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Zu spät.

Von J. H. Haardt.

 

Grau und düster hing der Himmel über der Nordostküste Schottlands. Die See ging hoch, und die Brandung schlug donnernd gegen das felsige Ufer. Ein feiner Regen sprühte feuchtkalt durch den dämmernden Abend.

Auf einer Landzunge, die sich einige hundert Meter in das Meer hinausstreckt, stand ein baufälliges Fischerhäuschen. Es war die einzige menschliche Behausung weit in der Runde. Im Westen das dunkle, unendliche Meer und landwärts ein steiler Höhenzug, an welchen die schmale Landzunge sich anschloß. Eine felsige Anhöhe, die schroff und kühn ins Meer hinaustrat, begrenzte den Blick nach Süden.

Es war Flutzeit. Mit dumpfem Rauschen brachen sich die Wellen an der kleinen Landzunge. Der weiße Gischt sprühte hoch auf und flog herauf bis zu den wenigen Stufen, die in das Häuschen führten. Seit Menschengedenken hatten die Mac Leod darin gehaust, eine arme Fischerfamilie, in welcher sich die armselige Hütte nebst einem Boote vom Vater auf den Sohn vererbt hatte.

Der letzte Besitzer war mit seinem Sohne auf der See umgekommen. Die kleine, dunkeläugige Ellen hatte umsonst nach Vater und Bruder gefragt, und ihre Mutter hatte sich fast blind geweint. Nicht einmal die Toten hatte das Meer wiedergegeben.

Seitdem war es in dem Strandhäuschen still geworden. Mit dem Tode des Mannes und Sohnes war zugleich die bittere Not des Lebens an Flora Mac Leod herangetreten. Mit der Fischerei war's vorbei, und andere Erwerbsquellen gibt es wenige an dieser unfruchtbaren, felsigen Meeresküste.

Die Herrschaft im Schlosse hatte ein Einsehen mit der armen Witwe gehabt und hatte ihr manchmal Arbeit gegeben. Auch die Fischer in der Umgegend nahmen sich ihrer an und brachten ihr bei günstigem Fange einen Korb voll Fische; aber dennoch gab es oft wochenlang kein Stückchen Brot für Flora Mac Leod und ihre kleine Tochter. Rohe Muscheln und eine eßbare Art Seetang mußten oft als Mahlzeit genügen.

Eines Tages war ein Diener vom Schlosse gekommen und hatte auf Befehl seiner Herrin die damals zehnjährige Ellen abgeholt, damit sie der kleinen Lady Edith die Zeit vertriebe.

Edith war die Enkelin der Schloßherrin, der Gräfin Inver. Vor einem halben Jahre waren dem Kinde die Eltern gestorben, und die Großmutter hatte es zu sich genommen.

In aller Eile mußte Ellen ihr Sonntagskleidchen anziehen. Die Mutter kämmte ihr das schwere, schwarze Haar glatt und flocht es in zwei dicke Zöpfe. Der Diener erzählte, Lady Edith läge seit zwei Tagen im Bett, und da hätte die Gouvernante der Gräfin vorgeschlagen, sie möchte doch zur Unterhaltung der Patientin ihr eine jugendliche Gespielin holen lassen, und die Gräfin hatte sogleich an die hübsche, stille Ellen in dem Strandhäuschen gedacht.

Mit klopfendem Herzen ging Ellen mit dem baumlangen Diener nach dem Schlosse, und unterwegs versuchte dieser sie zu belehren, wie sie sich bei den gnädigen Herrschaften zu benehmen hätte. Allein, da er nur englisch und Ellen nur gälisch sprach, konnte sie nur den Kopf schütteln und auf gälisch sagen: »Ich kann Sie nicht verstehen.« Und als der große William darauf anfing, gälisch zu radebrechen, verstand sie ihn erst recht nicht.

Unter diesen mißglückten Versuchen, einander verständlich zu machen, kamen sie auf dem Schlosse an, und Ellen wurde sogleich in Lady Ediths Zimmer geführt.

