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Der Blutfleck.

I

In diesen ganzen Tagen hatte Anissimow fast gar nicht geschlafen, fühlte sich aber so gesund und frisch, wie nie zuvor. Er verjüngte sich geradezu; seine hagere ungeschlachte Gestalt mit der traurigen, langen Nase hastete lustig über die Station.

Alles überstürzte sich, war so unerwartet und schön, daß er ununterbrochen die Empfindung hatte, von einer frischen Welle herumgewirbelt zu werden, die von irgendwo heranflutete und das alte trübe und langweilige Leben fortspülte.

Auf der Station, die sonst still und menschenleer war, ging es lärmend zu. Durch die schwarzen Mengen, die unaufhörlich über Bahnsteig und Schienen liefen, wurde sie ewig bewegt wie ein Ameisenhaufen, darüber hing in der klaren, kalten Luft des hellen Tages das vielstimmige aufgeregte Gerede. Von Osten her kamen in rascher Folge bunte, in der Eile aus den verschiedensten Wagen zusammengestellte Züge, die fast ohne Aufenthalt stürmisch in die Ferne sausten, schnell kleiner wurden und mit dem weißen Panorama der Schneefelder verschmolzen. Jeder Zug wurde von der Menge auf der Station mit langhallendem »Hurra« und Mützenschwenken empfangen und begleitet; die Fülle der Hände flimmerte vor den Augen und von dem Geschrei ergriff alle ein knabenhaftübermütiges Gefühl. Jeder strengte sich an, die andern nach Möglichkeit zu überschreien und sah sich naiv lustig nach seinen Nachbarn um. Und wenn der Zug auch schon im Gehölz verschwunden war, tönten noch lange einzelne ersterbende Rufe:

»A–a! …«

Auf den Lokomotiven wehten rote Fähnchen im Winde. Aus allen Wagen guckten völlig unbekannte, meist junge Menschen, die doch eigentümlich nahe schienen, wie wenn sie gemeinsame Freunde wären.

Sie winkten mit Händen und Mützen und verschwanden in derselben Richtung. Daß ihrer so viele und diese Züge so häufig waren, daß Flinten und Revolver sonderbar von den schwarzen Ueberziehern und Mützen abstachen – das flößte jeder Seele ein neues, freudiges Gefühl von Recht und Kraft ein.

Anissimow fertigte allein jeden Zug ab und schon ein Stück vor der Station an der Kreuzung stehend, streckte er allen seine lange, von der Kälte gerötete Nase freundlich entgegen. Was später kommen würde, wußte er noch nicht, aber etwas Lichtes, Glückliches zeichnete sich ihm unklar in der Zukunft ab; anscheinend hatte das vorherige Leben, mit seiner toten, schweren Arbeit, der seelischen Verkümmerung, den Demütigungen, dem Trunk aus Langeweile, den ewigen Sorgen und Entbehrungen für immer geendet.

Wenn es keine Züge gab, schlenderte er durch die Menge auf der Station, und, während er seine lange Nase bald in das eine oder das andere Häuflein aufgeregt diskutierender Menschen steckte, lächelte er hier und da oder warf eine Bemerkung ein. Alle kannten ihn schon, nannten ihn »unser Stationsvorsteher« und »Genosse«, und knüpften mit ihm bereitwillig Unterhaltungen an, als wären sie Menschen, die sich seit langem nahe stehen.

Manchmal trat Anissimow in sein Stationszimmer, um eine Weile allein zu bleiben und seine Gedanken zu sammeln. Lange stand er mitten im Zimmer, ohne Mütze und Mantel abzulegen, lächelte träumerisch und dachte immer ein und denselben Satz durch, jedesmal überzeugt, etwas Neues gefunden zu haben:

»Oh! Das muß das echte Leben sein!«

Und Ausruhen und Nachdenken ganz vergessend, ging er wieder an die Luft, wo der Himmel grell weiß blinkte, der Schnee rein und klangvoll knirschte und sich noch immer muntere aufgeregte Menschen bewegten, lärmten, schrieen und lachten.

Von jedem vorbeifahrenden Zuge sprangen zwei, drei Menschen ab und teilten Anissimow Nachrichten mit oder stellten Fragen von außerordentlicher allgemeiner Wichtigkeit. Anissimow war froh, wenn er etwas Gutes antworten konnte. Er drückte ihnen fest die Hände, schaute ihnen offen und freudig in die Augen und sagte:

»Nun, Abfahrt, Genossen! … Mit Gott!«

Die lange Nase wurde noch röter, die kleinen Aeuglein feucht. Er nickte ihnen eilig zu und lief in der Richtung zur Lokomotive. Die Pfeife gellte und wieder wurde eine Menge nahestehender Menschen in die Ferne entführt, wo etwas Ungeheures, das zugleich furchtbar und freudig war, ausgeführt wurde.

Gegen Abend erblickte Anissimow in einem der Züge ein bekanntes Gesicht. Ein dicker Lokomotivführer mit gedunsenem, abgelebtem Gesicht sprang von der Plattform zu ihm herab. Sie drückten sich fest die Hände, und Anissimow sagte, während er über das seltsame Aussehen des Lokomotivführers, der ein Gewehr und schwere Patronentaschen trug, lächelte:

»Was für Sachen, Karl Wulfowitsch! … Wie famos, mein Lieber! … Welch allgemeine Begeisterung!«

»O–o!« erwiderte der blasse Lokomotivführer. »Werden noch was erleben!«

Er sprach nicht fehlerfrei russisch, und diese kleine Einzelheit, die Anissimow stets amüsiert hatte, kam ihm jetzt rührend vor.

»Soeben ist eine Nachricht eingetroffen, daß die Soldaten aus den Kasernen nicht herausgelassen werden, weil sie fürchten, daß sie zu uns übergehen,« – teilte er mit, und sein Gesicht zog sich unbewegt in einem glücklichen Lächeln auseinander.

»O–o! …« sagte begeistert der Lokomotivführer. »Darauf mußte man gefaßt sein …« und nachdem er eilig Anissimow die Hand gedrückt hatte, lief er fort um aufzusteigen.

Anissimow lief neben ihm her, Entgegenkommende mit der Schulter streifend, und rief:

»Auch ich möchte mit Ihnen fahren, aber ohne mich kommt hier alles durcheinander.«

»Ich dachte, Sie wollten Ihre Familie nicht verlassen …« bemerkte im Laufen der Lokomotivführer.

»Was jetzt die Familie!« rief aufgeregt freudig Anissimow. »Habe Frau und Kinder ins Dorf geschickt zum Schwiegervater … Die Familie kommt nachher, jetzt gibt's was andres … Nun, alles bestens! … Gebe Gott Ihnen Gesundheit! …«

Er blieb hinter dem Lokomotivführer zurück und sah dem Zuge lange, bedächtig lächelnd, nach.

»Wie eigentümlich das alles ist …« ging es ihm durch den Kopf. »Noch vor drei Tagen hätte ich nicht daran geglaubt … Ich dachte, das ganze Leben wird so dahinschleichen … ein Tag wie der andere, ein Tag wie der andere, nur die Not, diese verdammte, und die Plackerei.«

Das Gespenst eines grauen, langweiligen Lebens huschte an ihm vorüber und verschwand. Er sah sich ringsum, schüttelte den Kopf und ging, sich durch die Menge schiebend und auf die Stimmen hörend, in den Wartesaal dritter Klasse, in dem das ununterbrochene Dröhnen vieler Stimmen herrschte. Am Büfett stand der Weichensteller Akim und sprach, um sich die blauen Rauchschwaden seines Bauerntabaks verbreitend:

»Ja, was meinst du denn! … Das Volk, Bruder, das ist … wenn das mal losgeht, ja wenn, sagen wir, es sich aufrüttelt, ja, wenn es mal … dann … oho–ho, Bruder …«

In der warmen Atmosphäre allgemeiner Belebung war es fröhlich und wohlig; in Knäueln wogte der graue Rauch; vor den Fenstern bewegten sich dichte schwarze Schatten; Stimmen dröhnten und an der Eingangstür knirschte alle Augenblick der Hemmblock, während er ganze Haufen Volk hinaus- und hereinließ.


II

Noch am selben Tage, als es bereits zu dämmern anfing, und sich das ferne Gehölz grau von dem blau gewordenen Schnee abhob, sauste unter Volldampf, ohne Laterne, mit Dröhnen und Pfeifen, eine einzelne Lokomotive aus Moskau heran. Unter furchtbarem Aufzischen der Bremse und Knirschen der gefrorenen Schienen hielt sie für einen Moment auf der Station, und einer, der sich über die Plattform des Tenders hinauslehnte, brüllte mit verzweifelter Stimme:

»Genossen! … Alles verloren! … Bologoje ist gestürmt … Verbarrikadiert den Weg … Ein Zug mit Soldaten kommt!«

Die Lokomotive fuhr ab, passierte schwankend die Weiche und raste, Fetzen weißen Dampfes zurücklassend, weiter. Und in der plötzlich entstandenen Stille klang noch, sich entfernend ein einsamer Schrei:

»Ge–nossen, zuerst – welche von uns … Unser Zug zuerst, paßt auf–ff …«

Auf der Station entstand unheimliche Hast. Von allen Seiten liefen Menschenhaufen auf den Ruf herbei. In schrecklichem Durcheinander drängten sich erblaßte, verwirrte Gesichter um Anissimow, in der seltsamen gespannten Stille tönten vereinzelt unterdrückte Schmerzenslaute. Anissimow stand, die Beine gespreizt, unbeweglich auf der Stelle, wo er den unheimlichen Schrei von der vorbeirasenden Lokomotive aufgefangen hatte und sah sich mit verständnislosem Gefühl nach allen Seiten um. Das, was er gehört, aber nicht ganz deutlich verstanden hatte, war so unerwartet und entsetzlich, daß es sein Denken für einen Augenblick zum Stehen brachte.

