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Spanische Novellen
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Der Schutzengel

Pedro A. de Alarcon

1833-1891

I.

»Am 1. Mai kommen die Schwalben,« so sagt man in Spanien, so lange die Welt besteht. Aber was bisher noch niemand gesagt hat und was ich aus voller Überzeugung bestätigen kann, ist, daß die Schwalben noch niemals an einem schöneren Tage ihre Nester wieder aufgesucht haben, als am 1. Mai des Jahres 1814.

Das tiefblaue, friedliche Meer erschien wie der Anfang der Ewigkeit und des Unendlichen. Lächelnd empfingen Felder und Wiesen den zärtlichen Kuß der Sonne und dankten ihr durch herrliches Blühen und das Verheißen kommender Früchte. Die ganze Atmosphäre hauchte Liebe und Leben, und ein sanfter Zephyr trug den Duft des Frühlings mit sich.

Aber dieses herrliche Frühlingsweben war nicht das einzige an diesem unvergeßlichen Tage. Auch den Städter erfüllten beim Gedanken an die Wiederkehr der Zugvögel und den Beginn des Blumenmonats große, erhabene, patriotische Empfindungen, die ihm von Auferstehung und neuer Blüte sprachen. Seit kaum vierzehn Tagen herrschte nach sechsjährigem, wütendem Kampfe Frieden in Spanien. Der Freiheitskrieg, dessen Helden unsere Väter waren, hatte sein Ende erreicht. Napoleons Generäle waren mit ihren Truppen geflohen, um dem Beherrscher so vieler Nationen zu sagen, daß es ein Wahnsinn sei, an die Eroberung Spaniens zu denken. Schon gab es auf der ganzen Halbinsel nicht einen einzigen fremden Soldaten mehr. Unser armes, erschöpftes Vaterland ruhte aus wie ein Genesender, der nach langem Leiden zum erstenmal wieder das Bett verläßt. Ein melancholischer und doch erhabener Augenblick! Von neuem riefen die Glocken der halbverbrannten und zerstörten Kirchen zum Gebet, von neuem stiegen friedliche Rauchwolken in die ruhig-heitere Atmosphäre empor, und der Sang fröhlicher Stimmen klang zum Himmel. Der erschöpfte Bürger warf die Waffen fort und kehrte zu seiner Arbeit zurück, Trost suchend für den Kummer um verlorene Lieben, in dem Gedanken, sich den eigenen Boden erhalten zu haben. Von St. Sebastian bis nach Cadiz, von der Coronna bis Gerona herrschte sanfte Trauer, tiefer Friede. Ringsum hörte man von den Heldentaten dieser oder jener Provinz, dieser oder jener Stadt, dieses oder jenes Fleckens, von den Bestrebungen, das fremde Joch abzustreifen; ringsum schickte man fromme Dankgebete gen Himmel, gedachte man voller Pietät der Verstorbenen; ringsum begann man Häuser und Städte wieder aufzubauen, in der frohen Hoffnung, glücklichere Tage darin zu verleben, als die heroischen Märtyrer des Vaterlandes.

II.

An jenem Tage traten ein hübscher Bursche und ein schönes Mädchen in einfacher, aber geschmackvoller Kleidung aus der Kirche von St. Domingo in Tarragona, wo sie soeben getraut worden waren.

Der Priester, der ihnen den Segen erteilt hatte, begleitete sie und schritt so froh und glücklich zwischen den beiden einher, als ob sie ihm ihr Glück zu danken hätten.

Und sie verdankten ihm wahrlich viel. Klara und Manuel, so hießen die jungen Leute, hatten beide ihre Angehörigen am 28. Juni 1811 verloren, an jenem Tage, da der General Suchet Tarragona im Sturm genommen hatte. Beim Ausgang des 1813er Feldzuges zog er durch dieselbe Stadt und nahm von ihren Befestigungen und einigen Häusern Besitz. Eines derselben, sowie das ganze Vermögen Manuels, der sich damals mit Klara und deren Mutter auf der Flucht befand, wurde zu jener Zeit vom Erzähler dieser Geschichte verwaltet. In diesen Tagen war mehr als die Hälfte der Bewohner von Tarragona umgekommen, so daß der arme Verwaiste, der zurückgekehrt war, um sein Haus und seine Güter zu suchen und sie den armen unglücklichen Frauen anzubieten, nicht genügend legitimiert werden konnte, um sein Recht auf die Erbschaft seiner Väter geltend zu machen.

