Sagen aus Böhmen
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Der Zauberkamm

Es waren zwei Mädchen in Reichenberg, die waren hübsch und auch artig, nur hatten sie immer einen zerzausten Kopf. Sie hielten sich nicht gerne zu Hause auf, sondern spielten lieber im Freien. Am meisten Freude aber machte es ihnen, durch Wald und Feld zu streifen, und davon bekamen sie ihren Struwwelkopf. Und weil es viel Mühe macht, ein von Wind und Wetter verwirrtes Haar in Ordnung zu bringen, hatten sie es immer. Die Freundinnen in der Schule nannten sie deshalb Struwwelliesen. Das kränkte sie, und oft nahmen sie sich vor, sich zu bessern, aber es wurde nie etwas Richtiges daraus.

Bei einer ihrer Wanderungen gerieten die beiden Kinder tief in den Wald hinein, der mit einem Mal jäh zu steigen anfing. Sie verfolgten einen schmalen Steig, der sich dann im Moos verlor. Aber sie wollten nicht eher umkehren, als bis sie die Höhe erreicht hatten. Und da sahen sie sich unversehens auf dem langgestreckten Bergrücken des Jeschken. Weit und breit war kein Weg zu entdecken, mächtige vom Sturm gefällte Baumstämme erschwerten das Suchen, und schließlich verloren sie jede Orientierung. Wie sie nun dastanden, dem Weinen näher als dem Lachen, raschelte es im Unterholz, und ein Buschweiblein trat daraus hervor. »Fürchtet euch nicht«, sagte das winzige Geschöpf, das ein braunes Kleid trug und grünes, struppiges Haar hatte, »ich bin ein Freund der Kinder, weil ich mich vor ihnen wegen meiner Kleinheit nicht zu schämen brauche.«

»Du brauchst dich vor uns wirklich nicht zu schämen«, riefen die Kinder aus einem Mund, »wir finden dich nämlich sehr niedlich.«

»Ja, weil ich genau so struwweliges Haar habe wie ihr«, lächelte verschmitzt das Buschweiblein, »aber wenn ich ordentliches Haar hätte, wäre ich noch viel niedlicher.«

Die Schwestern bestätigen dies, und das Buschweiblein zog darüber sehr erfreut einen kleinen Kamm hervor und begann sich damit tüchtig das Haar zu strählen. Die Mädchen konnten sich kaum fassen vor Staunen, welche Verwandlung mit der Zwergin vorging. Fein und goldglänzend gleich Engelshaar fiel es auf einmal von ihren Schultern, und zugleich röteten sich ihre Wangen, und das Buschweiblein sah richtig aus wie Schneewittchen! Ja, so einen Kamm könnten wir auch gebrauchen, riefen die Mädchen.

Da sagte das Buschweiblein: »Den Kamm schenke ich euch, weil ihr so freundlich mit mir wart. Und ihr werdet auch so schönes Haar haben und so rote Wangen, wenn ihr in den Wald geht und eines das andere kämmt. Doch der Zauberkamm verliert seine Kraft, wenn ihr euren Freundinnen in der Schule etwas davon erzählt oder sie gar noch mit ihm verschönen wollt.« Dann wies sie ihnen den Weg ins Tal. Gleich im Wald kämmten sie einander noch, und mit goldenen, schulterlangen Haaren und Gesichtern wie Engel kehrten die Struwwelliesen nach Hause zurück.

Eltern und Geschwister konnten sich gar nicht fassen, wie fein sich die beiden herausgemacht hatten, doch diese verrieten nichts und schlichen sich nur alle paar Tage einmal in den Wald, um von dort in neuer Schönheit zurückzukehren. In der Schule herrschte das gleiche Erstaunen, aber auch dort hielten die Schwestern fein den Mund. Nun gab es da ein Mädchen, das pechschwarzes Haar hatte und gar zu gern blondes haben wollte. Sie spürte, daß die beiden goldhaarigen Engel ein Geheimnis besaßen, und wurde nicht müde ihnen zuzusetzen, es ihr doch preiszugeben. Anfangs wehrten sich die Goldhaarigen sehr. Sie versicherten der Freundin, wie gut ihr doch das pechschwarze Haar stünde, aber von Tag zu Tag schwand etwas von ihrem Widerstand. Sie waren nämlich schrecklich stolz auf den Zauberkamm und malten sich aus, was für Ansehen sie gewinnen würden, wenn sie die Freundin auf so wunderbare Weise verwandelten. Aber es kam, wie es das Buschweiblein angedroht hatte: das schwarze Haar blieb wie es war, und sie selber mußten sich nun wieder als Struwwelliesen nach Hause schleichen. Es ärgerte sie sehr, daß sie da und in der Schule deshalb verlacht und verspottet wurden. Und sie machten sich von da an die Haare so schön, als wären sie vom Zauberkamm gestreichelt worden, nur die roten Bäckchen kehrten in solcher Frische nicht mehr zurück.

 


 


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