»Was ist das? … Was ist das? …« fragte er mechanisch die neben ihm Stehenden.

Niemand antwortete ihm; aus allen Augen, in denen die runden erweiterten Pupillen glänzten, sah ihn dasselbe dunkle Grauen an. Es schien, daß eine Minute, ein banger Ruf noch genügen würde – und alles stiebt auseinander, heulend, jammernd, wahnsinnig. Es war ein unfaßbarer, grauenhafter Augenblick, während dessen Anissimow fühlte, wie eigentümliche Schwäche und Kälte durch seinen Körper rieselten. Doch gleich darauf wurde ein junger und sehr kleiner Student von unbekannten Händen in die Luft gehoben; die Mütze schwingend, schrie er aus allen Kräften mit hoher, durchdringender Stimme:

»Genos–sen! Das kann nicht sein! … Das ist ein Polizeitrick, Genossen!«

Und momentan verschwand der Stimmungsdruck. Der furchtbare Augenblick war vergangen. Allen wurde plötzlich klar, daß jene Nachricht Wahrheit sei, eine entsetzliche, nie gutzumachende vielleicht, und doch Wahrheit; aber trotzdem war zugleich damit der widerwärtige panische Schrecken überwunden und von Erbitterung und Entschlossenheit abgelöst worden.

Anissimow kam zu sich. Er nahm die Mütze ab, wischte den im Augenblick auf die Stirn getretenen Schweiß ab und sagte, ohne selbst auf seine Worte zu hören, zu dem neben ihm stehenden Telegraphisten:

»Na, was denn … das beweist noch nichts … wer weiß, wie sie sich da durchgeschlagen haben … wir werden unsere Sache machen und weitersehen.«

Der hagere, weißblonde Telegraphist antwortete etwas, doch Anissimow hörte es nicht. Plötzlich setzte wieder von allen Seiten Drängen ein. Einzelne Haufen begannen, Barrikaden zu errichten. Gleichzeitig an verschiedenen Stellen tauchten ihre schwarzen, formlosen Umrisse auf. Aus dem Bahnhof wurden Möbel geschleppt; zwei Mann trugen eilig, stoßend, an Anissimow eine lange angefrorene Schwelle vorbei; das Klirren von eingeschlagenem Glas drang zu ihm herüber.

Ohne sich eine Erklärung dafür geben zu können, verstand Anissimow, daß in Wirklichkeit keiner eine Ahnung hatte, was man tun müsse; es war notwendig, daß er dieser ganzen belebten, unklaren Kraft die Richtung gab. Er kannte jede Schwelle auf dieser Station, durch seine Arbeit war sie zusammengehalten worden, nur durch ihn verrichtete sie ihre Funktionen und fügte sich ordnungsmäßig in die endlose Kette ebenso kleiner, einsamer Bahnstationen. Aber auch niemand wußte so gut wie er, daß diese genau ineinandergefügte Maschinerie in einem Augenblick in einen wirren Splitterhaufen verwandelt werden konnte. Und mit stumpfer Erbitterung gegen irgend einen Fernen, lief Anissimow über den Bahnsteig, schwang die rote Mütze, fiel dem Studenten ins Wort, der aus einem Wagenfenster brüllte: »Genossen, hierher! Mit Waggons geht's am besten« – und schrie selber:

»Nicht so, Genossen … Die Waggons müssen quer über die Schienen kommen! … Verbarrikadiert alle Gleise; außer dem Hauptgleise! … Akim, Akim … Her mit dem Kran!«

Er sprang vom Bahnsteig herunter und lief, über die Schienen setzend, zu einem langen grünen Wagen, der vor dem Prellbock stand. Und schon rannten gehorsam die verschiedensten Menschen von allen Seiten hinter ihm her.

Riesige rote, blaue und grüne Waggons bewegten sich langsam, wie von selbst, durch die Menschenhaufen, drehten sich dann langsam um und stürzten plötzlich unter Dröhnen, Kettengerassel und Scheibenklirren auf den Boden. Dumpf ächzte die Erde, und jedesmal schrien ungeordnete Stimmen: »Hurra!«

Herunterhängende Haarbüschel auf der Stirn, Schweißtropfen auf der langen Nase, ohne Aufhören mit der allmählich heiser gewordenen Stimme aufmunternde Zurufe schreiend, lief Anissimow von einer Seite auf die andere, sprang über die Schienen, und seine rote Mütze tauchte an allen Ecken und Enden der Station auf. Er dachte nicht an die nahende Gefahr, an das, was geschehen würde, nachdem er die Barrikaden errichtet hätte. Die Zukunft kam nicht in seine Vorstellung.

Während er sich an der Aufrichtung des Krans, der einen schweren Pullmanwagen umwerfen sollte, zu schaffen machte, versäumte er die Ankunft eines Zuges. Als er sich bei den Hurrarufen umdrehte, sah er schon hinter der schwer atmenden Lokomotive eine lange Wagenreihe halten, aus der nach beiden Seiten schwarze bewaffnete Menschen herausströmten. Die ganze Station wurde von einer riesigen lebhaften Menge überflutet.

In dieser Masse sah Anissimow zum erstenmal Blutflecke auf weißen Verbänden. Mit eigentümlich banger Neugierde blickte er auf dieses Blut; zum erstenmal regte sich Unruhe in ihm. Frau und Kinder kamen ihm in den Sinn; ihm wurde kalt; er empfand plötzlich die Abspannung.

»Herr Vorsteher, Genosse!« schrie ein großer Mann, der sich durch die Menge zu ihm schob: »Man muß auch diesen Schienenstrang verbarrikadieren … Verstehen Sie, damit es eine ununterbrochene Barrikade abgibt … Sonst werden wir die Verwundeten über einen freien Platz nach dem Bahnhof tragen müssen. Nu? …«

»Wird es denn Verwundete geben? …« schwirrte es durch Anissimows Hirn, und für eine Sekunde wurde er ganz wirr.

»Ach … Ja, ja!« antwortete er, sich aufrüttelnd. »Natürlich, das ist notwendig. Ich werde sofort …«

Er nickte mit dem Kopf und lief zur Lokomotive.

»Kommt, was kommt … was sein muß, ist nicht zu vermeiden … Na, sie werden töten … also mußte es sein … ohne Opfer ist nichts möglich … Vielleicht auch töten sie nicht, verwunden nur. Ich werde mein ganzes Leben lang wissen, daß ich meine Sache getan habe! …« Sein ganzer Körper wurde von unbestimmter, konzentrierter Entschlossenheit gepackt.

Von der Plattform der Lokomotive sah sein Bekannter, der Lokomotivführer zu ihm herunter.

»Wir sind nicht bis Moskau durchgekommen …« rief er abgerissen, erschrocken. »Was da passiert … Ein Soldat hat auf unseren Zug geschossen!«

»Nun, nun, macht nichts, Täubchen!« erwiderte Anissimow aufmunternd. »Der hat auch Furcht!« dachte er und fühlte sich selbst dadurch leichter.

»Hören Sie, lassen Sie Ihre Lokomotive auf die Wagen rennen: wir wollen den Weg versperren …«

Als dann die riesige Lokomotive, abgekuppelt, einen Anlauf nahm, dröhnend und pfeifend die trotzig krachenden Wagen über den Haufen rannte, sich bäumte, wankte und in weiße Dampfwolken gehüllt, schwer auf die Seite stürzte, so daß sich auf den gradlinigen Schienensträngen ein hoher rauchender Trümmerhaufen bildete – da trat in Anissimows Brust ein stolzes Gefühl.

»Wollen abwarten, wollen abwarten …« sagte er laut, doch ohne sich an jemanden zu wenden. »Weit kommen sie nicht!«

»Haben Sie eine Waffe?« fragte der Lokomotivführer.

»Nein … Ich kann kaum schießen …« antwortete Anissimow lächelnd. »Schlagt Ihr Euch da nur, ich finde auch so Arbeit …«

»Jawohl, wir werden uns schlagen! …« erwiderte zornig der Lokomotivführer.

»Er kommt, kommt!« riefen aus der Ferne ungeordnete, unruhige Stimmen, und einige Menschen, die einsam auf dem Wasserturm über dem Dache des Bahnhofsgebäudes standen, kamen eilig heruntergelaufen.

»Höchst willkommen …« sagte leise und wütend ein unbekannter Telegraphist neben Anissimow und lief, das Gewehr am Lauf hinter sich herziehend, zur Barrikade.

