Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Griechenland

» Die Einzuweihenden sollen nicht etwas lernen, sondern an sich erfahren (erleiden) und in eine Stimmung gebracht werden, nachdem sie dafür empfänglich geworden sind

Aristoteles

 

Das Zeitalter des Homers

Es gelang Emil Forrer 1926, eine hethitische Korrespondenz auf Tontafeln, die der Assyriologe Hugo Winkler aus Kleinasien mitgebracht hatte, nach unendlichen Mühen zu entziffern. Danach schlossen die Hethiterkönige im vierzehnten Jahrhundert vor Christus nicht nur mit den zwei bekannten asiatischen Großmächten von damals, Babylonien und Ägypten, Verträge ab, sondern auch mit dem König von Achijava, das ist Griechenland. Es muß also damals ein großes Reich gewesen sein, das sich in Asien ausbreitete, mit dem die Hethiter wie mit Babylonien und Ägypten als gleichberechtigt Verträge abschlossen. Was schon die Ausgrabungen von Evans auf Kreta und die von Mykene nahelegten, würden Forrers Entzifferungen zum ersten Male schriftlich bestätigen. Dem Zeitalter Homers, bis vor kurzem noch das letzte, bis zu dem wir in die Vergangenheit Griechenlands vordringen konnten, müssen Zeiten eines Großgriechenlands vorausgegangen sein, dessen Verbindung mit Asien dann enger war, als bisher meist angenommen wurde. Damit wird die geistige Leistung, das Weltbild, durch das sich das aristokratisch-ritterliche Zeitalter Homers vom asiatischen Weltbild abhebt, noch größer und interessanter. Das Weltbild der dorischen kleinasiatischen Griechen, wie es in Ilias und Odyssee vorherrscht, wir könnten es auch das Weltbild der damaligen Auslandsgriechen nennen, welche vermutlich die sogenannte dorische Wanderung von dem griechischen Festland abgedrängt hatte, zeigt nämlich zum ersten Male in der Geschichte der alten Welt den Verstand als geistige Vormacht, wobei das Priestertum keine entscheidende Rolle mehr spielt. Der apollinische Mensch tritt an die Stelle des magischen als Vorläufer des rationalistischen.

