiden war unerträglich ängstlich zumute; es war ihnen unmöglich, sich in die Augen zu sehen. In ihren schwer gewordenen Köpfen, die ihnen plötzlich ungeheuer groß und krankhaft leer, wie bei Wahnsinnigen, wurden, zogen Erinnerungen Sprünge und Zickzacklinien. Formlose Erinnerungen, aber scharf wie Messer.

Für Minuten schien es dem Arzte, als wäre alles »nur so«, ein Fehler, ein gutzumachender Fehler gewesen. Alles würde zu Ende kommen, vorübergehen; das Leben wird wieder ebenso gut, freudig und bequem sein, wie vorher. Aber plötzlich schwamm ein feuriger Nebel heran: ein hübsches, nacktes Weib, in schwarzen Strümpfen, mit hellblauen Strumpfbändern, ein Weib, das für einen Augenblick nur eine Sache war, mit dem sie alles tun konnten, wozu sie Lust hatten, dem sie mit wahnsinnigem Genuß, mit Grausamkeit den weichen, brennenden Körper zerfleischten – es tauchte plötzlich aus dem Nebel des trunkenen Wahnsinns und der Geistesabwesenheit als blasse kalte Leiche auf. Und das Leben verschwand, es verschwand jede Möglichkeit, zu leben, der kommende Tag stürzte in das schwarze Loch auswegsloser Furcht. Strafende Bilder stiegen auf, bekannte Gesichter wurden fremd und furchtbar, machtvolle Hände, denen nicht zu entrinnen war, erhoben sich über seinem Kopf, und das Herz versank in einem Abgrund von Scham.

Der Untersuchungsrichter aber schritt aus einer Ecke in die andere, immer schneller und schneller, als ob er jemandem zu entlaufen suchte. Hinter ihm knarrten unablässig die Dielen, – etwas Unsichtbares schien ihm nachzujagen. In seinem runden, glatt geschorenen blonden Schädel liefen hastig wie Mäuse die Gedanken umher, nach einem Ausweg zu suchen. Die Seufzer des Arztes reizten ihn. Ihm schien, daß jetzt nicht Grund und Zeit zum Seufzen wäre, daß nur eins notwendig sei: sich herauszudrehen. Der Gedanke an ein kleines, zugrunde gerichtetes Weib stand regungslos, unnütz in einem dunklen Winkel seines Hirns.

»Ach, mein Gott!« seufzte der Arzt.

Der Untersuchungsrichter wurde wütend. Er fühlte, daß diese schweren Seufzer an seinen Gedanken hängen blieben und ohnmächtig um einen Punkt kreisen. Er drehte sich kurz um, rollte die kleinen, wie Gallert durchsichtigen Augen, und rief wütend:

»Was jammern Sie da! Um welchen Teufels willen, in der Tat! … Hat selbst die Suppe eingebrockt und lamentiert jetzt wie ein altes Weib …« In seinen Worten lag ein unheimlicher Ausdruck; aber er blickte dem Arzt nicht in die Augen.

Der Arzt verstand ihn und wurde tiefrot. Sein übergroßes Gesicht, wie eine Kugel aufgebläht, wurde rot und blinkend. Man hörte im ganzen Zimmer, wie sein Atem anfing, kurz und schwer zu werden.

»Was? … Ich? … Alles ich?« fragte er abgerissen, sich langsam auf seine kurzen Beine stellend.

»Selbstverständlich, – Sie!« Der Untersuchungsrichter reckte sich ihm wütend, mit hochgeworfenem Kopfe, entgegen.

Das Lämpchen auf dem Tisch wackelte erschrocken und klirrte kläglich mit dem grünen Schirm. Das Licht fiel auf gespreizte Beine und krampfhaft geballte Fäuste, die Gesichter blieben im Schatten und nur die Augen glänzten trübe.

»Ich?« fragte der Arzt nochmals und verschluckte sich röchelnd.

»Sie, Sie, Sie!« rief schrill der Untersuchungsrichter.

»Und wer sagte es zuerst!« röchelte der Arzt.