Die Menge wogte vorwärts und zurück, und zerteilte sich schleunig hinter den Barrikaden. Es wurde plötzlich auffallend still.

In der durchsichtigen Dämmerung schob sich hinter dem Gehölz vorsichtig ein Zug ohne Licht heran. Er war noch fern, klein, sein Aussehen war ungewöhnlich und grauenhaft.

»Sie sind's! …« sagte der Lokomotivführer und duckte sich hinter einen Haufen Holz und Kohlen.

Eine eigentümliche, bange Neugierde bemächtigte sich Anissimows. Unsicher lächelnd, ohne selber zu wissen worüber, kletterte er mit Mühe auf die glitschige Seite eines schiefstehenden Wagens, und, indem er sich an seinen kalten metallnen Rändern festhielt, schob er sich über sie hinaus.

Der schwarze Zug kroch langsam heran; je näher er kam, um so langsamer. Von Zeit zu Zeit machte es den Eindruck, war vielleicht auch so, daß er anhielt, als wenn er nach dem Weg tastete, erst dann kroch er weiter. Auf der Station war es totenstill, als wenn alles verschwunden wäre; doch wenn sich Anissimow umschaute, sah er überall, hinter jedem Zacken der Barrikaden, hinter den Bäumen, hinter dem Gitter des Gärtchens, hinter den Fenstern des Bahnhofes und unter den Wagen schweigsame, geduckte Gestalten.

Der Zug blieb jetzt ganz stehen und stach in seltsamem Schwarz von dem hellen Felde ab. Dort war es ebenso still; als ob sich die Station und der Zug wie zwei Raubtiere ins Auge faßten und aufeinander lauerten. Die Dämmerung verdichtete sich schnell.

Minuten vergingen, die schwere Ungewißheit der Ewigkeit lag in ihnen. Schon rührte sich in Anissimows Hirn der sinnlose Gedanke, daß der Zug leer sei und mitten im Felde verlassen liege; aber gerade da begann es an seinen beiden Seiten von Menschen, die in der Dämmerung kaum zu unterscheiden waren, zu wimmeln.

Dann entwickelten sich lange schwarze Streifen, gerieten in wellenförmige Bewegung und näherten sich langsam. Etwas erzitterte in Anissimows Brust; in seiner Seele entstand ein kompliziertes Gefühl: er hatte noch niemals gesehen, daß sich Menschen in großen Massen ganz regelrecht und wohlüberlegt in eine Schlägerei stürzten, deren Ausgang vielen von ihnen Tod und Leiden bringen würde. Vom Krieg hatte er nur eine sehr undeutliche Vorstellung, ein unbestimmtes Mißtrauen vor ihm, wie wenn seine Greuel in Wirklichkeit nicht existierten, sondern nur übertrieben oder erfunden wären. Immerhin war es leichter, sich einen Krieg vorzustellen! Der schien stets auf irgend einem besonderen, eigens dazu bestimmten Ort, der nichts mit einer Umgebung, wo tagaus tagein Menschen leben, gemein hat, geführt zu werden; dann aber schienen auch die Menschen selbst, die sich im Kriege schlagen, einfach unfähig, Furcht und Leid so stark zu empfinden, wie die umgebenden Arbeiter, Beamten, Studenten, Frauen und Kinder. Anissimow wußte, daß dem nicht so sei; trotzdem kam ihm der Gedanke an eine Schlacht, an Schüsse, Blut, Verwundete und Getöse auf dieser einfachen, öden Station, mit ihren Zäunen, Gärtchen, dem schwarzen Fleck am Haltepunkt der Lokomotiven, gegen eine Masse ebenso einfacher und gewöhnlicher Menschen wie er selbst, grauenhaft und handgreiflich sinnlos vor.

»Was, zum Teufel! … soll es denn wirklich dazu kommen? …« in seinem Kopf kreiste verwirrte Ratlosigkeit.

Die Soldaten kamen näher heran. Die Stille war so unerträglich schwer, daß man nur den einen Wunsch hatte: »es möge schneller beginnen.«

»Es kann nicht möglich sein … es wird nichts …« dachte Anissimow, beugte sich zu dem Lokomotivführer nieder, der zu seinen Füßen kauerte und sagte leise, da er sich aus irgend einem Grunde schämte, laut zu sprechen:

»Ich meine, wenn man mit Ihnen unterhandeln würde …«

Das geschwollene Gesicht des Lokomotivführers starrte ihn von unten völlig verständnislos an. Anissimow sah aufmerksam in seine Augen, die einen wilden Ausdruck angenommen hatten, und wandte dann seinen Blick auf einen nebenan stehenden unbekannten Menschen, dessen höckernasiges, blasses Profil regungslos war, als wäre er hypnotisiert worden – mit einem Male packte ihn solche Furcht, daß seine Hände zu zittern begannen.

Unvermutet knallte irgendwo rechts neben Anissimow ein Schuß und wie auf ein Signal wurden alle Zäune, Gräben, Schwellen und Schutthaufen von kurzen, flimmernden Feuerchen bedeckt, die in der durchsichtigen, frostigen Luft trommelnd zerkrachten.

Anissimow sah deutlich, wie die grauen Reihen in Unordnung gerieten, sich vermengten und wie unter einem Windstoß nachgaben. Er sah, wie sich auf dem leeren Raum einzelne Gestalten krümmten, vernahm einen entfernten Schrei; doch immer noch stand er unter dem Eindruck, daß es nur »so« sei und bald aufhören würde. Aber im nächsten Augenblick umgürteten feurige Muster die ganze graue Soldatenmasse und das trockene Krachen der Salven belebte stürmisch das schweigsame weiße Feld. Kraftvoll schnalzte etwas über die Wagen, jemand schrie erschrocken auf, der hypnotisierte, höckernasige Mensch schoß dicht an Anissimows Ohr mit betäubendem Knall seine Flinte ab. Anissimow wendete sich wieder dem Lokomotivführer zu. Der hockte noch immer auf den Fersen, aber mit ihm ging nichts Gutes vor: seine Flinte lag auf dem Schnee, das Gesicht war erstaunlich weiß, die Augen ungeheuer weit, und doch, als ob sie nichts sähen. Er schwenkte kurz die beiden Arme hoch und stürzte dann langsam rückwärts. Sobald er auf dem Schnee lag, hörte er auf, die Hände zu schwingen; sein mächtiger Körper mit dem in die Höhe ragenden massigen Bauch wurde starr wie ein gefrorenes Stück Schlachtvieh. Wieder schoß der Höckernasige betäubend laut, Anissimow glitt, mit einem Blick auf ihn, leise herunter.

Er zitterte am ganzen Leib und lächelte trübe. Das tote Gesicht des Lokomotivführers sah ihn mit den glanzlosen Augen durchdringend an. Das war der Tod; erst jetzt begriff Anissimow, daß das, woran zu glauben sich sein ganzes Wesen sträubte – geschehen war. »Getötet …« dachte er. »Mein Gott, was ist denn das? …«

Dieser Lokomotivführer hatte eine Frau und vier Kinder, die Anissimow alle kannte. Jeden Tag fuhr er an der Station vorbei, und grüßte ihn. Jetzt lag er wie ein Balken da. Gestorben.

Anissimow trat langsam zurück, wobei er sich Mühe gab, nicht auf die Leiche zu schauen und strengte sich vergeblich an, für seine Empfindungen eine Erklärung zu finden: was mußte es sein – Entsetzen, Wut oder Widerwillen. Er erinnerte sich an das Jahr vorher, als durch dieselbe Station ebensolche Soldaten, ebensolche russischen angehörigen Soldaten in den Krieg geführt wurden. Sie taten ihm aufrichtig leid, er wurde traurig, daß man sie in unbekannte Ferne schleppte; er hatte den starken Wunsch, ihnen irgend eine Annehmlichkeit zu verschaffen, durch irgend etwas wenigstens zu helfen.

Ringsum roch es nach Pulverdampf; die schwarzen Gestalten hinter den Wagen bewegten sich ganz eigentümlich; liefen bald zurück, fielen, richteten sich wieder auf oder kletterten auf die Wagendächer und rollten eilig hinunter, um sich auf den Schienen zu krümmen.

Dann begann sich in der Luft etwas Ungewöhnliches, Ungeheures mit entsetzlichem Krachen zu lösen, als bärste der Himmel selber. Anissimow konnte von der Stelle aus, wohin er zurückgetreten war, sehen, wie für eine Sekunde in der graublauen Dämmerung ein grell glühender Stern auftauchte; nachdem er bereits verschwunden war, schien es, als platze dicht über Anissimows Kopfe ein krachender Donner, sein Brustkasten zitterte, und mit furchtbarer Kraft schlug etwas Unsichtbares, das Schnee, schwarze Splitter, Feuer und Rauch nach oben wirbelte, direkt in den schwarzen Wall der Barrikaden hinein. Schreien und Heulen ertönte; nach allen Seiten stoben die Menschen auseinander.

Der Kampf dauerte eine Viertelstunde, aber Anissimow kam es vor, daß alles in einer Minute zu Ende ging.