Nichts charakterisiert diese Wandlung besser als die Auffassung der homerischen Zeit über Unsterblichkeit und Seele. Schon der einzige griechische Name für sie ist bedeutungsvoll: Psyche, das heißt Hauch. Der Mensch stirbt, wenn er den letzten Atem verhaucht hat. Dieser Hauch, der mit dem letzten Atemzug oder durch die tödliche Wunde den Körper verläßt, ist kein Nichts, wie der Rationalist annimmt, sondern ein Luftwesen, immer noch ein Abbild des Menschen, sein Eidolon, aber ein dem Auge unsichtbares, das höchstens noch im Traum bis zu seinem endgültigen Verschwinden im Hades sichtbar werden kann. Als der tote Patroklus dem Achill im Traum erscheint, der Träumende verlangend die Arme nach dem geliebten Freund ausstreckt, die Psyche des Patroklus aber wie dampfender Rauch in die Erde hellschwirrend hinabsank, sagt der wachgewordene Achill bestürzt die Hände zusammenschlagend: »O ihr Götter, so bleibt denn wirklich noch in des Hades Behausung eine Psyche, ein Abbild des Menschen. Doch es fehlt ihm das Zwerchfell.« Das ist bei Homer häufiger für den Begriff des Wollens und Denkens gesetzt, weshalb es Voß nicht ohne weiteres verständlich verdeutscht: allein ihr (Psyche) fehlt die Besinnung. Und weshalb erscheint die Psyche des Patroklus Achill im Traum? Um ihn zu mahnen, seine Leiche endlich zu bestatten, damit seine Psyche in den Hades eingehen kann, um dessen Eingang sie noch unstet umherschweift, weil andere Seelen sie zurückscheuchen und nicht über den Strom lassen wollen. Wenn die Seele den Acheron erst überschritten hat, kommt sie nie mehr zurück, versichert Patroklus dem Achill. Irgendeine Wirkung der Seele im Reich des Sichtbaren, auf der Erde, gibt es dann nicht mehr. Damit ist eine völlige Scheidung zwischen Diesseits und Jenseits (Hades, Unterwelt) eingetreten. Diese Auffassung ist nicht nur von der ägyptischen grundverschieden, sondern unterscheidet sich auch von der babylonischen dadurch, daß die abgeschiedene Seele, befindet sie sich erst einmal im Hades, keinerlei Beziehung zur Erde mehr hat. Sie kann die Lebenden nicht mehr schrecken, bezaubern, krank machen, quälen oder gar das Reich der Dämonen auf Erden vermehren. Eine ganz offensichtliche Wandlung zum Rationalistischen hin. Die Psyche ist zwar nach homerischer Auffassung noch kein Nichts, aber für die Lebenden bedeutet sie nichts mehr, sie ist so gut wie ein Nichts. Am bezeichnendsten dafür ist wohl die Stellung der homerischen Gedichte zur Blutrache. Die Verwandten eines Ermordeten hatten die Pflicht zur Blutrache, weshalb der Mörder in der Regel in ein fremdes Land floh. Aber die Verwandten können bei Homer auch durch eine Buße des Mörders an sie auf ihre Pflicht verzichten, und der Mörder bleibt daheim. Die Blutrache wandelt sich zu einem Handel zwischen den Lebenden. Das ist nur möglich, wenn die Seele des Ermordeten, durch ihren Eingang in den Hades wehrlos geworden, nur noch ein machtloser Schatten ist. In Ilias und Odyssee finden wir kaum noch Gespensterfurcht und Totenkult, nachdem der Tote erst verbrannt ist. Die Leiche wird ja nicht mehr vergraben, sondern verbrannt. Schneller als Feuer kann nichts den Leib, das Urbild, von dem die Seele nur noch ein hauchartiges Abbild ist, vernichten. Ist der Tote mit seinen liebsten Besitztümern verbrannt, hält nichts mehr die Seele am Diesseits, entschwindet sie ihm auf immer. Nicht einmal im Traum erscheint sie dann noch den homerischen Helden. Von hier ist es nicht mehr allzuweit bis zu der Anschauung, bei der von der Unsterblichkeit nur noch der Nachruhm übrigbleibt. Die Kräfte des Denkens und Wollens, kurz des Bewußtseins, gehören nach dieser Anschauung ja dem Leibe zu. Hat die Seele ihn verlassen, fehlt ihr Wollen und Denken. Nur ausnahmsweise kann eine Psyche im Hades durch besondere Göttermacht noch Bewußtsein haben. So Tiresias durch die Gnade der Persephone. So Tityos, Tantalos und Sisyphos, die drei den Göttern besonders verhaßten, zur besonderen Strafe. Die große Masse der Toten im Hades ist bewußtlos. Selbst Patroklus und Hektor können nur prophezeien im Augenblick der Loslösung der Psyche vom Leib, bevor dieser verbrannt und damit die Seele für immer entschwunden ist. Bei der Hadesfahrt des Odysseus, die uns noch beschäftigen wird, nahen alle Seelen zunächst bewußtlos außer der des Elpenor, weil dessen Leib noch nicht verbrannt ist. Als die Seele seiner Mutter Antikleia Odysseus nach dem Genuß des Opferblutes erkannt hatte, sprach sie zu ihm:

»Dies ist das Los des Menschen, wenn sie gestorben.
Denn nicht Fleisch und Gebein wird mehr durch Nerven verbunden;
Sondern die große Gewalt der brennenden Flamme verzehret
Alles, sobald der Geist (das Leben) die weißen Gebeine verlassen.
Und die Seele entflieht wie im Traum zu den Schatten der Tiefe.«

(Voß).

