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Die »Nona«

Ernesto Garcia Ladevese

 

Der junge Graf von Trimonti traf gestern unerwartet in seiner Villa in San Remo ein.

Er war nicht mehr dagewesen seit dem letzten Frühjahr, als er in Begleitung seiner Gattin, einer venetianischen Schönheit mit blauen Augen und rotem Haar, hier geweilt und sein junges Glück in vollen Zügen genossen hatte.

Diesmal aber kam der Graf allein und war traurig und niedergeschlagen.

Man wußte wohl, daß es zwischen dem Grafen und der Gräfin von Trimonti zu Mißhelligkeiten und Zwistigkeiten gekommen war, die eine Trennung der beiden Gatten zur Folge gehabt: sie war mit ihrer Schwester nach Nizza gegangen und er nach Paris, wo er seine Einsamkeit zu vergessen suchte.

So war denn auch niemand überrascht, ihn allein zu sehen.

Am Tage nach seiner Ankunft in San Remo ließ der Graf den Doktor Bonfanti kommen. Er fühlte sich nicht wohl, und obgleich er dies nur den Strapazen der Reise zuschrieb, wünschte er doch den Rat des berühmten Arztes einzuholen, den er von früher her kannte, und zu dem er ein unbegrenztes Vertrauen besaß.

Gleich nach der Begrüßung untersuchte der Doktor den Grafen aufs sorgfältigste und blickte dann, ohne ein Wort zu sprechen, gleichsam, als handle es sich um einen sehr ernsten Fall, nachdenklich vor sich hin.

»Was ist's, Doktor?« fragte der Patient nach einer Weile, sichtlich beunruhigt.

Ohne einen Augenblick zu zögern, erwiderte der Doktor:

»Der Anfang der Nona!«

»Der Nona?« murmelte Graf Trimonti, aufs höchste überrascht.

»Ja, mein lieber Graf, ich habe in meinem Beruf manche schmerzliche Pflicht zu erfüllen, und es ist mir unmöglich, mich dem zu entziehen, so schwer es mir oft auch fallen möge, sobald sich die ersten Symptome dieser Krankheit zeigen, ist der Arzt verpflichtet, den Patienten auf die Gefahr aufmerksam zu machen, damit er alle nötigen Dispositionen treffen kann. In solchen Augenblicken zeigt sich die kalte, nüchterne Wirklichkeit mit drohendem Ernst. Ich darf Ihnen nicht verschweigen, daß die Nona in den meisten Fällen tödlich verläuft. Der Name der Krankheit stammt daher, daß sie fast immer um die neunte stunde ausbricht.«

»Was sagen Sie da?« rief der Graf beunruhigt aus.

Und Doktor Bonfanti blickte auf seine Uhr und sagte langsam:

»Leider, leider fehlt nicht mehr viel bis zum Anbruch der verhängnisvollen Stunde.«

»Aber Doktor, so sagen Sie mir doch, wie bin ich denn in diese furchtbare Gefahr geraten?«

»Nur Mut, mein lieber Graf, nicht verzweifeln! Sie sind ein kluger, energischer Mann. Wenn ich mich nicht täusche, haben Sie das Glück kennen gelernt, und das können nicht alle Menschen, die ihrer letzten Stunde entgegensehen, von sich sagen.«

»Ja, ich bin glücklich gewesen, aber mein Glück war nur von kurzer Dauer,« stotterte der junge Graf.

»Haben Sie noch einen Wunsch, den ich Ihnen erfüllen könnte? Haben Sie mir irgend etwas anzuvertrauen? Viel Zeit haben wir nicht mehr zu verlieren ...«

»Aber Doktor, gibt es denn gar kein Mittel gegen diese fürchterliche Nona?«

»Keines. Wenn sie sich einstellt, kann nur ein Wunder retten.«

Entmutigt ließ der Graf den Kopf auf die Brust sinken.

»Wünschen sie, daß ich irgend jemanden von den Ihrigen benachrichtige? haben Sie keinen Abschied zu nehmen?« fragte ihn der Doktor in sichtlicher Erregung.

Zögernd antwortete darauf der Graf:

»Doch ja, ich möchte Abschied nehmen.«

»Von wem?«

»Von der Gräfin. Ist noch Zeit genug, um sie aus Nizza kommen zu lassen?«

»Wenn wir sie sofort per Telegramm herbeirufen, kann sie den Kurierzug noch erreichen,« erwiderte der Doktor.

Es wurde also an die Gräfin telegraphiert, und während Graf Trimonti in der fürchterlichsten Angst die Stunden und Minuten verlebte, erzählte er dem Doktor, wie glücklich er mit der Gräfin gewesen, der einzigen Frau, die er jemals geliebt, wie seine Trennung durch nichtige Dinge herbeigeführt, durch Eifersuchtsszenen, gekränkten Stolz und allerhand anderes, dessen er sich nicht einmal mehr recht entsinne, und wie bitter er es nun bereue, so lange schon fern von der Frau gelebt zu haben, an deren Seite er so glücklich gewesen.

»Ach!« rief er tief aufseufzend aus, »der Mensch sollte doch niemals vergessen, daß eine Zeit kommen kann – und meist dann, wenn er sie am allerwenigsten erwartet –, da er sich einsam und verlassen fühlt und ein geliebtes Wesen zärtlich ans Herz drücken möchte.«

Die neunte Stunde rückte stets näher, und noch immer war der Schnellzug aus Nizza nicht eingetroffen.

Der Doktor tröstete den Grafen und gab ihm die Versicherung, daß die Gräfin vor der verhängnisvollen Stunde bei ihm sein würde.

Es fehlten kaum noch zwanzig Minuten, und noch immer war der Zug, der mit Verspätung eintraf, nicht in den Bahnhof von San Remo eingelaufen.

Schon hatte der Graf, der fieberhaft erregt war, die Hoffnung aufgegeben, seine Gattin noch einmal zu sehen, als der schrille Pfiff der Lokomotive ertönte.

Von den Flügeln der Liebe getragen, eilte die Gräfin in die Villa, wo der Graf sie sehnsüchtig erwartete, und umarmte ihn stürmisch:

»O, welch ein Glück, welch ein Glück!« rief Graf Trimonti leidenschaftlich aus. »Uns bleiben nur noch fünf Minuten!«

»Nein, viel mehr noch als fünf Minuten!« rief der Arzt, seine Uhr hervorziehend, freudig aus. »Meine Uhr zeigt schon einige Minuten nach neun; sie geht ganz richtig, und die Gefahr ist also vorüber, denn ich habe Ihnen ja gesagt: um neun Uhr.«

»O, wie schön, wie herrlich!« murmelte die Gräfin und blickte den Doktor an. »Ist das wirklich wahr?«

»Ist es auch sicher, ganz sicher?« fragte der Graf hastig. »Und wie haben Sie mich gerettet? Sagen Sie mir das doch schnell!«

Und Doktor Bonfanti antwortete triumphierend:

»Es war nichts zu fürchten, mein lieber Graf; ich kenne die Nona sehr wohl, ... denn ich selber habe sie erfunden!«


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