»Ich habe es im Scherz gesagt, Sie sind aber zuerst hineingegangen!«

»Aber wer hat sie auf den Kopf gehauen, auf den Kopf! … Ich?«

»Aber wer sagte, daß wir nichts fürchten brauchen!«

Sie standen sich mit wutverzerrten Gesichtern gegenüber, mit Augen, die außer Furcht und Haß jeden Ausdruck eingebüßt hatten, und schleuderten sich nackte, widerwärtige Anklagen entgegen. In ihren Seelen, die jeden Halt verloren hatten, und in ihrem getrübten Verstande schien eine unerträglich durchdringende Stimme zu heulen.

»Nicht ich, nicht ich … er, er, er! …«

Eine Türe wurde zugeschlagen, und aus Furcht vor dem Laut zogen sie sich zusammen, wurden blaß und verstummten.

Der Kommissar trat herein. Er trug den kalten grauen Uniformmantel mit blanken Knöpfen und den Säbel. Sein Gesicht war wie aus Stein, seine Augen wie aus Metall; seine ganze Gestalt – grau und hart.

Er trat an den Tisch, stützte sich mit beiden Händen auf und sagte, während er gerade zwischen beiden auf die Wand blickte:

»Gleich werden wir mit der Untersuchung beginnen.«

Er sah nicht auf, fühlte aber doch, wie sie erblaßten.

Die Lippen zur Seite ziehend, sagte er:

»Aber famos haben wir das Nächtchen verbracht … Schade, daß wir an solche Gans kamen. Na, war ganz nett.«

Er sah der Reihe nach erst den einen, dann den anderen spöttisch an; mit veränderter Stimme fügte er hinzu:

»Wie dem auch sei, wir brauchen nicht an irgend einem Weibsbild zugrunde zu gehen … Da heißt's, sich herausdrehen. Was also? Grad hab' ich gehört, daß zwei Bauern gesehen haben, wie der Schuldiener Matwej Powalny nachts aus der Schule herauskam … wie?«

»Na, was denn …?« fragte der Arzt lautlos.

In der Kehle des Untersuchungsrichters schluchzte etwas freudig auf:

»Das ist die Rettung! … Eine Vergewaltigung wird es nicht, wird Raubmord … Raubmord ist plausibler und nicht so sensationell! … Verstehen Sie? … Und den Schuldiener aus dem Konzept zu bringen ist nicht schwer, übernehme ich … Vergewaltigung ist gar nicht nötig.«

»Aha …« sagte der Kommissar gedehnt, als lauschte er auf etwas Fernes; er reckte den langen sehnigen Hals aus.

Aber je weiter der Untersuchungsrichter versuchte, alles auf den Schuldiener zu wälzen, um so kraftloser und fassungsloser wurde der dicke, gedunsene Arzt. Neues Grauen stand vor ihm auf, in feige, abreißende Reden gekleidet; es schien ihm unerträglich zu werden. Als der Untersuchungsrichter verstummte, fiel der Arzt massig, fast ohnmächtig auf den Stuhl und stöhnte dumpf, das Gesicht mit den schlaffen Fingern bedeckend.

»Aber darauf steht Zuchthaus … Für uns soll das heißen!«

Der Polizeikommissar wandte ihm sein starres Gesicht zu.

»Was denn tun?« fragte er kalt.

»Aber darauf ist Zuchthaus … Für uns soll ein unschuldiger Mensch leiden!«

Auf das Gesichtchen des Untersuchungsrichters drängte unaufhaltsam ein wilder Zug, vermischt mit der tollen Verzückung des Geretteten.

»Na, was schon,« sagte so ruhig, als wäre es das Allergewöhnlichste, der Polizeikommissar.

»Das ist unmöglich … ich kann nicht!« stöhnte der Kreisarzt, während er seine Finger noch stärker vor das Gesicht preßte.

»Was heißt das – ich kann nicht!« kreischte der Richter auf.

»Nein, ich kann nicht …« Der Arzt schüttelte den Kopf, ohne die Finger zu öffnen. Seine Stimme war traurig, gedrückt und dumpf: »ich kann nicht.«

»Aber konnten's!?« rief der Untersuchungsrichter.

»Das … weiß nicht wie … es passierte … Nun, was auch … Aber dies kann ich nicht! …« erwiderte ebenso dumpf der Kreisarzt.

»Ah so, Sie können nicht? Aber ins Zuchthaus auf zwölf Jahre … ja?« Der Untersuchungsrichter neigte sich gehässig und mit schleichendem Triumph, dicht an das Ohr des Arztes. »Und Ihre Frau, die Familie, ja?«

Der Arzt riß die Hand von seinem angeschwollenen Gesicht, sah ihn starr an und brach plötzlich, mit dem Kopf auf den Tisch gesunken, in kreischendes Weinen und Stöhnen aus.