Geblendet von der fremden Pracht, blieb das Kind an der Tür stehen und sah verschüchtert auf die vornehme Dame, die an dem schönen rosaverhangenen Bette saß.

»Komm nur heran,« sagte sie freundlich; »wie heißt du?«

»Ellen.«

»Geht es der Flora Mac Leod, deiner Mutter, gut?« fragte die Dame weiter.

»Ich danke, ja,« antwortete Ellen. Ihre Angst war verschwunden, als die Gräfin sie auf gälisch angeredet hatte.

Da streckte sich ihr ein Kinderhändchen vom Bette her entgegen, und halb verlegen, halb lachend rief ein lustiges Stimmchen: »Komm her, wir wollen spielen. Großmutter, geh weg, und auch Miß Norton soll wegbleiben.«

Erst jetzt wandte Ellen sich nach der kleinen Kranken um. Ein blasses Gesichtchen sah aus den Kissen hervor. Als Ellen sie mit neugierigen Blicken maß, wandte Lady Edith das Köpfchen weg.

Die Gräfin, die denken mochte, daß die Kinder besser mit einander fertig würden, wenn sie allein wären, erhob sich und verließ das Zimmer.

Als sie nach einer halben Stunde leise an die Tür kam und nach den beiden hereinsah, saß Ellen auf dem Bettrande und hielt eine Puppe in den Armen, der sie leise ein Liedchen sang.

»Das Kind ist auffallend hübsch und scheint gut erzogen,« dachte die Gräfin befriedigt. Ihre Augen ruhten mit Wohlgefallen auf dem seltsam lieblichen Bilde. Dann ging sie wieder weg und hörte vom Nebenzimmer dem fröhlichen Lachen und Plaudern der beiden Kinder zu.

Ediths Kinderfrau war eine Gälin gewesen, und von ihr hatte sie Ellens Sprache gelernt, so daß sie sich mit ihrem jugendlichen Gaste verständigen konnte.

Dieser Tag bezeichnete einen Wendepunkt in Ellens Leben. Täglich mußte sie von nun an auf das Schloß kommen. Obgleich Edith drei Jahre jünger war als sie, hatte sie sich von der ersten Stunde an mit kindlich stürmischer Zärtlichkeit an das stille, sanfte Mädchen angeschlossen. Wenn der Unterricht vorüber war, verlangte das verwöhnte Kind nach Ellen, und so kam es, daß die Gräfin ein Abkommen mit Flora Mac Leod traf, nach welchem ihre Tochter täglich von 2 Uhr bis zum Abend auf dem Schlosse bleiben sollte. Dafür sollte die Mutter monatlich eine kleine Summe Geld erhalten und Ellen Kleidung und Kost auf dem Schlosse. Außerdem sollte Ellen bei der Kammerfrau der Gräfin in die Lehre gehen, damit sie später einen gleichen Posten im Schlosse bekleiden könnte.

Nun sah das alte Strandhäuschen bessere Tage, und die blasse, oftmals kränkelnde Frau brauchte sich nicht mehr in harter Arbeit um ihren Lebensunterhalt zu mühen. Wenn der kleine Haushalt besorgt war, setzte sie sich mit dem Strickstrumpf an das Fenster, die gälische Bibel auf dem Schoß, und so strickte sie mit nimmer müden Händen und ließ sich von dem alten Buche in ihrer Einsamkeit trösten. Fast bis an die Stufen ihres Häuschens heran spülte zur Flutzeit das Meer, und der einsamen Frau war es manchmal, als ob ihr die rauschenden Wogen ein gutes Wort sagten, das vor langer, langer Zeit in ihr Ohr geklungen war.

*

Fünfzehn Jahre waren seit dem Tage vergangen, an welchem Ellen zum erstenmal das Schloß betreten hatte. Seit acht Jahren war sie als Jungfer gänzlich in die Dienste der Gräfin Inver getreten, und ebenso lange war sie mit Allak Gillet, einem der herrschaftlichen Förster, verlobt. Sobald die Gräfin eine ihr zusagende Jungfer gefunden haben würde, sollte Ellen sich verheiraten.