Damit hat der homerische Mensch die Angst magischer Zeiten vor der Macht des Verstorbenen auf die noch Lebenden verloren. Gewiß eine große Erleichterung für die Lebenden. Das Reich der Dämonen war leerer und weniger gefährlich geworden. Deshalb hatte man es eilig mit dem Verbrennen. Zugleich erwies man ja auch dem Toten damit eine letzte Wohltat, denn so wurde seiner Psyche der Eingang zum Hades (griechisch Aides = das Unsichtbare) um keinen Augenblick unnütz verzögert, sondern möglichst beschleunigt Dann hatten die Lebenden Ruhe vor den Toten. Auf Erden haben nur noch die Götter, keinerlei Geister mehr, Gewalt. Auch in der Nacht nicht. Die Götter aber wohnen auf heiterer Berghöhe, »und hell läuft drüber der Glanz hin«. Gewiß, sie waren launisch, diese Olympier, wie nur je eine Aristokratie, die auf das gemeine Volk herabsah. Hermann Grimm hat das in seinem Buch über die Ilias einmal so ausgedrückt: »Lesen wir von dem ruhigen, sittlich gehaltenen Betragen des Bürgerstandes im 18. Jahrhundert, das in Frankreich, England und Deutschland die gleichen Symptome gewissenhafter Daseinsführung zeigt, und vergleichen wir das Draufloswirtschaften des damaligen Adels, der sich über den Bürgern erhielt und in der Tat fast als eine höherstehende Rasse galt, so haben wir den Unterschied, dessen Homer sich bedient, um seine Götter als eine mächtige Gesellschaft über den Sterblichen darzustellen ... Die böse Laune erlaubt alles, die gute verpflichtet zu nichts.« Das Verhältnis der Götter zu den Sterblichen entsprach ungefähr dem damals jedermann geläufigen Verhältnis der Herren zu ihren Sklaven. Es war für gewöhnlich weniger schrecklich, als es uns heute erscheint, denn Willkür und Laune fand meist ihre Grenzen an den Interessen, die dem Herrn und seinen Sklaven gemeinsam waren. Unter den Willen der Götter sich beugen, war der Kern homerischer Frömmigkeit. Sie sich mit allen Mitteln günstig stimmen, erleichterte von Fall zu Fall das Verhältnis, denn zum ersten Mal in der Geschichte vermag man den Göttern soweit mit Psychologie beizukommen, als es ihre übermenschliche Macht irgend zuläßt, wobei gegebenenfalls immer noch die Macht des einen gegen den anderen ausgespielt werden kann. Damit konnte sich ein heroisches Geschlecht wie das Homers um so leichter zufriedengeben, als der Verstand die früher so unheimliche, ungreifbare Macht der Dämonen und der Verstorbenen aus seinem Weltbild immer mehr ausstieß und die Götter gleichzeitig immer mehr rational vermenschlicht wurden.

War der Tote verbrannt und seine Überreste in einer Urne oder Kiste beigesetzt, so gab es für ihn zwar noch Pietätsgefühle der nächsten Angehörigen von mehr oder minder langer Dauer, aber keinen Seelenkult mehr. Die Urne wird in einem Hügel geborgen, die Asche des Patroklus, des Achill, des Ajas bleibt in der Fremde. Agamemnon kommt gar nicht auf den Gedanken, daß seines Bruders Menelaus Grab, wenn er vor Troja sterbe, woanders als vor Troja sein könne. Die homerischen Helden denken gar nicht daran, die Urnen mit den Überresten ihrer Großen etwa in die Heimat mitzunehmen. Damit ist jeder dauernde Seelenkult ausgeschlossen, der ja nur in der Heimat, nicht im fremden, feindlichen Land, gepflegt werden kann.