In der zerstörten Stadt erschien damals jener ehrbare Priester, mit dem wir Manuel hier wiederfinden, und den er seit seiner Geburt kannte, denn er war seit vielen Jahren Priester dieser Gemeinde, hatte Manuel getauft und ihm den ersten Unterricht erteilt. Dank seiner glaubwürdigen Aussage wurde der Jüngling, welcher beinahe zum Bettler geworden wäre, am nächsten Tage ein reicher Mann.

Wenige Wochen später vollzog sich seine Ehe mit Klara.

III.

»Wohin wollt ihr, Kinder? Sagt mir, um was es sich handelt,« sagte der Priester an der Kirchentür.

»Wir haben Ihnen ein Geheimnis mitzuteilen,« sagte Klara niedergeschlagen.

»Ein Geheimnis – mir? ... Warum habt ihr es mir denn nicht heute morgen gebeichtet?«

»Aber, Herr Pfarrer,« entgegnete Manuel tiefernst, »unser Geheimnis ist keine Sünde.«

»So, so, das ist etwas anderes.«

»Wenigstens ist unsere Sünde ...« stammelte die Neuvermählte.

»Laßt mich hören. Was gibt es?«

»Sprich du,« sagte Klara zu ihrem Gatten.

Dieser beschränkte sich darauf, hinzuzufügen:

»Ach nein, kommen Sie nur, wir wollen bei diesem herrlichen Wetter einen Spaziergang machen, und an dem Ort selbst werde ich Ihnen erzählen, was sich zugetragen hat.«

»An welchem Ort?«

»Kommen Sie nur,« sagte Klara, ihn am Arm fortziehend.

Der Pfarrer beeilte sich, dem Wunsche der beiden zu entsprechen, und so wanderten sie zusammen zu den Toren der Stadt hinaus.

Nachdem sie einige tausend Schritt zurückgelegt und an die Ufer des Francoli gelangt waren, blieb Manuel stehen und sagte:

»Hier war es!«

»Nein, nein,« erwiderte Klara, »noch weiter.«

»Ja, wirklich, es war in jener Bucht, wo jetzt eine Frau zusammengekauert sitzt.«

»O still, jene Frau ist meine Mutter.«

»Wie, deine Mutter?«

»Gewiß ... es ist kein Zweifel! Sie ging auch heute wieder morgens aus dem Hause, ohne zu erlauben, daß man sie begleite, und seht nur, wie weit es mit der Armen gekommen ist. ... Sie wundern sich wohl nicht darüber, Herr Pfarrer, denn Sie wissen, daß die Unglückliche wahnsinnig ist. In jener entsetzlichen Nacht hat sie ihren Verstand verloren.«

Inzwischen hatten sich die drei Personen jener Frau genähert, welche am Ufer des Flusses hockte, die Augen starr auf das Wasser gerichtet.

Sie war eine ehrwürdige Matrone mit ernsten, abgehärmten Zügen, schwarzen Augen und weißem, wallendem Haar, eine echte Katalonierin.

»Was für ein schöner Tag, Mutter,« sagte Klara, sie umarmend.

»O Kind, was für eine entsetzliche Nacht,« antwortete die arme Wahnsinnige.

»Und nun hören Sie, Herr Pfarrer, wie sich alles zugetragen hat,« sagte Manuel, wahrend er sich mit dem Geistlichen von den beiden Frauen entfernte.

IV.

»Hier,« fuhr Manuel fort, während er auf den Fluß zeigte, »in diesen Wellen, welche seit fünf Jahren so viel Blut hinweggespült haben, ruht ein fünfzehn Monate altes Opfer der spanischen Unabhängigkeit ... dem diese beiden Herzen, welche Sie für immer vereint haben, Leben und Glück verdanken. Von Klaras Mutter spreche ich dabei nicht, trotzdem auch sie diesem heiligen Kinde ihr Leben verdankt, – denn es wäre besser gewesen, sie wäre mit ihm umgekommen. Und nun hören Sie, wie sich das Unglück zugetragen.