Er sah, wie oben auf einer Barrikade schwarze Schatten, die direkt auf ihn schossen, erschienen; vernahm etwas, unheimlich, wütend neben sich im Schnee knirschen; sah Trupps schwarzer Menschen, die längs der Bahnlinie und dem Bahnhofszaun zurückgingen und anscheinend voller Ruhe, ohne jede Eile, auf die Soldaten schossen; sah den zertrampelten, schmutzigen Schnee, der mit verwundeten Menschen, die sich wie Würmer krümmten, bedeckt war; sah wie hinter dem Bahnhof unerwartet ein paar Soldaten hervorsprangen und wie die schwarzen Menschen vereinzelt nach allen Seiten auseinanderrannten.

Die Kanonen verstummten, trotz der Schüsse und Schreie begann es still zu werden. Die grauen Soldaten liefen von der Station ins Feld, holten die einzeln im Schnee versinkenden schwarzen Menschen ein, machten sich hastig an ihnen zu schaffen und liefen weiter. Auf der Stelle blieb nur ein zusammengekrümmter schwarzer Knäuel liegen. Das war so entsetzlich, daß Anissimow eisig kalt wurde; instinktiv, ohne zu überlegen und etwas anderes als unvorstellbaren Schrecken zu empfinden, rannte er aus Leibeskräften längs der Schienen fort.

Vom Wasserturm her kam, seinen Weg kreuzend, ein riesiger Soldat in langem grauen Mantel gelaufen; das Gewehr in einer Hand. Noch einige Schritt voneinander entfernt, sahen sie sich in die Augen und rannten noch schneller. Der Soldat hatte ein junges, schnurrbartloses Gesicht. Er holte Anissimow ein, nahm mit wutverzerrtem Gesicht das Gewehr in beide Hände und stieß mit dem Bajonett nach ihm. Anissimow wand sich wie eine fallende Katze und warf seinen Körper auf die Seite. Der Soldat sprang ihm nach, seine Bewegungen wiederholend, und für eine Sekunde tanzten beide auf dem Fleck hin und her, während sie sich mit glotzenden Augen gegenseitig gerade in die Pupillen starrten. Dann hob der Soldat das lange bajonettierte Gewehr und legte es auf Anissimows Bauch an.

»Ah, halt …« rief Anissimow mit dünner Stimme und brach, die Augen schließend, die Hände vorgestreckt, zusammen.

Er vernahm einen betäubenden Schuß, sah durch die geschlossenen Lider ein momentartiges Aufblitzen und verstand weniger in Gedanken, als mit seinem ganzen Wesen, daß der Soldat fehlgeschossen hatte. Aber in diesem Augenblick sprang jemand hinzu, schlug ihn dumpf, daß in seinen Augen Funken sprühten, über den Kopf, packte ihn am Aermel und fiel, da er nicht so plötzlich im Anlauf halten konnte, über ihm in den nassen Schnee.

»Loslassen!« brüllte Anissimow und schlug, die Zähne zusammenpressend, aus allen Kräften mit dem Ellbogen über ein fremdes Gesicht, in dem eine weiche Nase unter dem Hieb krachte; ganz sinnlose Augen, die er zum ersten Mal im Leben sah, starrten ihn an.


III

Das schwarze Gesicht der Nacht schaute unbestimmbar in die Fenster der Station, die von Kugeln zerschlagen waren und von einer unbekannten Kraft ausgerenkt zu sein schienen. Auf der Station war es still; doch zitterten in dieser Stille noch immer Rufe, Schüsse und Stöhnen. Auf der Nebenbahn standen Waggons in Flammen, unbekannt zu welchem Zwecke angezündet. Und über dem emporwirbelnden, grellroten Schein hing der Himmel tiefschwarz und niedrig. Der Rauch stieg langsam in schweren Ballen hoch; über ihm, in der Finsternis, tanzten die Funken einen graziösen, geheimnisvollen Tanz. Von allen Gegenständen fielen ungleichmäßige, ruhelose Schatten auf den Schnee; selbst die regungslosen Leichen, die man beim Bahnhof in Reihen zusammengetragen hatte, schienen sich behutsam zu bewegen.

Ueberall gingen und standen Soldaten, vom Brande beleuchtet, liefen wieder auseinander, beugten sich zur Erde; Schatten krochen hinter ihnen über den roten Schnee, knickten plötzlich auf den im Feuerschein glitzernden Schienen ein; ab und zu blitzten über ihnen, wie rote Nadeln, die Bajonette auf. Auf dem Bahnsteig standen Offiziere und sprachen halblaut miteinander, sich jede Minute eine Zigarette ansteckend.

In dem Zimmer, in dem man Anissimow eingesperrt hatte, war es kalt und leer. Es wurde nur von Streifen der Brandröte beleuchtet, erhielt aber durch ihr zappelndes, grelles Licht ein phantastisches Aussehen. Die Möbelstücke, die ihm längst bekannt waren, standen zu unbeweglich, wie Grabdenkmäler; die von einer Kugel zerschlagene Lampe baumelte an ihrem Haken wie die Leiche einer ungeheuren Fledermaus von der Decke herab. Die Schatten der Soldaten und Offiziere glitten lautlos und bedächtig über die beleuchtete Wand und krümmten sich in den Ecken.

In der ersten Zeit konnte Anissimow nicht zur Besinnung und zur Ueberlegung seiner Lage kommen. Er atmete schwer, fühlte sich am ganzen Körper gezerrt, schloß und öffnete alle Augenblick die Augen, merkte aber nicht, wo er sich befand. Die ganze rechte Hälfte seines Kopfes schmerzte dumpf und er schüttelte unbewußt den Kopf, um diesen Schmerz loszuwerden. Aber er ließ nicht ab; diese eine Gesichtshälfte war hart wie Stein.

Als man ihn gefangen nahm, leistete er lange Widerstand. Ohne es zu wissen, schlug und biß er wie ein Tier um sich. Er wurde an Haaren, Bart und Händen ergriffen, wand sich aber trotzdem immer wieder heraus; die ganze Zeit über war er sicher, daß nur noch eine Anstrengung genügen würde, um ihn unbedingt freizumachen und zu retten. Sobald er jedoch überwältigt und auf die Beine gestellt war, begriff er augenblicklich, daß der Widerstand zwecklos sei; er wurde still.

»He, du Aas! …« sagte wütend einer der Soldaten und schlug ihm, sich das Blut von der Backe wischend, mit verzerrtem Gesicht noch einmal von unten gegen das Kinn. Anissimow klapperte mit den Zähnen und schlug den Kopf in die Höhe, sah sich aber nur schweigend um.

»Reißt dich doch nicht mehr los!« sagte triumphierend der Soldat.

»Na, scher dich vorwärts, was!« rief ein anderer und stieß ihn gegen die Schultern. Anissimow wurde durch diesen Stoß, den er, ohne sich zu wehren, bekommen hatte, aufgerüttelt. Er drehte sich schnell um, aber ein neuer sicherer Stoß stieß ihn um zwei Schritte vorwärts. Er stemmte mit beiden Füßen dagegen, wurde aber hinten mit den Gewehrkolben geschlagen und vorwärtsgeschoben.

So schleifte man ihn bis nach dem Bahnsteig und stieß ihn zu zwei anderen blutbedeckten und abgerissenen Menschen, die von Soldaten umzingelt waren.

Ein hoher, starkgebauter Offizier mit großem rotblondem Schnurrbart kam auf sie zu; etwa fünf andere Offiziere standen abseits.

»Euer Hochwohlgeboren,« Anredeform der russischen Soldaten zu Offizieren. D. Uebers. sagte der Soldat, aus den Reihen hervortretend, »wie das die Festgenommenen sind, also mit Waffen …«

»Ah so, ja! …« sagte der Offizier gedehnt; in seiner Stimme lag eine eigentümliche Nuance, als freue er sich insgeheim.

»Anatol Petrowitsch!« rief er laut.

Von der Gruppe der Offiziere trennte sich ein Dicker mit kleinem schwarzen Schnurrbart. Während er näher kam, sah ihm Anissimow gerade ins Gesicht. Da der Brand ganz in der Nähe auf der Seite war, schien bei allen die eine Hälfte des Gesichts grell beleuchtet; die andere dagegen verschwand im schwarzen Schatten. Anissimow schaute mit einem Gefühl des Grauens, das ihm selber unbegreiflich war, auf diese halbierten Gesichter, mit den einsam glänzenden Augen; ihm kam es vor, daß das nicht einfache Menschen wären, Soldaten und Offiziere, wie er sie sein Leben lang gesehen hatte, sondern ungewöhnliche, furchtbare Wesen, in denen es nichts Menschliches gab.

Der lange Offizier sagte mit derselben schadenfrohen Stimme zu dem Nähertretenden:

»Hier empfehle Ihnen die Herren Revolutionäre.«

Er änderte plötzlich den Ausdruck und fragte hart und gebieterisch:

»Wer bist du?«

Anissimow wandte sich nach seinem Nachbar um, an den die Frage gerichtet war, und sah denselben höckernasigen, scheinbar hypnotisierten Mann, der neben ihm von der Barrikade aus auf die Soldaten geschossen hatte.

»Ist mit einer Flinte ergriffen worden, Euer Hochwohlgeboren!« meldete einer der Soldaten.