Die Angst vor den Toten, die im Weltbild der Babylonier noch eine so große Rolle spielt, ist bei den Griechen Homers wie alles Irrationale zurückgedrängt, ja teilweise ganz verschwunden, nicht aber die Angst vor dem Tod. Als Odysseus den toten Achill damit zu trösten sucht, ihn solle der Tod nicht reuen, weil er jetzt ja mächtig unter den Toten herrsche, antwortet dieser mit Worten, die bis auf diesen Tag gleich berühmt geblieben sind, weil in ihnen alles gesagt ist, was der ehrliche Rationalist dazu sagen kann:

»Preise mir jetzt nicht tröstend den Tod, ruhmvoller Odysseus.
Lieber möcht ich fürwahr dem unbegüterten Landmann,
Der nur kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld baun,
Als die ganze Schar vermoderter Toten beherrschen.«

(Voß).

Der Tote, nicht der Tod, hat an Schrecken verloren. (Sokrates ist eine einzige, philosophisch-heroische Ausnahme.) Bei den ritterlichen Männern Homers legt sich eine heldische Schwermut über den Tod als passives, unvermeidbares Verhängnis, das mit möglichster Fassung getragen werden muß. Immerhin vergleicht schon Homer das Menschengeschlecht mit dem Laub der Bäume, das eben noch wuchs und grünte und jetzt schon dürr und welk vom Herbstwind umhergetrieben wird. Ja, aus tiefem Pessimismus nennt er einmal den Menschen das unglücklichste Geschöpf auf Erden. Aber als das homerische Herrenzeitalter zu Ende ging, als nach Homer Hesiod auftritt als jüngerer Dichtgenosse, von dem Herodot sagt, er habe zusammen mit Homer den Griechen ihre Lehre von den Göttern geschaffen, stoßen wir schon auf den Ausspruch, es sei das beste für den Menschen, gar nicht geboren zu werden oder, wenn er geboren sei, baldmöglichst zu sterben. Pindar weiß für die Allgemeinheit keinen besseren Trost, als daß der Widerhall des Ruhmes, den der lebende Sohn erwirbt, im Hades dem Vater bekannt wird. Für Äschylus und Sophokles ist das Grab die einzig sichere Zuflucht vor allem Leid und aller Mühsal des Lebens, der Tod der einzige Freund, der dem Unglücklichen in der Nacht der Verzweiflung die Hand reicht. Bei Euripides aber kann es schon heißen, daß es immer noch besser sei, schlecht zu leben als gut zu sterben. Aristophanes verhöhnt in den »Fröschen« den Hades und nennt den Gang der Seele zu ihm eine »Fahrt nach der Eselsschnur«. Und der athenische Sophist und Dramenschreiber Kritias sagt schon wie ein waschechter Marxist von heute, der Glaube an Götter sei nur ein betrügerischer Kniff der herrschenden Klasse, um mit Hilfe der Religion die Masse des Volkes ihrem Willen gefügig zu machen. »Was der Mensch ißt und trinkt, ist der einzige Gewinn seines Lebens.«