Sie war ihrer alternden Herrin unentbehrlich geworden, und der einsamen Frau im Strandhäuschen war es eine stolze Freude, zu erleben, wie herzlich und gütig die sonst als stolz und streng bekannte Schloßfrau mit ihrem Kinde umging, und mit wieviel freundlicher Rücksicht sie Ellen oftmals auf eine Stunde heimschickte, um nach ihrer Mutter zu sehen.

Auch heute war Ellen wieder zur Mutter gekommen, trotzdem es Werktag war.

Freudig überrascht hatte die alte Frau die Tochter begrüßt; und nun saßen die beiden in der sinkenden Dämmerung am Fenster.

»Es ist nirgends schöner, als bei dir,« sagte Ellen und streichelte zärtlich die Hände der Mutter.

Die alte Frau sah sich in der niedrigen Stube um. Im Hintergrund stand ein großes Bett; der Tür gegenüber befand sich die offene Feuerstelle, auf dem Kaminsims lagen Muscheln und oben an der Wand hing ein kleines Segelschiff; das hatte der Vater einst seinem Sohne geschnitzt. Zwischen den beiden niedrigen Fensterchen stand der Tisch, dahinter eine Bank. Der Boden war nicht gedielt, sondern festgestampft. Ein leichter Torfgeruch durchzog den Raum. Vom Kamin her fiel zuweilen ein aufflackernder Schein durch das dämmerige Stübchen, und auf dem glimmenden Torffeuer stand der Teekessel und summte leise und traulich.

»Ja, es ist schön in dem alten Häuschen,« entgegnete die Mutter. »Hier möchte ich bleiben, bis ich sterbe. Sage das dem Allak. Da oben auf den Bergen bekäme ich Heimweh; hier in meinem Häuschen ist mir's immer, als ob ich am Grabe Wacht hielte.«

Ellen seufzte, als die Mutter schwieg.

»Geht es gut auf dem Schlosse?« fragte die Mutter nach einer Weile. »Lady Edith hat mich vorgestern besucht. Ihr Aussehen ist nicht gut, wie mir scheint. Daß sie so schnell wieder weggeht, ist mir leid für unsere gnädige Frau. Sie ist doch von ihr großgezogen worden und ihr einziges Enkelkind.«

»Auch der gnädigen Frau ist es leid genug, daß sie nur so kurze Zeit geblieben ist,« versetzte Ellen; »aber Sir William hat geschrieben, daß sie heimkommen soll; er will eine längere Seereise mit ihr machen. Lady Edith wäre gern länger hier geblieben.«

»Wirklich? Mir schien, als ginge sie gern weg,« versetzte die Mutter mit Kopfschütteln. »Die Leute in Inver haben es ungern gesehen, daß sie nicht ein einziges Mal in den drei Wochen zur Kirche gegangen ist.«

»Aber, Mutter, du sagst das, als ob du glaubtest, Lady Edith ginge nicht gern in unsere Kirche,« fiel Ellen ihr ins Wort. »Sie leidet viel an Kopfschmerzen. Nur darum ist sie nicht zur Kirche gegangen. Ich weiß es bestimmt. Ich sehe wohl, weder du noch die Leute von Inver haben rechte Liebe zu ihr. Vielleicht kommt das daher, weil sie ein wildes, verzogenes Kind war. Aber sie ist gut, Mutter, und ich würde für sie durchs Feuer gehen.«

»Sie muß schon gut sein, da du sie lieb hast,« entgegnete die alte Frau nachdenklich; »aber daß die Welt draußen für sie gut ist, das kann ich mir nicht denken. Ein unruhiges Feuer brennt in ihren Augen, und ihr Sinn ist recht stolz. Wir müssen für sie beten, daß sie den Weg zur ewigen Heimat nicht verliert. Du hast auch von ihrem Manne nicht viel Gutes zu sagen gewußt, als Lady Edith sich vor drei Jahren verheiratet hat, und ich weiß noch, als wäre es erst gestern gewesen, wie verweint du warst, als sie Sir William nach der kurzen Bekanntschaft ihr Jawort gab. Aber sie hat immer ihren Kopf durchgesetzt. Es ist traurig, wenn ein Kind ohne Vater und Mutter groß wird. Eine Großmutter ist oft schwach. Unsere gnädige Frau hat ihr zuviel den Willen gelassen. Und vielleicht ist es auch draußen in der Welt schwer, das Rechte zu tun und ein frommes Leben zu führen.«