»Ah … erschießen!« meinte deutlich und ruhig der Oberst.

Anissimow verstand das Wort, begriff aber in diesem Augenblick seine furchtbare Bedeutung nicht. Offenbar verstand sie auch der Höckernasige nicht, denn er rührte sich nicht von der Stelle, schrie nicht auf, zeigte durch nichts sein Entsetzen. Zwei Soldaten mit den gleichen dunklen Gesichtern faßten ihn unter die Arme und führten ihn ab. Er wendete noch einmal den Kopf, als wenn er etwas sagen wolle, blieb aber stumm und ebenso regungslos da stehen, wo man ihn, einige Schritte entfernt, hinstellte.

»Wer?« fragte wieder der lange Offizier.

Die Frage galt Anissimow, aber an seiner Stelle antwortete ein kleiner schmächtiger Mensch in zerrissenem, wattiertem Mantel und Schirmmütze.

»Wir sind von der Kostjukowschen Fabrik … Drechsler … Feduljew …« erklärte er eilig, sich ebenso eilig hervorschiebend, ganz in Hast geratend. Sein Unterkiefer bewegte sich eigentümlich.

»Hat auch gefeuert, Euer Hochwohlgeboren …« meldete wieder derselbe Soldat.

Und wieder sprach der Oberst deutlich und kurz dasselbe unbegreifliche Wort aus.

Ein trüber, eigentümlicher Gedanke flimmerte im Hirn Anissimows auf. Sein Gesicht wurde langsam blaß und er machte eine krampfhafte Bewegung nach rückwärts, als wolle er sich in die Reihen der Soldaten eindrücken. Aber sogleich ergriff man ihn von hinten an den Händen.

»Du?« wandte sich der lange Oberst an ihn, als er seine Bewegung bemerkte.

Anissimow schwieg und drückte mit dem Rücken gegen die Hände, die ihn festhielten.

»Na–na–na!« Der Oberst hob spöttisch das Kinn an.

»Das ist doch der Stationsvorsteher …« bemerkte der dicke Leutnant, sein einziges Auge gerade auf Anissimows Gesicht richtend.

»Ja, ich bin der Stationsvorsteher …« antwortete Anissimow so eilig, als hätte ihn jemand von hinten gestoßen und lächelte plötzlich einschmeichelnd, ohne den Blick von diesem einsamen Auge zu lassen.

»Ah! … Se–hr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen!« Der Oberst zog die Oberlippe mit dem roten Schnurrbart an. »Also sind Sie – der Stationsvorsteher? … S–so … Nun, da wird es nicht überflüssig sein, wenn wir uns ausführlicher unterhalten, Herr … gestatten Sie, nach dem werten Namen zu fragen?«

»Anissimow …«, antwortete Anissimow.

»Aha … immerhin se–hr angenehm …« Der Oberst neigte den Kopf zur Seite.

»Bis morgen früh unter Wache!« befahl er plötzlich laut, sich von Anissimow abwendend.

»Euer Wohlgeboren, und was mit mir?« fragte mit unsicherer Stimme der Arbeiter, den Hals vorreckend.

»Mit dir, lieber Freund? Du wirst erschossen werden …« antwortete der Oberst in Absätzen und offenbar den Eindruck seiner Worte auskostend.

»Euer Wohlgeboren!« rief der Arbeiter bebend.

Eine sonderbare, kurze Verwirrung lief bei diesem Aufschrei durch die Menge der Soldaten. Jemand begann neben Anissimows Ohr stärker und gespannt zu atmen.

»Ruhe da!« rief rasch den Kopf anhebend, der dicke Offizier. Augenblicklich erstarb alles.

»Abführen!« befahl der Oberst, energisch in der Richtung des Feldes nickend.

Mit derselben quälenden Neugierde, mit der Anissimow in der Kindheit beobachtet hatte, wie Hühner geschlachtet werden, stemmte er seine Blicke in die beleuchtete Gesichtshälfte des Arbeiters, in dessen Blässe das eine Auge aufgerissen war. Er erwartete, daß dieser Mann sofort hinstürzen, versuchen würde, sich loszureißen, aber der Arbeiter stand schweigend da und zog nur die herabhängende Kinnlade aus und ein; sie zuckte immer stärker. Anissimow schaute unverwandt auf diese Kinnlade, ebenso wie alle anderen, und mit jeder Bewegung derselben wuchs das allgemeine Grauen.

»Und wer bist du?« rief plötzlich der höckernäsige Mensch laut und deutlich aus der Ferne. »Du Hund, du Aas … schlachtest deine Landsleute ab, Halunke … deine Mutter hab ich gehabt …«

»Wa–as! Schweigen!« rief scharf der Oberst, griff krampfhaft nach dem Revolver und machte zwei Schritte auf ihn zu.

»Schweig selber! … Wozu soll ich schweigen, wenn ich in den Tod gehe, Schafskopf! …« brüllte der höckernäsige Mensch. »Krepieren sollst du … Judas, Hund verfluchter! … Du meinst, ich habe Angst vor dir? … Hier, schlag zu! … Schlag selber zu, Aas, schlag zu! …«

Mit leisem Aufschrei griff Anissimow mit beiden Händen nach seinem Gesicht und schloß die Augen.

Hintereinander blitzten zwei Schüsse. Jemand schrie auf, und plötzlich bewegten sich Alle. Dunkle Schatten der Soldaten verdeckten Anissimow mit einem Mal die Stelle, und unter die Arme gefaßt, wurde er rasch weggeschleppt …

All dies stand nun in der trüben Dämmerung des kalten Zimmers vor den Augen Anissimows.

Jetzt begriff er, daß er morgen früh, in einigen Stunden, erschossen würde.


IV

»Morgen werde ich erschossen!« dachte Anissimow, mit scharfen, glänzenden Augen in die kalte Dämmerung schauend. »Morgen werde ich erschossen!«

Das war kein Gedanke, denn es war unmöglich auszudenken, daß nach einigen kurzen Stunden Menschen, die er niemals gesehen hatte, kommen würden, um ihn, den lebenden, leidenden Menschen, wie einen aussätzigen Hund zu töten. Das war nur ein gewisser schwerer, kalter Druck im Gehirn, wie ihn in Einem, der nicht an Uebernatürliches glaubt, eine unerklärliche Gespenstererscheinung hervorrufen muß.

Anissimow bekam manchmal Lust, mit den Schultern zu zucken, dann über diesen komischen Unsinn zu lächeln; statt dessen verzog sich nur sein Gesicht in der Finsternis zu einer krankhaften Grimasse, als nähme es die verzerrte Fratze eines Menschen an, der den Verstand verliert.

Die Schöße des Mantels wie einen Krankenhauskittel zusammenschlagend, ging er mit kurzen, ungleichmäßigen Schritten, mager, lang, wie ein Gespenst durch das Zimmer, umschritt behutsam die Möbelstücke, und bemühte sich aus irgend einem Grunde, nicht zu lärmen. Sonderbar war es, daß diese Behutsamkeit durchaus nicht aus Furcht geschah: er wünschte nur leidenschaftlich, daß ihn niemand störe »darüber« nachzudenken.

Er war überzeugt, daß er nur eins ruhig und sorgsam bis zum Ende durchzudenken brauche, damit sich alles ändere – er wird alles begreifen und alles wird sich sehr einfach und gut aufklären. Und er dachte nach, dachte und dachte … Sein Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an, als überspanne er einen Gedanken; doch er kam zu keinem Schluß. Manchmal tauchte scheinbar der erlösende Gedanke auf, aber auch nur in der Tiefe und undeutlich. Er machte übernatürliche Anstrengungen, um ihn auf die Oberfläche zu bringen und in Worte einzukleiden. Der Gedanke wurde stärker, stieg empor, begann sich zu entwirren und näherte sich seinem Ausdruck. Anissimow fühlte sich leichter, sein Kopf wurde heller, seine Augen verloren den gespannten Zug. Er blieb stehen, um den Kernpunkt zu fassen; begriff ihn auch und sagte in Gedanken, als ob es das wäre, was ihm nottut: »Morgen werde ich erschossen! …« und dann verwirrte sich alles wieder, der Gedanke zerschmolz spurlos im Gehirn, klebriger Schweiß trat auf die Schläfen und Anissimow begann wieder behutsam aus einer Ecke in die andre zu wandern und sein müdes, drängendes Hirn anzustrengen.

Plötzlich trat ihm eine bekannte Stelle hinter der Station vor die Augen, wo neben einem Graben ein Stapel alter, schwarzgewordener Schwellen aufgebaut und der Schnee in abgerundeten, spröden Klumpen noch völlig unberührt lag. Der Stapel Schwellen fehlte schon; man hatte sie auf seine Anweisung zum Barrikadenbau auseinandergetragen, aber diese Stelle kam ihm genau so, wie sie früher war, ins Gedächtnis: der Zaun des Gärtchens, der schwarze Stapel eisbedeckter Schwellen, und weiter – ein weißes freies Feld, von dem aus man die spielzeugartigen roten Häuschen der Station und die über endlose Stahlbänder laufenden, bunten Züge sieht. Und gerade dort, auf dem Schnee, mit dem Kopf an den Schwellen, wird er, Anissimow, liegen, nicht einfach tot, aber »erschossen«. Kopf und Brust werden von Kugeln durchbohrt sein; die blauen Arme werden erstarren, und die Knie gleich scharfen Ecken aus dem Schneehaufen stecken.