Im Zeitalter Homers konnte noch ein großer Mensch durch Hilfe der Götter unsterblich und zu ihnen entrückt, ein Heros, werden. Aber es war eine Ausnahme so gut wie das Schicksal des Tiresias einerseits und der Tityos, Tantalos und Sisyphos andererseits. In griechischen Spätzeiten, bei wachsendem Rationalismus, wurde bald jeder Tote ein Heros, so wie bei uns jeder Tote »selig« ist. Damals kam unter Griechen das Sprichwort auf: »Gehe nach Theben und hänge dich auf, damit du ein Heros wirst.« Je mehr aber die Rationalisierung und Spott und Hohn gegen andere Weltanschauungen groß wurde, um so mehr wuchs die Angst vor dem Tod und der Aberglaube. Am krassesten im römischen Imperium. Wenn Cicero nicht ohne Stolz sagen kann, daß es zu seiner Zeit in Rom kein noch so beschränktes altes Weib gäbe, das noch an den Hades und seine Schrecken glaube, und Lucian spottet, vor lauter Genuß bliebe kein Raum für den Gedanken an Charon (den Fährmann über den Acheron), so wissen wir durch Plutarch, wie die damalige Gesellschaft sich in Angst vor dem Tod wand. Dabei nahm der Aberglaube zeitweise fürchterliche Formen an. Namentlich wenn einzelne Etrusker zu Einfluß kamen. Man schlachtete Kinder, um Geisterbeschwörungen wirksamer zu gestalten. Man war zuzeiten in Worten sehr human, stürzte sich aber im Amphitheater auf die tödlich verwundeten Gladiatoren, um ihr noch warmes Blut gierig zu trinken, wie Plinius berichtet, weil man Menschenblut übernatürliche Kraft zuschrieb. Kurz, wir beobachten, wie das apollinische Weltbild, immer mehr losgelöst vom magischen, zwar im homerischen Zeitalter, auch noch im Zeitalter der großem Dramatiker (Äschylus, Sophokles) und ihrer großen Künstler sowie im Bereich ihrer ersten großen Philosophen, die Ionier waren, herrliche Blüten des Geistes trieb, aber es war nur eine an Zahl kleine Elite der damaligen Menschheit, nicht ohne Einfluß auf die Gesamtbevölkerung, aber doch nicht von solchem Einfluß, daß sie auch nur die Mehrzahl der Griechen zu sich hätte emporziehen können. Winkelmann und Schiller sahen nur diese Höhen, und wir wissen längst, wie falsch sie um dessentwillen das Griechentum als Ganzes sahen und werteten. Geradeso falsch, wie wenn wir heute nach Schiller und Winkelmann, Kant und Herder, nach den Klassikern des Idealismus das geistige oder gar seelische Niveau der Hauptmasse ihrer Zeitgenossen beurteilen wollten. Sie haben sie beeinflußt, aber gewiß nicht zu ihrer Höhe gehoben. Und daß Goethe sie heute alle weit überragt, was in den Augen der Zeitgenossen durchaus nicht in dem Maße der Fall war, wie wir zuweilen annehmen, hängt sicher gerade damit zusammen, daß er im Grunde recht abseits von ihnen stand und im tiefsten aus anderen Quellen lebte als sie. Er sah die »triste, atheistische Halbmacht der mechanisierten Weltvertölpelung« kommen. Er sagt: »Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, sind glänzend, herzerhebend für Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen hingegen, in welchen der Unglaube, in welcher Form es auch sei, einen kümmerlichen Sieg behauptet, und wenn sie auch einen Augenblick mit einem Scheinglanze strahlen sollten, verschwinden vor der Nachwelt, weil sich niemand gern mit der Erkenntnis des Unfruchtbaren abquälen mag.« Er versteht unter »Glauben« natürlich nichts Dogmatisches. Ein »dämonischer« Mensch, wie keiner der anderen; mehr an sich, weniger an seine Zeit gebunden. Wie es in griechischer Zeit etwa Platon war. Beide mehr als Edelerzeugnisse des apollinischen, eines fest und sicher umreißbaren Weltbildes.

Dabei wächst die Bewunderung des Weltbildes homerischer Helden nur, wenn wir auch bei ihnen noch deutlich die Spuren des Kampfes mit dem magischen Weltbild finden, das sich trotzdem wieder erhob. Wie wir ja auch den Idealismus unserer kurzen »klassischen« Zeit nicht zum wenigsten deshalb bewundern, weil er deutliche Spuren vom Kampf gegen den Vulgärrationalismus trägt, der im 19. Jahrhundert trotzdem siegreich blieb. Bei Homer zeigen das besonders deutlich die Hadesfahrt des Odysseus und die Feierlichkeiten vor und bei der Verbrennung des Patroklus. Bei der Hadesfahrt geht es um eine regelrechte Totenbeschwörung, die zwar ausgezeichnet zur Totenbeschwörung im Gilgameschepos paßt, von der schon gesprochen wurde, aber durchaus nicht zu dem sonstigen Weltbild homerischer Helden. Das magische Weltbild ist hier noch durchaus lebendig. Es ist, wie heute allgemein zugegeben wird, auch in Griechenland das ältere, aus dem sich das eigentlich homerische erst mühsam emporringt, während man früher gern das eigentlich homerische Weltbild als das älteste ansah, und deshalb diese Hadesfahrt wie erst recht die Schilderung im letzten Gesang der Odyssee, wo Hermes die Seelen der erschlagenen Freier wie einen schwirrend flatternden Zug, ähnlich dem der Fledermäuse, zum Hades führt, als spätere Einschiebsel betrachtete.