Von der Welt draußen wußte sie nicht viel, die alte Frau. Sie gehörte einem Volke an, das sich von alters her seine eigene Sprache bewahrt hat; sie sprach, wie die meisten ihrer Freunde und Nachbarn, nicht einmal die Sprache ihres Landes, dem sie angehörte. Das Meer, die Berge, die Gemeinschaft in der Kirche, wo selbst der Gottesdienst gälisch gehalten wurde, das war ihre Welt, eine stille, fromme, friedliche Welt.

Als Ellen von ihrem Besuch im Strandhäuschen wieder in das Schloß zurückkehrte, ging sie rasch in ihr Stübchen und wechselte ihre regenfeuchten Kleider; dann ging sie in das Ankleidezimmer ihrer Herrin und legte die Kleider für den Abend zurecht. Die Tür nach dem Schlafzimmer stand offen. Am Schreibtisch brannte Licht. Die Gräfin Inver saß davor und war mit Geldzählen und Rechnen beschäftigt.

Als Ellen dies sah, trat sie von der Tür zurück. Ihre Herrin ließ sich ungern stören, wenn sie mit Geldangelegenheiten beschäftigt war. Allein sie hatte Ellens Nahen bemerkt und rief, ohne den Kopf nach ihr umzudrehen: »Das schwarzseidene Kleid mit den Spitzen und der Brillantnadel!«

»Jawohl, gnädige Frau!« Ellen trat wieder von der Tür zurück und hantierte geräuschlos weiter. Als das große, chinesische Tamtam in dumpfen Schlägen verkündigte, daß es halb acht Uhr und Zeit zur Abend-Toilette war, sprang die Gräfin von ihrem Schreibtisch auf und kam mit heiterm Gesicht in ihr Ankleidezimmer. Sie erkundigte sich nach Ellens Mutter und nach Allak und erzählte, Lady Edith wolle eine Kammerjungfer besorgen; wenn diese völlig angelernt sei, dann könne Hochzeit gehalten werden. Und eine lustige, frohe Hochzeit sollte es werden, sie selbst lüde sich als Gast dazu und wolle auch die ganze Hochzeit ausrichten, und die Inver-Leute alle sollten einen vergnügten Tag haben.

Während die alte Dame so sprach, hörte Ellen, daß die Tür des Schlafzimmers geöffnet wurde. Ein seidenes Kleid rauschte über den Teppich, und Lady Ediths schlanke, zarte Gestalt erschien in der Türöffnung des Ankleidezimmers.

Bei ihrem Anblick umdüsterte sich das Gesicht ihrer Großmutter. »Böses Kind,« schalt sie zärtlich, »sage deinem Mann, daß ich ihm nie vergeben werde, daß er dich nur drei Wochen hat hier bleiben lassen. Ich hatte gehofft, du bliebest mindestens bis über Weihnachten hier und ich begreife Sir William nicht, daß er dieses Jahr durchaus keine Lust hat, die Jagdzeit hier zu verbringen. Ich wollte, er unterließe die dumme Seereise oder machte sie wenigstens allein, und ich könnte dich hier behalten. Ich habe mir dieses Jahr keine allzu große Jagdgesellschaft eingeladen; ich komme in die Jahre, wo man mehr Ruhe braucht, und da wärst du mir die liebste Gesellschaft gewesen.«

An der Tür stehend, hatte Lady Edith ihrer Großmutter zugehört. Jetzt schob sie sich einen Sessel neben die alte Dame und sah zu, wie Ellen das reiche, weiße Haar ihrer Herrin flocht.