»Mein Gott, mein Gott … was ist das nur, was ist das nur?«

Sein Kopf fuhr wie eine große weiche Blase an der Tischkante hin und her.

»Bringen Sie ihn zur Ruhe …« sagte verächtlich der Kommissar, vom Tische zurücktretend. »Was soll das, den Hausnarr spielen … Begreife nicht …«

Der Arzt fing an, aufzuschlucken, und allmählich ging sein Weinen in lautes, schreckliches Lachen über.

Der Untersuchungsrichter stürzte erschrocken nach Wasser, stieß dem Arzt das Glas gegen die feuchten Zähne und redete geängstigt auf ihn ein: »Hören Sie auf … Nun, was ist das mit Ihnen … Nun, wir haben uns ein Mädel vorgenommen … waren besoffen … An unserer Stelle hätte es jeder andere ebenso gemacht … Was, wollten wir den Tod für sie, was … Trinken Sie Wasser … Hören Sie auf … Schreien Sie nicht so … Nur, das kam so, – was ist da zu tun? …«

Der Polizeikommissar stieß plötzlich einen Seufzer, halb Stöhnen, halb Lachen aus. Der Untersuchungsrichter sah sich nach ihm um; für einen Augenblick überkam ihn das Gefühl, als wären sie alle verrückt geworden, er selber auch; über seinen Schädel lief ein krampfhaftes Zittern. Der Polizeikommissar faßte sich, schlug ihm das Glas aus der Hand und schrie wütend durch die zusammengebissenen Zähne, während er den Arzt an der Schulter packte:

»Ruhe geben … Dich mein' ich, Aas verfluchtes! … Ich schlage dich tot!! …«

Der Arzt schüttelte sich unter seinen Händen, als wenn sich sein Kopf vom Körper trennen würde, und stammelte hilflos:

»Ich … v–verstehe … las–lassen Sie … ich werde nichts …«

VI

Noch am Abend verbreitete sich, heimlich von Mund zu Mund schleichend, nach allen Seiten das bange Gerücht von der Bluttat. Es blieb dumpf und still, aber in dieser toten Stille schien ein verzweifelter Schrei von Mensch zu Mensch zu fliegen; aus den Seelen stieg angstvolle Verzweiflung in die Welt. Am frühen Morgen verließen die Arbeiter der Baumwollespinnerei und der benachbarten Eisenbahnstation ihre Arbeit, schwarze Haufen wälzten sich über die Felder nach dem Dorf.

»Haben selber gemordet und selber Gericht gehalten,« sagte eine schwere dumpfe Stimme; in ihrem Flüsterton begann eine ungeheure, gemeinsame Drohung anzuschwellen.

Mit stürmischer Macht und Schnelligkeit wuchs sie heran. In ihrer elementaren Bewegung riß sie den ganzen geheimen Druck, die jahrhundertelange Bedrückung mit sich fort. Als hätte auf einmal der Schatten eines kleinen zu Tode gepeinigten Weibes in kindlichen schwarzen Strümpfen mit naiven hellblauen Strumpfhaltern, das allen gemeine Frohe und Liebe in sich verkörpert. Man wollte nicht glauben, nicht mehr leben; die Beine gingen von selbst nach jener Richtung, die Gesichter nahmen von selbst den drohenden, verzweifelten Ausdruck an.

Als die Wächter früh morgens einen ungestrichenen Sarg auf die Straße hinaustrugen, hatte bereits eine schwarze wirbelnde Menge die ganze Straße überflutet. Schweigend teilte sie sich vor dem langsam in der Luft schwebenden gelben Kasten. Niemand sagte, was zu tun sei, alles sah qualvoll auf den gelben Deckel, unter dem die stumme Verzweiflung lauerte. Es war still, nur in unbestimmter Ferne, wälzte sich ein taktmäßig anschwellendes unterirdisches Dröhnen.

Der weiße Himmel wurde allmählich durchsichtig; der Reif schimmerte flüchtig auf den Dächern, auf der Erde, und den Zäunen. Im Osten verblaßte zart und schwermütig der letzte Stern. Die Menge setzte sich, langsam schwarze Ringe ziehend, in Bewegung und wälzte sich hinter dem Sarge her. Er war bald an die Kirche gekommen; langsam bog man nach dem Kirchhof ab.