Auf Geheiß der Kirke fährt Odysseus zum Hades, um nach all seinen Irrfahrten Tiresias über seine endliche Heimkehr zu befragen. Zu Schiff fährt er über den Ozean zum Volk der Kimmerier, das nie die Sonne sieht, und gelangt zum Hain der Persephone aus Schwarzpappeln und Weiden. Er dringt mit zwei Gefährten bis zum Eingang des Erebos, wo er eine Opfergrube gräbt. Er gießt einen Weihegruß für alle Toten aus, zuerst eine Mischung von Milch und Honig, dann Wein und Wasser, worauf weißes Mehl gestreut wird. Dann schlachtet Odysseus einen Widder und ein schwarzes Mutterschaf, deren Blut in die Grube geleitet wird. Die Leiber der Tiere werden verbrannt. Er setzt sich an die Grube und wehrt die Seelen, die sich aus der Unterwelt herandrängen, mit dem Schwert ab, bis Tiresias getrunken hat, um ihm weissagen zu können. Eisen und Erz verjagt die Gespenster, weshalb man Ringe aus Eisen trug. Tiresias besitzt zwar dank der Gnade Persephones im Unterschied zu den meisten Seelen der Verstorbenen Bewußtsein wie sonst nur ein Lebender, aber um weissagen zu können, muß er Blut trinken. Wie die anderen Seelen Blut trinken müssen, um sprechen zu können, also vorübergehend das Bewußtsein wiederzuerlangen. Es handelt sich um ein regelrechtes Totenopfer zum Zweck einer Totenbeschwörung nach uraltem Ritus magischer Zeiten. Die Witterung von Blut zieht die Seelen an, die dann mit Blut gesättigt werden. Die Sättigung ist ja der ursprüngliche Zweck jedes Totenopfers. Ja, Odysseus gelobt sogar vor der Opferung noch ausdrücklich allen Toten, wenn er erst wieder daheim in Ithaka sei, ihnen eine unfruchtbare Kuh zu opfern, ihnen »Gutes« auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen, und dem Tiresias noch besonders das Opfer eines schwarzen Widders. Das alles hat doch nur Sinn, wenn die Seelen noch nicht für ewig im Hades gebannt sind, sondern sogar noch von einem Opfer im fernen Ithaka etwas haben können. Hier durchbricht deutlich die alte magische Anschauung, nach welcher die Seele dahin zurückkehren kann, wohin sie es durch Opfer zieht, die eigentlich homerisch -apollinisch-rationale.