Sie werden sich darüber wundern, heiliger Vater, wie ein unschuldiges Geschöpf von fünfzehn Monaten einer ganzen Familie eine solche Wohltat erweisen konnte.«

Bei diesen Worten zeigte Manuel dem Pfarrer die rechte, durch eine große und tiefe Wunde entstellte Hand.

»Mit fünfzehn Monaten, ja! er starb mit fünfzehn Monaten, und dennoch war sein Leben nicht unnütz!

Sie wissen, Herr Pfarrer, was für ein trauriger Tag der 28. Juni 1811 für Tarragona war, trotzdem Sie selbst Gefangener waren und das Elend in der Stadt nicht sahen. Sie sahen nicht, wie fünftausend Spanier in zehn Stunden starben, wie Häuser und Kirchen in Flammen aufgingen, wie schwache und hilflose Frauen gemordet und ehrbare Jungfrauen und Nonnen geschändet wurden! Sie sahen nicht, wie Raub und Trunkenheit, Leidenschaft und Gemetzel aufeinander folgten. Sie sahen nicht eine der größten Heldentaten des Welteroberers, des Halbgottes Napoleon!

Ich sah das alles! Ich sah, wie diese Totkranken sich von ihrem Sterbelager erhoben und das Leichentuch mit dem Säbel vertauschten, um von der Hand fremder Krieger zu fallen. Ich sah in dieser nämlichen Straße ein geköpftes Weib, den Säugling noch an der Brust, und laut weinende Kinder die umher irrten. O, verflucht seien die fremden Waffen!

Mein Vater und meine Brüder kamen an jenem entsetzlichen Tage um. Glücklich sind sie!

An der rechten Hand verwundet und daher kampfunfähig, floh ich in das Haus von Klaras Mutter.

Klara stand, ängstlich um mein Leben besorgt, bleich und zitternd auf dem Balkon, und jauchzte auf, als sie mich auf der Straße erblickte.

Ich trat ein; aber schon hatten meine Verfolger sie gesehen. – Und sie war so schön!

Mit rohem Gelächter und brutalem Geschrei begrüßten sie die Schöne.

Einen Augenblick später stürzte unsere Tür laut krachend unter den Axthieben der Feinde zusammen. Wir waren verloren!

Klaras Mutter, welche das unglückliche Kind in ihren Armen hielt, das nun sanft im Bette dieses Flusses schlummert, floh mit uns in die Cisterne des Hauses, welche sehr tief, und da es schon seit Monaten nicht mehr geregnet hatte, völlig trocken war. – Jene Cisterne, welche etwa acht Quadratmeter Flächeninhalt hatte und nach oben hin immer enger wurde, vertiefte sich in unterirdischen Abstufungen und bildete so eine Art Brunnenröhre, welche ungefähr in der Mitte des Hofes mündete, wo an ihrem Geländer ein eiserner Flaschenzug hing, vermittelst dessen das Wasser mit zwei Gefäßen ausgeschöpft wurde.

Miguel, so hieß das kleine Kind, war ein Bruder Klaras und der jüngste Sohn der Unglücklichen, welche die Franzosen zur Witwe gemacht hatten.

In jener Cisterne konnten wir uns alle vier bequem bergen, und so waren wir gerettet. – Kein Mensch konnte ahnen, daß wir uns an diesem Ort versteckt hatten, noch auch, daß dieser Ort überhaupt existiere! Von oben gesehen, erschien die Cisterne wie ein einfacher Brunnen. Die Franzosen glaubten, daß wir über das Dach des Hauses geflüchtet seien.

Ja ... wir waren gerettet! Klara verband meine Wunde, während die Mutter ihrem Säugling die Brust gab, und trotzdem meine Wunde furchtbar schmerzte, fühlte ich mich glücklich und lächelte ...

Da hörten wir plötzlich, wie die Franzosen, halb verdurstet, versuchten, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen, in dem wir uns befanden.

Sie werden sich denken können, Herr Pfarrer, in welch furchtbarer Todesangst wir in jenem Augenblick schwebten!

Wir drückten uns alle in eine Ecke, während sie das Gefäß so tief hinunter ließen, daß es auf den Boden stieß ...

Wir wagten kaum zu atmen.

Der Eimer schnellte wieder hinauf. »Der Brunnen ist trocken!« riefen die Franzosen aus.