Es wird kalt sein; er wird völlig zu Eis, starr wie ein Holzscheit werden, mit gefrorenen, hervorglotzenden Augen; den Mund voll Schnee und Eis. Doch er wird schon nichts mehr empfinden, nichts wahrnehmen und sehen; nicht einmal mehr seine Leiche wird er sehen.

»Das ist das Entsetzlichste … das ist das Entsetzlichste …« dachte er und ein Gram, der die ganze Seele herauszerrte, nagte an seinem Herzen.

Es war ringsum still; – nur das Krachen des brennenden Holzes drang hin und wieder durchs Fenster.

Anissimow lief immer schneller und schneller von einer Ecke in die andere und suchte nach Erinnerungen. Zuerst konnte er nicht darauf kommen, was er eigentlich in die Erinnerung zurückrufen wollte; doch allmählich schloß sich sein ganzes Denken um sein Leben, das augenscheinlich jetzt enden sollte. Ein Zug von Tagen, Jahren, Begegnungen, Handlungen, Stimmungen, Sorgen begann an ihm vorbeizufließen. Sein Leben stand trüb und blaß vor ihm auf, ein eintönig grauer Streifen ohne Anfang und Ende. Manchmal kam es ihm vor, als hätte es schon vor seiner Geburt eingesetzt; alle die Leiden, Demütigungen und Sorgen waren nur eine Fortsetzung unzähliger Leiden, die aus jener Zeit stammten. Als wäre sein Leben eine endlose Straße von Ewigkeit zu Ewigkeit, deren Anfang er unermeßlich fern, ohne es zu wissen, betreten hatte, um sie nach einigen qualerfüllten Augenblicken noch ebenso weit vom Ende entfernt, zu verlassen, wie ein zufälliger Schatten, der gelangweilt über einen Weg gleitet.

Arm ist er zur Welt gekommen, hat seine Kinderzeit im Elend verlebt; er erinnerte sich stets mit trauriger Scheu daran, verwundert, daß Menschen von ihrer Kindheit wie von einem hellen Lebensfeste sprechen konnten. Er war ein abgerissener, schmächtiger und kränklicher Junge mit kaputem Schuhwerk, der typische Briefträgerssohn, dem Mühsale, Krankheiten und Kümmernisse der Eltern einen blassen Siegel aufgedrückt haben. Lernen konnte er nicht viel und er lernte nicht leicht; das, was er gelernt hatte, war der Lebenssaft, den sich Vater und Mutter auspreßten. Man mußte früh ans Verdienen denken; mit fünfzehn Jahren trat er in den Eisenbahndienst, wo er fünfundzwanzig Jahre lang verschiedene Aemter, die aber alle gleich schwer und ermüdend eintönig waren, bekleidete.

Als er nach Jahren das Glück, auf einer kleinen, in der öden Steppe verlorenen Station lebenslänglich vegetieren zu dürfen, erreicht hatte, heiratete er. Aus Liebe heiratete er ein nicht hübsches, dummes Mädchen, hinter dem dasselbe Leben lag, wie hinter ihm.

Aber auch in dieser Liebe regte sich Widerwillen; denn selbst in dem glücklichsten Augenblick ließ sich das Bewußtsein von der Nichtigkeit und Unschönheit der Frau nicht verdunkeln. Doch die Gier, um jeden Preis einen mitfühlenden, nahen Menschen zu haben, vermochte diese Empfindung so zu dämpfen, daß sie in seiner Seele nur als nagende Sehnsucht nach geheimnisvoller und schöner Liebe blieb. Seine Frau alterte schnell und verlor jene gewisse Nettigkeit, die ihr Jugend und Frische verliehen hatte. Sinnlos häufig kamen Kinder. Die Frau wurde zur zanksüchtigen langweiligen Halbgreisin, auf deren Gesicht die elende Maske von Sorge und Neid für immer erstarrte.

Die Kinder wuchsen kränklich und schmächtig heran. Die freudige Steppenluft und die helle Sonne konnten das furchtbare Gift jahrhundertelangen Unterernährens und Hinvegetierens nicht in ihnen ausmerzen. Sie erfreuten die Seele nicht, sondern riefen nur Sorgen, Kummer und Bitterkeit hervor.

Mit Menschen verkehrten Anissimows wenig, weil es Kosten und Demütigungen ihrer Armut wegen zur Folge hatte. Anissimow trank viel, weinte in betrunkenem Zustande über sein Mißgeschick und sehnte sich in trübem Träumen nach einem anderen freien und angenehmen Leben, das wenigstens von einem lichten Strahl erhellt würde.

So ging es stumpf hin, bis das plötzliche Aufleuchten allgemeiner Empörung und Anspannung alles vor ihm wie ein Blitz erhellte und ihn wie ein Blitz zu Boden schlug.

Anissimow blieb plötzlich stehen. In ihm spannte sich etwas bis zum Aeußersten und starb langsam ab. Und mit einem Male verstand er, daß es ihm um sein Leben nicht leid tat.

»Noch einmal solch Leben, dann lieber der Tod … dann hat auch der Tod nichts Schreckliches. Dann ist er notwendig, unumgänglich notwendig, als natürlicher Ausweg … Verflucht soll es sein, solch ein Leben!« dachte er.

Sobald er mit diesem Gedanken zu Ende gekommen war, wurde er ruhig, und sein Gesicht, grau und gemartert, nahm einen ruhigen, entschiedenen Ausdruck an, denselben, mit dem er sich rückhaltlos in den rings um ihn brausenden Kampf gemischt hatte.

Aber tief in seiner Seele nagte noch immer ein dumpfer, kaum wahrnehmbarer Schmerz. Er lauschte unruhig auf ihn und sagte sich:

»Was denn noch … ich bin doch entschlossen? … Ich darf nicht daran denken … Wenn ich denke, so packt mich wieder das Grauen … Lieber nicht denken!«

Aber der Schmerz ließ nicht nach, stieg empor, drang ans Herz; wie eine nagende Maus wurde er kecker und kecker. Anissimow stand auf und schritt eilig durch das Zimmer, indem er sich anstrengte, mit den Schritten das, was unablässig in ihm vorging, zu übertönen. Doch der Schmerz wuchs an und zerfleischte sein Herz; dann brach er plötzlich durch und schlug mit solcher Kraft gegen sein ganzes Empfinden, daß es ihm in den Ohren brauste und die Brust einschnürte.

»Ja, so …« lief sein Denken sprungweise weiter. »Mir tut das Leben nicht leid … lieber der Tod als solch ein Leben … Aber warum grad ein » solches« und kein andres? … Wer wagte mich zu solchem Leben zu verdammen? Und es ist auch nicht wahr – mir tut es um mein Leben leid! Wie es auch sein mochte, es tut mir leid darum! Und wie wagt man es, mich zu töten, weil ich mein ganzes Leben lang litt, weil es mir schlecht ging … Das … das … das ist …« murmelte er, während er mitten im Zimmer stehen blieb, stürzte sich aber plötzlich kopfüber ans Fenster, packte das Fensterkreuz, und begann, die Hände am Glas zerschneidend, daran zu reißen und zu rütteln.

Hinter dem Fenster erlosch allmählich der Brand, und die braune Finsternis trat dichter um das Feuer, in seinem Zimmer aber war es so dunkel, daß es dagegen draußen taghell erschien.

»Was rumorst du da!« schrie mit roher Stimme ein Soldat, während er, das Gewehr im Arm, auf das Fenster zulief. Anissimow hielt an, starr geworden, und klammerte sich an das Fensterkreuz; auch der Soldat blieb stehen. Aus der Finsternis hob sich das blasse Gesicht Anissimows mit den geweiteten Augen und Büscheln verwirrter Haare; auf ihn blickte der schwarze Umriß eines unbekannten, runden, schnauzbärtigen Kopfes. Gegen eine Minute schauten sie sich gegenseitig ratlos an, und genau so wie bei jenem Soldaten, der ihn gefangen nahm, wußten beide nicht, was zu tun sei. Endlich schien Anissimow zur Besinnung zu kommen; er riß wieder am Fensterkreuz und rief ungestüm:

»Laß mich!«

»Ist nicht erlaubt!« schrie in ebenso ungestümem, unnatürlichem Ton der Soldat.

»Schwindel! … laß mich! … Ruft den Obersten hierher …«

»Was für einen Obersten brauchst du! … Zurück! …«

Ihre unnatürlich lauten Stimmen überraschten sie beide; für eine Sekunde entstand wieder Schweigen und Regungslosigkeit, und von neuem richtete sich etwas zwischen ihnen auf. Es war ein Augenblick gespannter Stille; es schien, daß sich sofort etwas Besonderes ereignen müsse. Doch in diesem Moment ertönten nahende Stimmen und Schritte. Wie zur Antwort darauf begann Anissimow wieder schweigend und trotzig am Fensterkreuz zu reißen. Klirrend fielen ein paar Scherben herunter. Der Soldat machte einen Schritt vorwärts und stieß Anissimow aus aller Kraft, ebenso schweigend und trotzig, mit dem Kolben in die knochige Brust.

