Sagen aus Posen
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Ein Meisterschuß im Kampf um die Marienburg

Es war im Juli des Jahres 1410, als Ulrich von Jungingen, der Hochmeister des Deutschritterordens, von der Marienburg aus zur Verteidigung des Ordenslandes gegen den anrückenden Polenkönig Wladislaus Jagello und dessen Vetter Witowd von Litauen aufbrach und seine Truppen bei Tannenberg zur Schlacht aufstellte. Doch von der Übermacht der Feinde besiegt, mußte er selbst, heldenhaft kämpfend, sein Leben lassen, die Reste des Ordesheeres aber zogen sich in die Feste Marienburg zurück.

Ringsum ergaben sich Städte und Burgen dem Sieger, auch die Landesbischöfe huldigten ihm. Der Polenkönig war überzeugt, daß auch die Marienburg kapitulieren würde, wenn er mit seinem gewaltigen Heer dort erschiene. Aber darin hatte er sich getäuscht. Die polnische Vorhut fand die Brücke über die Nogat abgebrochen, alle Häuser in der Umgebung waren niedergebrannt, rings um die Burg glühte noch das Feuer in den Aschenhaufen. Die Polen konnten nur langsam und beschwerlich auf die Burg vorrücken. Auf deren Mauern aber und hinter den Zinnen standen Männer im Harnisch, alle Tore waren fest verschlossen, die Fallbrücken aufgezogen.

So mußten der Polenkönig und sein Verbündeter sich zu langwieriger Belagerung der Feste entschließen. Doch schon nach kurzer Zeit spürten die Belagerer Not und Elend. Ihr vereinigtes Heer war zu groß, um auf einem Platz gehörig verpflegt zu werden; Krankheiten wüteten unter den Söldnern, die wochenlang unter freiem Himmel auf engem Raum lagern mußten. Tausende raffte die Ruhr hinweg.

Nun wurde der König besorgt und fing an, mit seinen Bischöfen viel zu beten, auf daß Gott sich nicht von ihm wende. Doch das Bitten brachte ihm wenig Trost und Beruhigung. Denn eine sonderbare Vorstellung hatte Gewalt über seine ängstliche Seele errungen. Das große Bildwerk der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind in der äußeren Chornische der Marienkapelle, das über die Stadt hinaus in das weite Land blickte, konnte er in seinem farbigen Glanze nicht leuchten sehen, ohne von Sorge und Neid ergriffen zu werden, daß der Orden einen so sichtbaren Schutz habe. Tag und Nacht quälte ihn diese Angst. Schließlich sprach er sogar in einer Versammlung seiner Kriegsobersten darüber.

»Unsere Kugeln und Schleudersteine sind«, so meinte er, »auf jener Seite machtlos, denn die Heilige Jungfrau wehrt sie von den Belagerten ab. Glaubt mir, solange das Bild dort mit der Goldkrone auf dem Haupt ins Land hinausschaut, ist all unser Mühen vergeblich. Die Jungfrau sorgt im Himmel dafür, daß Gott uns nicht erhört.«

Diese Worte des Königs vernahm Wladislaus, erster Büchsenmeister, ein gewalttätiger, abergläubischer Mensch, den es schon lange kränkte, daß seine Schießkunst von so geringem Erfolg begleitet war. Nun glaubte er zu wissen, worin der Grund dafür zu suchen sei. Immer hatte er seinen Kanonieren aufgetragen, die Kirche und besonders das Heiligenbild zu schonen; jetzt sah er ein, wie sehr er sich durch diese falsche Rücksichtnahme geschadet hatte, und meinte, seines Königs Besorgnis leicht beseitigen zu können.

Zu diesem Zwecke stellte er eine mächtige Steinbüchse gerade dem Chor der Marienkapelle mit dem wundertätigen Bild gegenüber auf.

Den Schützen, die ihm zur Hand gingen, wurde bange. Sie merkten wohl, was er vorhatte, und warnten ihn ernstlich. Aber er lachte sie aus und höhnte: »Ihr sollt sehen, ihr Narren, daß das Ding dort drüben nur aus Stein und Ziegel zusammengeklebt ist und zerfällt, sobald meine Kugel dagegen fliegt. Wenn einmal die Marienkrone am Boden liegt, wird der Widerstand ein Ende haben und unser König in die Burg einziehen. Ruft alle herbei, die nun mit eigenen Augen sehen wollen, was geschieht. Manchen guten Schuß habe ich in meinem Leben schon getan, dieser aber soll mein Meisterschuß sein. Der König wird mich reich belohnen, und ihr sollt nicht leer ausgehen.«