»Ich kann es nicht ändern, Großmutter,« erwiderte sie langsam. »Wenn du mich immer hättest behalten wollen, so hättest du mich nicht heiraten lassen sollen. Nicht wahr, Ellen?«

Die Großmutter lachte und sagte seufzend: »Du hast recht. Aber, Kind, du siehst erschreckend bleich aus. Was fehlt dir?«

Ein lustiges Lachen war die Antwort. Lady Edith sprang auf und stellte sich vor den Spiegel. »Nun ja, sehr blühend sehe ich nicht aus, das ist schon wahr. Aber ich habe wieder meine Kopfschmerzen gehabt. Das sieht man mir noch an, selbst wenn die Schmerzen längst vorüber sind.«

Die Gräfin Inver sah unruhig auf ihre Enkelin. »Du mußt in London einen Arzt fragen und mir schreiben, was er gesagt hat.«

»Beunruhige dich nur nicht, Großmütterlein. Die Seereise wird mir gut tun. Wenn ich wiederkomme, wirst du mich nicht mehr kennen. Ich werde mir dicke, rote Backen auf der See holen.«

»Soll mir lieb sein, Herzenskind. Geh doch in mein Schlafzimmer. Auf meinem Toiletten-Tisch findest du einen Zehrpfennig zur Reise. Stecke ihn in die Tasche und setze dich noch ein wenig zu mir.«

Lady Edith ging in das anstoßende Zimmer. Man hörte, wie sie auf dem Toiletten-Tisch herumkramte, dann kam sie, eine Banknote in der Hand, zurück und bedankte sich mit einem Kuß für das empfangene Geschenk.

Mit Stolz sah die alte Dame ihre Enkelin an, dann wandte sie sich zu Ellen und sagte: »Hole den großen Brillantstern aus meinem Etui. Edith soll ihn heute abend tragen. Ich denke, er wird ihr gut stehen.«

Ellen tat, wie ihr befohlen war und befestigte das kostbare Schmuckstück in den blonden Haaren der jungen Frau. Wie schön sie heute abend wieder aussah, trotz der tiefen Blässe! Voll Bewunderung und stolzer Liebe sah Ellen auf die ehemalige Spielgefährtin herab. Das schöne, lächelnde Gesicht war ihr zugekehrt. Nur die Augen hielten dem forschenden Blick Ellens nicht stand.

»Du süße Seele!« rief die elegante, junge Frau und schlang, wie in ihrer Kindheit, die beiden Arme um ihre geliebte Ellen. »Gib mir einen rechtschaffenen Kuß und brenne deine schwarzen Augen nicht in mein armes Herz hinein, sonst wird mir angst. Weißt du noch? Manchmal habe ich mich als Kind vor dir gefürchtet.«

Die Gräfin besah sich unterdessen in dem großen Spiegel, der ihre ganze Gestalt widerstrahlte. Nachdenklich besah sie ihr noch immer hübsches Gesicht. Sie wußte, daß ihre Enkelin ihr auffallend glich; beim Anblick des jungen Gesichts stieg ihre eigene Jugend vor ihr auf, und der Spiegel sagte ihr, wie weit diese Zeit hinter ihr lag. Es ging bergab und zwar immer schneller. Zuerst war es langsam gekommen; sie hatte sich lange jung gehalten und sich wenig um den schnellen Flug der Zeit gegrämt. Der Spiegel war ihr ein angenehmer Freund gewesen. Jetzt war er ein ernster, unerbittlicher Mahner. Jugend und Leben waren wie Zeit und Flut; sie kamen und gingen, nichts konnte den stillen Lauf aufhalten.

Das Tamtam erklang abermals. Lady Edith unterbrach ihre Unterhaltung mit Ellen und ging mit ihrer Großmutter hinunter in den Salon.

Als Ellen die beiden Zimmer ihrer Herrin wieder in tadellose Ordnung gebracht hatte, eilte sie in die Gesindestube, welche sich in einem andern Schloßflügel zu ebener Erde befand. Allak hatte ihr sagen lassen, daß er vielleicht an diesem Abend im Schlosse zu tun hätte. Sie solle, sobald sie mit ihrer Arbeit fertig wäre, in der Gesindestube nach ihm fragen.