Plötzlich hörte man das schrille, beharrliche Schreien eines Menschen. Iwolgin, ohne Mütze, grauhaarig, lief auf den Sarg zu, und schrie, die knochigen Arme schwingend:

»Halt, halt!«

Der Sarg hielt wie von selbst und schwankte unschlüssig auf der Stelle. Iwolgin holte ihn ein. Die grauen Büschel seiner Haare stachen nach allen Seiten; seine alten Augen quollen über dem verzerrten Munde hervor.

»Wohin?« rief er, sich außer Atem an den Sarg klammernd: »Zurück! … Ermordet und die letzten Spuren ins Wasser? … Das gibt's nicht, Halunken! … Zurück! … Das wollen wir noch mal sehen, wie …«

Durch die Menge lief das dumpfe Dröhnen.

»Herr Iwolgin, für diese Worte können Sie sich zu verantworten haben … sehr einfach!« rief drohend der Wachtmeister und schob sich zwischen ihn und den Sarg. »Weiter, Kinder, weiter! …«

Iwolgin klammerte sich mechanisch an seinen Arm und bewegte krampfhaft die zitternden Lippen.

»Was packen Sie mich denn an!« der Wachtmeister entriß ihm kräftig die Hand.

Aber Iwolgin griff ebenso mechanisch nach seinem Ellenbogen; er schien lautlos etwas zu lallen; wie ein Fisch schnappte er krampfhaft den Mund auf und zu.

»Lassen Sie los!« rief der Wachtmeister wütend.

»Sie haben sie ermordet … Selber ermordet …« stammelte endlich Iwolgin: »Von ihnen … ist es Sünde … Das wissen Sie …«

»Was weiß ich?« schrie der Wachtmeister übertrieben frech. »Was denn? … Ist es Ihre Sache? – Polizist, nimm ihn fest! …«

Ein Bauer faßte Iwolgin schüchtern am Arm.

»Bruder, was soll das?« schrie jemand aus der Menge.

»Laß los, weshalb greifst du nach ihm … Die Mörder! … Kinder, nicht beerdigen lassen … Den Staatsanwalt … A–a … Nicht lassen!« schrieen einige Stimmen halblaut, plötzlich aber setzte sich die Masse in Bewegung, ebbte zurück und staute wieder vorwärts.

Der Wachtmeister brüllte etwas aus Leibeskräften, kam aber nicht gegen das Chaos wilder Stimmen auf. Der Sarg schwankte heftig und senkte sich dann rasch herunter, zu den Füßen der Menge.

VII

Am nächsten Tage zur Mittagszeit trafen der Kreispolizeichef und der Kommissar durch eine auf der Station aufgegebene Depesche benachrichtigt, ein.

Vom frühen Morgen an dröhnte und zitterte es im ganzen Dorf. Der Sarg stand einsam in der Kirche; in seinem gelben Deckel spiegelte sich trübe die Sonne.

Der dicke Polizeichef stieg massig und machtbewußt aus der Kalesche und warf dem Polizeikommissar halblaut die Worte zu:

»Ippolit Ippolitowisch, schaffen Sie Zeugen her und ordnen Sie an, daß man sofort begräbt …«

Er selber ging mit kurzen und festen Schritten zur Kirche. Vorhalle und Vorhof waren von einer schweigenden Menge überflutet. Die Polizeidiener, Kommissar und Kreispolizeichef waren hindurchgegangen. Man hörte, wie ihre Füße auf dem steinernen Fußboden der Kirche dröhnten. Dann kamen sie wieder zurück; der gelbe Sargdeckel erschien von neuem im schwarzen Viereck der Tür und schwankte hoch über der Menge in der Luft.

»Vorwärts, vorwärts!« rief der Kreischef finster nach allen Seiten schielend.

Lautlos wie ein Automat schob die Menge dichter heran und drängte in die Vorhalle. Der Sarg blieb stehen.

»Auseinandergehen!« rief der Kreispolizeichef vortretend.

»Das wär' was … – auseinandergehen!? Totgeschlagen, so, und auseinandergehen … Stimmt!« antwortete jemand aus der Menge.