Eine heiße Welle stieg Anissimow in die Kehle; er drehte sich um, schlug die Hände auseinander und, ohne etwas zu sehen, setzte er sich schwer auf den Fußboden.

»Was ist hier los, Jefimow?« fragte jemand hinter dem Fenster.

»So, daß der Gefangene zum Fenster hinaus wollte …« antwortete der Soldat.

Mehrere schwarze Köpfe guckten in das Zimmer herein und starrten lange unbeweglich in die Finsternis. Es war still. Anissimow kam alles wie ein Fiebertraum vor; er drehte plötzlich seinen Kopf herum und sah drei schwarze Schatten im Fenster. Gleich darauf waren sie verschwunden, und dieselbe Stimme sagte laut und zornig:

»Wenn er es zu toll treibt, so schieß ihm 'ne Kugel vor den Kopf. Sehr einfach!«

Die Stimmen verstummten.

Anissimow erhob sich, schaute mit wahnsinnigen Augen auf das Fenster und kroch beiseite. Er war über die letzten Worte ungeheuer verblüfft.

»Sehr einfach!«

Dann verstand er, daß es wirklich so wäre: sehr einfach.

Es waren einige Minuten Leere und tote Bewußtlosigkeit; dann trat es greller und klarer in sein Gehirn.

»Ich werde erschossen werden … was ich auch tun würde, wie ich auch flehen oder mich vor Furcht zusammenkrümmen wollte, so wie jener Arbeiter … ich werde zum Schwellenstapel geführt, sie werden auf mich anlegen, so ruhig, als wenn ich es nicht sehe und nicht schon vor Schreck sterbe …«

Hinter dem Fenster begann es schon grämlich zu grauen, als wäre es ein Tagesanbruch im Herbst. Das berührte ihn eigentümlich. Im Zimmer wurde alles sichtbar; das blasse Licht legte sich matt auf die Wände, den Boden und auf seine blaß schimmernden Hände. Eine Sekunde lang glaubte er, alles sei zu Ende, und er wäre neu erwacht, aber mit schrecklicher Geschwindigkeit, wie von weither, kam es herangeflogen: das Bewußtsein der unabwendbaren Wirklichkeit, der Wunsch, daß alles schneller geschähe, das folternde Nichtbegreifen, das scharfe Verlangen, irgend etwas so schnell wie möglich zu überlegen und sich klar zu machen … Rasch, im Flug, mit den Worten: »das nicht … das nicht …« einzelne Worte beiseite werfend, erinnerte er sich an den getöteten Lokomotivführer, an andre noch, die von den Barrikaden herabrollten und sich auf dem blutbesudelten Schnee krümmten, dann des Arbeiters, dann des schwarzen höckernasigen Mannes und der zwei Schüsse, die von einem leichten Aufschrei begleitet wurden, dann sah er plötzlich einen schwarzen Haufen eisbedeckter Schwellen und eckige Knie, seine Knie, die aus einem Schneehügel ragten. »Aber warum denn alles das? …«

Es wurde ihm lächerlich. Er lachte wirklich still und krampfhaft auf, verstummte aber gleich wieder. Der kurze, zittrige Schall seines Lachens war zu schweigend-laut und seltsam in dem leeren blassen Nebel des Tagesgrauens …

»Nein, lieber nicht denken! …« dachte er erschöpft … Ihm wurde kalt, er wünschte zu essen … Da fielen ihm zum ersten Mal Frau und Kinder ein, und er wunderte sich, daß er bisher noch gar nicht an sie gedacht hatte. Es kam ihm vor, als wäre es das, was er sich vor allem klarmachen müßte.

»Schneller denken … schneller denken …« trieb er sich zur Eile an, sich unruhig umsehend. Ohne daß er sich dessen bewußt wurde, peinigte es ihn, daß der Himmel im Fenster immer heller und heller glänzte.

»Muß an die Frau schreiben …« kam es ihm in den Kopf.

Das Tintenfaß stand auf dem Tisch; die Tinte hatte eine leichte Eisschicht. Anissimow hauchte sorgsam darauf, durchbrach die Kruste mit der Feder und brachte das Tintenfaß ans Fenster.

Auf das Fensterbrett fiel bereits graues, kaltes Licht, von dem sein Gesicht mit den herumsteckenden Haarbüscheln und den schwarzen Schatten auf den Backenknochen und unter den Augen als ein ebenso grauer und kalter Fleck abstach. Es wurde ihm schwer zu schreiben; die Feder entglitt zweimal seinen erstarrten Fingern, was in ihm ein tiefes stechendes Mitleidsgefühl mit sich selbst hervorrief.

Zuerst schien ihm, daß er sich beeilen müsse, da man ihn stören könnte, während er viel zu schreiben hatte. Manchmal warf er einen scharfen raschen Blick aus dem Fenster, wo unbeweglich, mit dem Rücken dagegen, der lange graue Soldat auf die Flinte gelehnt stand. Auf den grauen Rücken seines Mantels fiel bereits helles graues Morgenlicht.

»Liebe Ssascha,« schrieb Anissimow, trotz der Helle die Buchstaben nur mit Mühe erkennend; nun wußte er nicht, was er weiter schreiben solle. Es war ihm unmöglich, einen Ausdruck zu finden, denn er mußte sowohl das Freudegefühl ausdrücken, mit dem er diese zehn Tage durchlebt hatte und das blutige Chaos, und den Tod vieler Menschen, und das Grauen seiner einsamen letzten Nacht und das Sinnlose, Wahnsinnige, das sich mit ihm ereignen sollte, und den Haufen schwarzer Schwellen, und die erstarrten Knie, die aus dem Schnee ragen, und daß er niemals mehr sie und die Kinder sehen wird, und seine Hilflosigkeit, und sein Mitleid mit sich selbst, und jenen Kummer, in dem er sie liebkosen und trösten möchte, jene Tränen, die seine Augen erfüllten, über die Backen, die kalten und abgemagerten, hinunterrollten, und auf den Fetzen seines letzten Briefes tropften.

Es war unmöglich, und der Schrecken über diese Unmöglichkeit bekümmerte ihn unsäglich.

»Herr, Herr … Herr! … Warum quält man mich so! … Nun, warum? …« flüsterte er, packte sich an den zerzausten Haaren und weinte. Er weinte lange, während seine Augen durch die Fenster, in den ferne weißen teilnahmslosen Himmel schauten.

Dann schrieb er weiter: »Lebewohl, Schurotschka. Wie die erste Anrede Ssascha Diminutiv von Alexandra. D. Uebers. Wie werdet Ihr nur ohne mich leben? Ich weiß nicht, ob man dir meinen Brief aushändigen wird. Ich will darum bitten. Lebewohl! Du sollst nicht weinen, Schurotschka, was ist zu tun! Vergiß mich nicht und sag den Kindern, sie sollen sich an mich erinnern. Ich kann nicht mehr schreiben. Nochmals, Lebewohl!«

Ein unbestimmter dichter Nebel senkte sich auf sein Gehirn herab; er mußte schreckliche Anstrengungen machen, um nicht die Besinnung zu verlieren.

Einige Menschen kamen mit den Waffen klirrend, aufs Fenster zu. Dann gingen sie fort und der neue Wachposten schritt mit dem Gewehrkolben klappernd, zweimal am Fenster vorbei, wobei er Anissimow von der Seite, wie verstohlen, anblickte.

Anissimow trat in die Tiefe des Zimmers zurück, versteckte den Brief auf der Brust, legte sich auf das Sofa mit dem Gesicht gegen die Wand und drückte den Fetzen Papier fest an die Brust. Ihm schien, daß ihn dieser Brief noch auf irgend eine Weise mit dem Leben verbände, mit dem, was morgen, übermorgen, weiterhin sein würde – nachdem er nicht mehr sein wird, – mit Frau und Kindern, mit denen, die mit ihm das ganze Leben gelebt hatten und die jetzt der leere, kalte Strich für immer von ihm trennte.

Er preßte den Brief noch fester an die Brust und weinte lautlose, von niemandem gesehene Tränen. Seine Pulse flogen, sein Kopf schwindelte leise; ein grauer Dunst stieg vom Boden auf und hüllte seinen Kopf ein. Und den Fetzen Papier an die Brust gedrückt, war er mit tränendem Gesicht eingeschlafen. Der blasse Tag trat behutsam ins Zimmer und schaute auf das blasse Gesicht, das im Laufe einer Nacht bis auf die Knochen abgemagert und auf dem ein bemitleidenswert trauriger Zug erstarrt war.


V

Um acht Uhr früh wurde er erschossen.