Ähnlich bei der Leiche des Patroklus. Als Hektor erschlagen ist, stimmt Achill mit seinen Myrmidonen die Totenklage an, legt dem Toten die Hände auf die Brust und ruft: »Gruß dir, Patroklus, noch an des Hades Wohnung.« Was Achill dem Freund gelobt hat, ist vollbracht. Das Totenmahl wird nach Ablegen der Waffen gerüstet, Stiere, Schafe, Ziegen, Schweine werden geschlachtet, »und rings strömte, mit Bechern zu schöpfen, das Blut um den Leichnam«. Am nächsten Morgen zieht das bewaffnete Myrmidonenheer aus, die Leiche Patroklus in seiner Mitte. Es streut sein abgeschnittenes Haupthaar auf den Toten, und Achill gibt es dem toten Freund in die Hand. Da auch er nicht nach Hause zurückkehren wird, soll Patroklus das Haupthaar mitnehmen, das Achills Vater einst dem Flußgott Spercheios gelobt hatte. Das Haaropfer ist an die Stelle des alten Menschenopfers getreten. Der Scheiterhaufen wird errichtet, Schafe und Rinder geschlachtet, mit deren Fett der Tote umhüllt wird. Die geschlachteten Tiere und Krüge mit Honig und Öl werden um die Leiche gelegt. Vier Pferde, zwei Hunde des Patroklus werden geschlachtet. Zuletzt zwölf von Achill zu diesem Zweck lebendig gefangene trojanische Jünglinge. Das alles wird dann mit dem Leichnam verbrannt. Die ganze Nacht gießt Achill dunklen Wein auf die Erde, um die Seele des Patroklus herbeizurufen. Am Morgen wird das Feuer mit Wein gelöscht, die Gebeine des Patroklus in einen goldenen Krug gelegt und im Hügel beigesetzt. Da haben wir das Totenopfer für eine fürstliche Person nach altem, magischem Ritus, durch das die Psyche des Toten gelabt und erquickt und wohl auch besänftigt wird, um fernerhin keinen Schaden anzurichten. Sogar zwölf Feinde werden hier noch als Opfermahl für Patroklus geschlachtet. Das alles setzt voraus, daß die Psyche noch in nächster Nähe sich aufhält, wie Achill sie ja auch in der ganzen Nacht noch wiederholt anruft, während der Leib auf dem Scheiterhaufen brennt. Die Seele ist also nicht schon auf der Wanderung zum fernen Hades begriffen, geschweige denn schon in sein Haus eingegangen. Der ganze Ritus dieses Totenopfers stammt aus magischer Zeit und flammt hier bei Homer zu Ehren eines Fürsten noch einmal auf. Wie die Wettspiele, die sich der Beerdigung dann anschließen und bei Homer immer Leichenspiele waren, also zum Totenkult gehörten, in späteren Zeiten aber bei wachsender »Aufklärung« vom Totenkult, der bei zunehmender Ratio an Bedeutung immer mehr einbüßte, losgelöst und mit jedem Heroen- und Götterfest verbunden wurden, so verschwanden auch Menschen- und Tieropfer. Heute opfern wir am Grab unserer Toten nur noch Blumen. Die Blumenspenden auf Särgen und Gräbern können sehr wohl als ein letztes, wenn auch nicht mehr bewußtes Totenopfer angesehen werden. Wie auch die späteren Griechen bei ihren Wettspielen und erst recht die Römer bei ihren Zirkusspielen an die ursprüngliche Bedeutung als Leichenspiele kaum noch dachten. Wie innig dieser Zusammenhang aber trotzdem durch Brauch und Sitte blieb, wenn auch nicht mehr rein verstandesmäßig als solcher erkannt, das hat zuerst uns mit tiefstem Verständnis der deshalb viel verspottete und angegriffene große Baseler Gelehrte Bachofen in seiner immer wieder lesenswerten »Gräbersymbolik der Alten« dargestellt.