Iwolgin, grau und säuberlich, mit einem kleinen weißen Kreuz auf dem grauen Mantel, trat höflich, aber entschlossen dem Kreischef entgegen.

»Erlauben Sie,« zurückhaltend und leise neigte er sich dem Kreischef zu: »die Stimme des Volkes bezeichnet nun mal als …«

»Wie bitte?« fragte der Kreischef, ihm rasch den Kopf zuwendend.

»Ich sage, daß die Mörder uns allen bekannt sind … man kann nicht zulassen, daß diese grauenhafte Tat …«

Der Kreischef blickte ihm unsicher ins Auge, wendete sich aber sofort wieder ab.

»Erlauben Sie … Das ist nicht Ihre Sache! … Wer sind Sie denn? … Entfernen Sie sich gefälligst.«

Rücksichtsvoll, aber entschlossen schob er den im Wege stehenden Iwolgin beiseite.

»Vorsehen!« schrie dieser plötzlich in furchtbarer Wut und schleuderte die Hand des Polizeichefs kräftig zur Seite.

Der Kreispolizeichef kroch in sich zusammen und wurde blaß.

»Leiser, leiser … Sie sind …« murmelte er kaum vernehmlich und ohne Iwolgin anzublicken. »Weiter, Kinder! …«

Es trat ein langes, quälendes Schweigen ein. Der Sarg schwankte leise in der Vorhalle.

»Kinder,« rief der Kreischef immer mehr erblassend mit dünner, gespannter Stimme: »Wißt Ihr, was Ihr tut? … Ihr macht Euch strafbar! Laßt durch … Die Untersuchung hat den Schuldigen festgestellt … Das Gericht wird ihn richten, aber Ihr werdet es verantworten müssen …«

»Gericht … richten … Untersuchung! Ho–hoho!« wurde fast fröhlich, klingend in der Menge geschrien. »Die Schlauen! … Nein, Bruder, geh weiter! … Ho! …«

»Durchlassen!« rief der Kreispolizeichef nochmals überlaut! »Was gibt's da noch?«

»Das gibt's!« rief Iwolgin, sich wieder zu ihm drängend, »meinen Sie, daß es für Sie kein Gericht gibt! … Dann lügst du, Lump! … Sieh hier, dein Gericht!«

Der Kreischef sah sich unter den zusammengezogenen Augenbrauen ringsum; er machte einen Schritt zurück. Und wie gebannt setzt sich die ganze Menge hinter ihnen her in Bewegung.

»Ippolit Ippolitowitsch,« sagte ratlos der Kreischef.

Der hohe graugekleidete Kommissar trat an ihm vorbei auf Iwolgin zu; auf seinem Gesicht lag der harte, kalte Ausdruck, als ob er noch nichts begriffen hätte.

Gerade in dem Augenblick, als er und der Wachtmeister Iwolgin packten, änderten sich in dem langen, farblosen Gesicht eines Arbeiters die Mienen; wütend die Augen niedergesenkt, schlug er dem Kommissar mit der schwieligen, wuchtigen Faust gerade ins Gesicht. »Mörder!!« stöhnte er.

Blut spritzte; der Kommissar wankte, hielt sich aber auf den Füßen. Sein Gesicht war mit einem Mal verunstaltet, zeigte aber weder Entsetzen noch Schmerz, sondern nur wahnsinnig verwunderte, raubtierartige Wut. Er brüllte kurz auf, und stürzte sich, wie eine Katze gekrümmt, auf den Arbeiter. Gegen eine Minute hielten sie sich umpackt, schwankten dann und stürzten gleichzeitig auf die Stufen der Vorhalle.

Alles ächzte, geriet in Drehung.

»Nur zu … Schlagt zu, Kinder!« rief jemand lustig.

Der Kreispolizeichef und der Dorfälteste liefen nebeneinander über die schmutzige Erde, den schmelzenden Schnee, das kalte ins Gesicht spritzende Wasser. Sie liefen röchelnd und außer Atem, schmutzig, abgerissen, mit zerschlagenen Gesichtern, wie ungeheure Hasen, die ohne auf den Weg zu achten, quer über das Feld springen. Weit hinterher stürzte zerstreut die Menge mit Johlen und Pfeifen.