Bald lief die Kunde von dem Vorhaben des Büchsenmeisters durchs Lager. Eine große Menschenmenge sammelte sich um die Steinbüchse. Es hieß, der König habe den Schuß befohlen, denn es sei ihm in der Nacht durch einen Engel geoffenbart worden, daß er in die Burg einziehen werde, wenn er das Steinbild in der Nische vernichten und in die Kapelle eine Bresche schießen lasse. Manche schüttelten ängstlich den Kopf dazu, wieder andere hatten gehört, die Ritter hätten mit dem Bild Abgötterei getrieben und seien deshalb vom Papst in Rom verflucht worden. Darum sei es ein gottgefälliges Werk, den Anlaß zu solcher Sünde zu vertilgen.

Der Büchsenmeister kümmerte sich wenig um all dies Gerede und um die ängstlichen Gesichter vieler Umstehenden, sondern schüttete grobkörniges Pulver in ein Säckchen, mehr als das doppelte Maß von dem, was sonst zu einem kräftigen Schuß gehörte, packte es fest zusammen und schob es in die weite Öffnung des Rohrs so weit sein nackter Arm reichte. Dann half er mit einer Stange nach und stampfte es ,dreimal fest zusammen. Darauf wählte er unter den Steinkugeln am Boden die schwerste und glatteste und warf sie prüfend in die Luft, um festzustellen, ob sie beim Fall auf die Erde zerspringen würde. Sie bewährte sich, wurde in die Büchse geschoben und mit einem Graspfropfen festgehalten. Nun stellte er sich an das Kopfende des Geschützes und richtete nochmals scharf.

Gespannt blickte die Menge bald auf ihn, bald auf das Bild. Plötzlich rief einer: »Das Christuskind hat die Hand aufgehoben und mit dem Finger gedroht. Laß ab, Meister!« Ein anderer äußerte zitternd zu den Nachbarn: »Seht, seht, die Jungfrau bewegt zornig die Augen!« Es herrschte allgemeine Aufregung. Die meisten wünschten, der Schuß möge unterbleiben.

Indes schüttete der Büchsenmeister, ohne sich beirren zu lassen, feines Pulver auf die Platte um das Zündloch, und stellte einen Blechreiter gegen den Wind, damit es nicht verweht werde. Dann ließ er sich die brennende Lunte reichen, klopfte sie ab, rief ein weithin hörbares »Nun gebt acht!« und brachte die feurige Kohle vorsichtig von hinten her an das Pulver. Eine Sekunde herrschte atemlose Stille, dann gab,s einen entsetzlichen Knall, wie man ihn bisher noch nie von einer Steinbüchse vernommen hatte. Eine riesige Pulverwolke hüllte das Geschütz ein, die nur langsam vom Wind fortgetragen wurde.

Unversehrt stand das Marienbild. Mit mildem Ernst lächelte die Jungfrau zu dem Kind auf ihrem Arm hinab. Das Rohr des Geschützes aber war geborsten und abgesprengt. Mit geschwärztem Gesicht und verbranntem Haar lag der Büchsenmeister auf dem Boden, deckte die Hände über die Augen und wimmerte kläglich. Einige von seinen Knechten hoben ihn auf und trugen ihn fort. »Um Himmels willen, was ist euch geschehen, Meister?« fragten sie.

»Oh, meine Augen, meine Augen!« rief er jammernd; »ich bin blind.«

Da erfaßte die Menge Furcht und Entsetzen. Viele sanken auf die Knie, erhoben die Hände zu dem Bild und beteten um Vergebung ihrer Sünden. Die meisten rannten eiligst davon und trugen die Schreckenskunde durch das Lager, der Büchsenmeister des Königs sei mit Blindheit geschlagen worden, weil er sich an der Muttergottes versündigt habe. Auch Jagello erfuhr, was geschehen war. Er riß sein Gewand über der Brust auf und rief: »Weh uns, das bedeutet Übel! Nun werden unsere Feinde hohnlachen, unsere Freunde aber mutlos werden. Betet, betet, damit wir nicht noch schwerer heimgesucht werden!«

In der Burg erfuhr man bald, was vorgefallen war. Auch hier sah man es als Wunder an, daß der Schuß auf das Muttergottesbild sich gegen den frevelhaften Schützen selbst entladen und ihm für immer das Licht der Augen geraubt habe. Das Vertrauen der Belagerten wuchs, sie verlangten zu Ausfällen gegen den Feind geführt zu werden. Dieser zog daraufhin ab, die Marienburg war für immer gerettet.

 


 


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