Seine letzten Traumvisionen verflochten sich blitzschnell mit der Wirklichkeit: er träumte, daß er auf dem Bauch durch einen entsetzlich engen unterirdischen Gang kriecht, und daß der Korridor immer enger und das Kriechen immer schwieriger und schwieriger wird. Und doch kriecht er weiter, weil er weiß, daß es unmöglich ist, nicht zu kriechen? Hinter ihm bei jedem Schritt fällt die Erde ab; er fühlt, wie sich dort eine dumpfe Mauer bildet. Das Atmen wird ihm schwer; er will aufschreien, um das unerträgliche Entsetzen durch diesen Schrei zu verscheuchen, als er plötzlich vor sich, nur einen Ssashen entfernt, einen abgeplatteten grauen Kopf mit regungslosen, grünlichen Augenritzen erblickt, dahinter einen langen schlüpfrigen Körper, auf dem sich ein matter unterirdischer Glanz spiegelt.

»Das ist eine Klapperschlange!« schreit ihm jemand voll Grauen in die Ohren; seine Haare fangen an, sich leise auf seinem Kopfe zu sträuben. Krampfhaft weicht er zurück. Aber hinter ihm steht die undurchdringliche Mauer. Er stößt entsetzt an sie an, wühlt sie mit den Füßen auf, kratzt, schlägt gegen sie. Trotzdem sie mürbe und widerstandslos ist, bleibt sie unüberwindlich. Er versucht mit aller Kraft, sich einzugraben, nichts zu sehen, schließt die Augen, hört aber doch schon das leichte, unerklärliche Zischen und sieht deutlich durch die geschlossenen Lider, daß der abgeplattete Kopf mit den grünlichen Augen nicht mehr regungslos aufliegt, sondern langsam zu ihm über die Erde gleitet. In furchtbarer Verzweiflung öffnete er die Augen …

Vor ihm steht ein hochgewachsener hagerer Offizier in grauem Mantel und sagt, ihm gerade in die Augen sehend: »Nun, stehen Sie auf … Herr A…nissimow. Bitte!«

Anissimow hob sich rasch auf einen Ellenbogen und starrte dem Offizier ins Gesicht. Dann geriet er plötzlich in Hast und sprang mit geschäftsmäßiger und ernster Haltung auf.

»Ist denn schon Zeit?« fragte er eilig.

Der Offizier lächelte ein wenig.

»Tja …«

Anissimow hastete noch mehr, um seine Mütze zu suchen. Sie war nicht auf dem Diwan, nicht auf dem Tisch. Er suchte sinnlos, eilig, überall; es war ihm eigentümlich peinlich, daß er andere warten lassen mußte. Seine Hände zitterten, seine Augen liefen unruhig hin und her.

»Nun, sind Sie bald fertig?« fragte barsch der Offizier.

»Sofort … nur die Mütze …«

»Ist gleich, geht auch ohne Mütze!« meinte der Offizier ungeduldig.

Anissimow sah ihm wieder rasch in die Augen und senkte den Blick.

»Allerdings, ganz gleich …« sagte er hastig wie vor sich hin nach der Seite. Es entstand ein kurzes Schweigen; plötzlich zitterten deutlich die Lippen des Offiziers.

Anissimow begegnete einem eigentümlichen, einem ratlosen Blicke. Aber ebenso jäh war das Gesicht des Offiziers wieder verändert.

»Nun!« rief er kurz, überaus grob, mit dem Kopf heftig nach der Tür weisend.

Anissimow fuhr krampfhaft zusammen und machte, ohne den Offizier anzublicken, einen Schritt vorwärts.

Als er auf den Bahnsteig herausgeführt wurde und ein Häuflein Offiziere und Soldaten ihn schweigend ins Auge faßten, schauerte er wieder zusammen und machte eine schmerzliche Grimasse. Er hatte ein krankes, gemartertes Aussehen, seine Haare stachen nach allen Richtungen.

Derselbe Offizier, der ihn geholt hatte, kommandierte etwas, und aus den Reihen der Soldaten traten zwölf Mann vor und stellten sich hinter Anissimow auf. Da lächelte Anissimow ratlos, ließ den Blick über alles gleiten und sagte heiser und undeutlich:

»Herr Offizier …«

Der Offizier sah sich langsam um:

»Was ist los?«

»Ich weiß nicht …« sagte Anissimow mit Anstrengung immer gleich leidvoll und verlegen lächelnd: »Vielleicht wäre es doch möglich, einen Brief …«

Einer der nebenstehenden Offiziere, ein dicker, schwarzbärtiger, antwortete ärgerlich:

»Jetzt noch … aber wirklich … wann soll denn …«

»Er ist schon geschrieben …«

»Ah … Also was denn?«

»Wäre es nicht möglich, ihn an seine Adresse … abzuschicken?«

»Abschicken? … Ja … Iwanow, nimm ihn …« sagte barsch der dicke Offizier und sein kurzer Hals wurde blutunterlaufen.

Aus den Reihen trat ein pockennarbiger weißbärtiger Gefreiter. Anissimow steckte die Hand in die Brust und zog den Brief schmutzig und zerknüllt, hervor.

»Bitte …« sagte er leise.

Und als er abgeführt wurde, sah er lange und traurig auf diesen weißen Fetzen Papier, den der Gefreite Iwanow sorgfältig in den Aermel-Aufschlag seines grauen Mantels schob.

Er wurde nach einem kleinen Kirchhof gebracht, der eine halbe Werst entfernt von der Station lag. Dort war es leer und still; die Grufthügelchen leuchteten weiß, die krummen, schiefgewordenen Kreuze sahen geschwärzt aus.

Sie hatten nicht lange zu gehen. Anissimow ging so unterwürfig, als würde er von jemandem, der stärker als er ist, am Ellenbogen gehalten und geführt. Seine Augen drehten sich nach allen Seiten und nahmen von jeder Kleinigkeit Notiz; in seinem Kopfe hielt sich der eigentümliche Gedanke, daß all das gar nicht schrecklich und schmerzlich, sondern geradezu einfach und leicht enden würde, wenn er nur in jedem Teilchen jedes Augenblicks die Willenskraft und das volle Bewußtsein über sich behielte.

»Sie werden schießen und mich töten … weiter nichts. Was ist dabei so Schreckliches? Alles ist sehr einfach und gewöhnlich« …

Doch es quälte ihn, daß es ihm in keiner Weise gelingen wollte, alles zu sehen und wahrzunehmen. Jede Einzelheit: den rötlichen Stiefel des Soldaten, der voranging, die Bläue über dem schneeigen Horizont, Sperlinge, die vom Weg aufflogen und sich auf einem ins Schwanken geratenden schwarzen Busch niedersetzten, das weiße Licht, das Knirschen des Schnees unter den Fußen – alles schnitt deutlich in die Augen, ergab aber kein ganzes Bild, nichts; im Gehirn blieb eine Leere, als wäre bereits irgend ein besonders wichtiges Mittelglied verloren gegangen, ohne das alles andere unbedeutend, und leblos war … Er senkte den Kopf und begann auf die Füße, auf die Spuren der Gummischuhe des Offiziers zu schauen, und blickte so aufmerksam darauf hin, als hinge alles davon ab. Den Kopf hob er erst wieder, als er allein gelassen wurde.

Um ihn war es leer und kalt. Die Reihe grauer Soldaten, Offiziere und die direkt auf ihn gerichteten Gewehrläufe konnten dieser Leere und Kälte nichts hinzufügen.

Anissimow sah die Soldaten an. Alle blickten über die langen Läufe fort gerade auf ihn; plötzlich sah er nichts mehr, als diese Reihe buntfarbiger, erschrockener und unbegreiflicher Augen. Alles andere war verschwunden, und in dem knappen Moment zwischen Kommando und Salve dachte Anissimow mit blitzartiger Deutlichkeit und Klarheit:

»Sie brauchten mich nicht zu töten und ich brauchte nicht zu sterben … Allen ist es gleich schrecklich, daß ich sofort erschossen werden soll, aber ich werde doch erschossen … Das geschieht nur, weil ich nicht das eine Wort weiß, mit dem ich ihnen das ganze Entsetzen und die Qual dessen zeigen könnte …«

Tausende feurige Worte durchfurchten sein Gehirn; in furchtbarer Anstrengung, um nur etwas zu sagen, schob er sich vorwärts und öffnete krampfhaft den Mund.

Er sah noch das aufblitzende blasse Feuer, hörte aber die Salve nicht mehr und fühlte nur, wie er die Arme hoch schlug und mit dem Gesicht gegen den harten Schnee prallte; er verstand auch noch, daß alles zu Ende und etwas nie wieder Gutzumachendes geschehen sei.

Das Knattern der Gewehrschüsse flog wie Trommelwirbel weit ins Feld. Die dünnen Birkenbäumchen zitterten, eine Krähe, die auf einem Kreuze saß, flog auf und strich, mit den schwarzen Flügeln schlagend, niedrig über die Schneefläche.

Das Blut wurde rasch von dem weißen Schnee aufgesogen und zerrann zu einem formlosen rosigen Fleck. Die Soldaten beschmutzten sich an diesem Blut, als sie die Leiche zum Graben schleppten und dort begruben.

Der Blutfleck wurde mit Schnee beworfen; er sickerte wieder durch. Der lange Winter überschüttete ihn von neuem mit Schnee, doch als im Frühling der Schnee schmolz, erschien der braun gewordene Fleck für kurze Zeit und verlor sich erst zugleich mit dem letzten Schnee unter den freudigen Strahlen der hellen Sonne, um in die mürbe lebende Erde einzudringen.



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