VIII

Nachts schob sich von der Landstraße her, die aus der Finsternis kam und in der Finsternis verlief, eine schwere Masse ins Dorf. Es war nichts zu unterscheiden, nur zu hören, wie die Pferde schnaubten, die Hufeisen trommelten und auf den Boden klatschten und Waffen fast lautlos klirrten.

Auf dem Platz machte das Militär halt. Die Straße blieb still und leer, nur ein paar Hunde heulten und kläfften auf den Höfen. Hier und da leuchtete in finsteren Fenstern Feuer auf und erlosch sofort.

Ein Teil der Soldaten saß ab und trat in die Umfriedung der Kirche. Dann wurde aus der Finsternis ein dunkler Kasten herausgetragen und rasch um die trübe schimmernde Mauer nach dem Kirchhof gebracht. Es war still.

Lange war es still, bis der graue, erregte Tag kam.

Am Tage zogen von der Fabrik her, deren tote Schlöte gleich riesigen erloschenen Kerzen in die Luft ragten, wieder schwarze Haufen über die Hauptchausseen. Sie klebten aneinander, dehnten sich aus, zerflossen auf dem Platz; blasse gespannte Gesichter steckten zusammen und fuhren auseinander, wendeten sich einander zu und schauten mit einem eigentümlich vertieften Ausdruck auf die Soldaten. Die andere Seite des Platzes war wie vorher leer und still. Dort standen in langen Streifen berittene Soldaten; die Reihe ihrer steinernen, undurchdringlichen Gesichter war der Menge zugewandt. Sie saßen regungslos im Sattel und nur ihre Pferde bewegten die Köpfe! Vor ihnen gingen unbekannte, graue Menschen, die sich seltsam von der grauen Erde und den grauen Zäunen abhoben.

Dann schritten diese Menschen zu den Rossen und schwangen sich rasch, sicher in die Sättel. Ein einsamer Ruf ertönte, der lange Streifen der Soldaten geriet mit einem Mal ins Schwanken, setzte sich in Bewegung und ritt im Trab auf die Menge zu.

Einzelne Rufe des Staunens und Entsetzens zerrissen die Stille und die ganze schwarze Masse kletterte mit wildem Schreien und Kreischen über die Balken zurück auf die Umfriedung der Kirche. Die riesigen Pferde schlugen jäh die Köpfe empor und schoben sich in die Menschen. Hinten, in der Menge, von der Umfriedung herab, wurde gepfiffen und geschrien. Ein Arbeiter lief in Sprüngen von der Kirche her den Pferden entgegen und schrie gellend:

»Unsere, hierher! Unsere hierher!«

»Haut sie, haut sie!« Stöcke, Steine sausten durch die Luft; Arme, rote Gesichter mit wilden Augen wirbelten durcheinander. Man hörte keine Schreie mehr, nur einen unbestimmten Brei von Röcheln, Winseln, harten Schlägen und dumpfem Fallen. Plötzlich erscholl elementares, triumphierendes Brüllen. In der Ferne, am Ende des Platzes, sah man noch die Kosaken, aber nicht mehr in einem regelmäßigen grauen Streifen, sondern in verstörten, kläglichen Häuflein. Unablässig flogen die schweren Steine gegen sie.

»Wir haben's!« rief ein Mann und lächelte mit kindlicher Freude.

»Schau! …« sagte still und deutlich jemand in der Menge.

Auf jener Seite des Platzes rollte sich langsam eine lange graue Kette auf. Hunderte Füße schlugen einen eiligen und regelmäßigen Takt an.

»Das wagen sie nicht, sie drohen nur,« ging es zaghaft durch die Menge.

»Bruder … was soll das? Was wird denn jetzt …« fragte der große Arbeiter mit gesunkener Stimme.

Dann schlug etwas in Erde und Himmel ein. Die grauen Menschen verschwanden irgendwohin und wurden von einem Streifen leichten, grauen Dunstes überzogen …

IX

Gegen Abend gingen die Wolken auseinander; Die Sonne lugte hervor. Es war grauenhaft still; über der Erde, zwischen dem erstorbenen, sich duckenden Leben und dem tiefen, freien Himmel lag eine tote, lastende Macht.

In der Scheune, am Gemeindehaus, lagen auf einem Brettergerüst reihenweis tote Menschen und schauten mit weißen Augen, die für immer erstarrt waren, nach oben; ein fragendes, unveränderliches Grauen glänzte trübe in ihnen …



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