Bei Homer sehen wir also den Griechen zum erstenmal nach großen, gewiß lang dauernden Anstrengungen als den mit aller Kraft des Geistes vom magischen Weltbild sich möglichst loslösenden apollinischen Menschen, in aller Pracht seines ersten, lichten Glanzes, dem heller Verstand noch große Kraft bildsichtiger Phantasie beigesellt, die darum noch aus dem Vollen zu schöpfen vermag – ein goldenes Zeitalter der in erster Blüte stehenden Ratio. Die uns immer wie der überwältigende schöpferische Fülle dieses Zeitalters, wie sie sich in Dicht-, Bau- und Bildhauerkunst und in der ältesten griechischen Philosophie auswirkte, nahm einen Teil ihrer Nahrung aber immer noch aus magischem Erdreich. Die mykenischen Ausgrabungen beweisen das. Vor allem gefundene Münzen, auf denen sich noch Dämonen und Götter mit Tierköpfen oder -gliedern dargestellt finden. Homer nennt Athene helläugig, eigentlich eulenäugig, ohne noch daran zu denken, daß der Ausdruck daher kommt, daß Athene einst mit einem Eulenkopf vorgestellt wurde. Und wenn in der Odyssee Athene als Schwalbe dem Mord der Freier zuschaut oder Apollo als Geier den Kampf beobachtet, so weist das noch deutlich auf eine Zeit zurück, wo ähnlich wie bei den Ägyptern Götter in Tiergestalt verehrt und dann wohl auch mit Tierkopf bildlich dargestellt wurden. Man betrachte ferner das auf der folgenden Seite im Durchschnitt und im Grundriß (rechts daneben) wiedergegebene Grab aus Mykene, fälschlich als »Schatzhaus des Atreus« bekannt geworden.

Ein Gang führt in einen runden Raum mit Kuppeldach für die Familienmitglieder, die hier ihre Opfer darbrachten. Aus diesem Raum gelangt man durch die Tür in die eigentliche Grabkammer (siehe Grundriß), wo die Toten begraben wurden, also noch nicht verbrannt oder gar die Asche beigesetzt wurde. Auf der Burg von Mykene aber hat sich gar ein Erdgrab gefunden, nach dessen Zuschüttung auf ihm ein Opferaltar errichtet wurde. In der Mitte dieses Altars führt eine Röhre bis zu dem im Grab ruhenden Toten, durch welche Trankopfer oder das Blut der Opfertiere direkt zu ihm gelangen konnten. Wir erkennen hier eine ältere Vorstellung vom Tod und von der Seele. Die homerische hat sich von ihr schon weit entfernt, denn die Mykenekultur ist die ältere. Auch erinnert die Anlage des dargestellten Grabes von Mykene doch nicht wenig an ägyptische Grabanlagen, ohne daß deshalb die eine von der anderen irgendwie abhängig sein müßte. Sie können sehr wohl aus einer verwandten Anschauung über den Toten und das Leben nach dem Tod entstanden sein.

.

Das magische Weltbild in seinen letzten Auswirkungen bestand aber bei den Griechen nicht nur vor ihrem homerischen Zeitalter, sondern auch neben und nach ihm. Die tausend Jahre nach Homer zeigen uns zwei Weltbilder immer wieder in Rivalität miteinander, bis der wachsende Rationalismus das ältere von beiden so verwässert und entstellt an das römische Weltreich abgab, daß es für die neue Zeit Europas in dieser Form überhaupt nicht mehr zu gebrauchen war. Aus dem apollinischen Menschen wurde der rationalistische in dem uns heute geläufigen Sinn. Aus dem entstellten, verderbten, mechanisierten, magischen Weltbild wurde, gereinigt und geläutert, erst in der christlichen Ära das mystische, das aber nie herrschend wurde wie einst das magische und dann das rationalistische. Wie das Stirnauge längst verschwunden war und von ihm, durch das Gehirn von außen nach innen verdrängt, nur als Rudiment der Zirbeldrüse übrigblieb, so wandelte sich, gleichnisweise geredet, die schon mythisch gewordene Natursichtigkeit zu einer nur noch rudimentären Seelensichtigkeit, die wir Mystik zu nennen gewohnt sind.

Doch hier beschäftigt uns ja nur der Kampf des absterbenden Magischen mit dem erstarkenden Apollinischen und damit nach Homer Delphi und Eleusis, von denen auch Homer oft genug spricht, ohne daß aber diese beiden griechischen Orte und ihre Kulte für seine Helden je die Bedeutung gehabt hätten, welche sie für das griechische Binnenland erlangten.


 << zurück weiter >>