»Weiter oben wird's Wasser geben!« fügte ein anderer hinzu.

»Nun gehen sie!« dachten Klara, ihre Mutter und ich.

»Wenn sie mal hier unten wären!« rief einer in katalanischer Sprache. ...

»Es war ein Überläufer, Herr Pfarrer, ein Spanier verriet uns!«

»Wie dumm!« antwortete der Franzose, »sie hätten sich unmöglich so rasch herunterlassen können.«

»Du hast recht,« sagte der Überläufer.

Sie wußten nicht, daß zu dieser Cisterne ein unterirdischer Gang führte, dessen Falltür durch den Boden eines entfernt gelegenen Weinkellers verdeckt und infolgedessen schwer aufzufinden war.

Wir hatten die Dummheit begangen, die Verbindungstür zwischen der Cisterne und dem Keller zu verschließen, und konnten sie nun nicht öffnen, ohne großen Lärm zu machen.

Nun stellen Sie sich unser entsetzliches Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung vor, während wir dies Gespräch hörten. Von den Winkeln aus, in denen wir uns versteckt hielten, sahen wir die Schatten ihrer Köpfe in dem hellen Schein, den die Brunnenöffnung in den Keller warf, hin und her huschen. Jede Sekunde erschien uns wie ein Jahrhundert.

In diesem Augenblick fing Miguel an zu weinen.

Aber kaum hatte er den ersten Schrei ausgestoßen, als seine Mutter die Stimme, welche uns verraten sollte, auch schon dadurch zu ersticken versuchte, daß sie das zarte Kind fest gegen ihre Brust drückte.

»Habt ihr's gehört?« schrie einer dort oben.

»Nein!« erwiderte ein anderer.

»Laßt uns horchen,« sagte der Überläufer.

So vergingen drei furchtbare Minuten.

Miguel kämpfte noch mit dem Weinen ... und je fester seine Mutter es drückte, desto unruhiger wurde das Kind.

Aber man hörte auch nicht den leisesten Schrei mehr.

»Es wird das Echo gewesen sein!« riefen die Franzosen aus, sich langsam entfernend.

»Das kann sein,« bestätigte der Überläufer.

Sie gingen dem Ausgang des Hofes zu, während das Klirren ihrer Säbel und das Lärmen ihrer Tritte noch lange widerhallte.

Die Gefahr war vorüber!

Aber zu spät wurde uns das Glück zuteil!

Miguel weinte nicht mehr. ...

Er war tot!

V.

»Herr Pfarrer, Herr Pfarrer!« schrie Klaras Mutter, Manuel unterbrechend, plötzlich auf. »Sagen Sie, daß es nicht wahr ist! Ich habe mein Kind nicht getötet, sie haben es umgebracht. Ich erwürgte es, um sie zu befreien. Ach, Herr Pfarrer, vergeben sie mir, ich bin keine schlechte Mutter, ich bin wahnsinnig geworden um mein Kind, um meinen Sohn! Ich bin keine schlechte Mutter!«

»Herr Pfarrer!« sagte Klara; »wir haben Sie hierher geführt, damit Sie das Wasser segnen, welches den Leichnam meines kleinen Bruders birgt. Die Gefahr ließ uns keine Zeit, ihn zu begraben.«

»Nicht wahr, Herr Pfarrer, Miguel wird doch im Himmel sein?« fragte Manuel mit tränenerstickter Stimme.

»Ja, meine Kinder,« sagte der Priester, »ich gebe euch die Versicherung im Namen Gottes und des Vaterlandes! Und du, meine Schwester, weine nicht mehr!« fuhr er fort, sich zu der alten Mutter wendend, »Gott segne das Martyrium, welches du erleidest, wie ich jetzt dies unschuldige Kind segne, das es dir auferlegte. Im Himmel wirst du dein Kind wiederfinden, und mit ihm wird sich deine Seele freuen; und ihr, die ihr euch liebet, vergeßt nicht, daß ihr euer Glück erkauft habt mit der Qual anderer. Seid hilfsbereit für eure Nächsten!«

So sprach der Pfarrer, im Glanz der Frühlingssonne, inmitten blühender Blumen, beim fröhlichen Sang der Vögel, und segnete die Fluten des Francoli, in denen das unglückliche Kind, der kleine Schutzengel der Familie, ruhte.


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