Das Fragen blieb ihr erspart, denn bei ihrem Eintreten sah sie ihren Verlobten in einer Fensternische stehen. Es war außer ihnen niemand in dem Zimmer anwesend, da die Herrschaft bei Tische war und die Diener hierdurch im Speisezimmer festgehalten wurden, während die weiblichen Dienstboten entweder in der Küche oder in den Zimmern zu tun hatten. Keine überschwengliche Gefühlsäußerung verriet, daß die beiden jungen Menschen schon lange Jahre in Liebe einander zugetan waren. Sie wußten auch ohne daß sie davon sprachen, daß eins in dem andern lebte, und daß sie ihrer Liebe gewiß waren.

Allmählich füllte sich die Dienerstube. Peggy, die jüngste Küchenmagd, kam herein, um den Tisch zu decken. Sie war angenehm überrascht, daß Ellen ihr bereits die Arbeit abgenommen hatte, und beeilte sich, die Speisen aufzutragen.

»Bis alle versammelt sind und das Essen auf dem Tisch steht, kann ich noch einmal hinaufgehen und dir ein Paar Strümpfe holen, die ich für dich gestrickt habe,« sagte Ellen zu ihrem Verlobten und verließ das Zimmer. Allein sie kam nicht so schnell zurück, wie Allak erwartet hatte. Auch das Abendessen verschob sich noch eine Viertelstunde. Erst als die Köchin erschien und ihren Platz oben an der langen Tafel eingenommen hatte, setzten sich alle zum Essen nieder.

Ellen fehlte.

»Vielleicht hat die gnädige Frau ihr einen Auftrag geben lassen,« meinte Mrs. Horner, die Köchin.

Allein von den anwesenden Dienern wurde dies bezweifelt. Während der Tafel hatte die Gräfin nicht nach Ellen geschickt. Auch der Hausmeister, der jetzt eintrat, wußte nichts über Ellens Ausbleiben zu sagen.

»Lauf mal hinauf nach den Zimmern der gnädigen Frau und sage Ellen, sie solle schnell zum Essen kommen,« trug Mrs. Horner der kleinen Peggy auf.

Alsdann wurde gebetet und mit dem Essen begonnen.

Nach einigen Minuten kam Peggy zurück und berichtete, die Stuben der gnädigen Frau wären verschlossen; es wäre Licht darin gewesen, doch hätte man auf ihr Rufen und Pochen nicht geantwortet.

»Es ist gut, setze dich an deinen Platz. Wenn Ellen mit ihrer Arbeit fertig ist. wird sie schon herunterkommen. Vielleicht hat eine der fremden Damen ihre Dienste nötig gehabt.«

Das Abendessen ging vorüber, ohne daß Ellen zurückkehrte. Zögernd verabschiedete Allak sich von den Bekannten, um den Heimweg anzutreten. Schon war er im Begriff, das Schloß zu verlassen, als ihn der Hausmeister noch einmal zurückrief. Einer der Herren wollte noch einige Worte mit ihm sprechen. Er schritt durch den erleuchteten Vorsaal, wo an der Tür des Rauchzimmers einer der Gäste der Schloßherrin stand und ihm wegen der morgenden Jagd noch einen Auftrag gab.

Als dies geschehen war und Allak sich zum Gehen wandte, sah er Ellen die breite Treppe herabkommen, welche zu den Zimmern ihrer Herrin führte. In der Hand trug sie ein kleines Paket. Im nächsten Augenblick stand sie neben ihm. »Ich konnte nicht früher kommen; es ist mir lieb, daß ich dir die Strümpfe noch geben kann,« sagte sie halblaut und gab ihm das Päckchen.

»Ist dir nicht wohl?« fragte Allak, das junge Mädchen unruhig ansehend; »du siehst aus, ich weiß nicht, wie. Hast du einen Schreck gehabt?«

Ellen schüttelte den Kopf und gab eine ausweichende Antwort. Weder sie noch ihr Verlobter hatten bemerkt, daß, während sie zusammen sprachen, die Gräfin Inver den Kopf zur Bibliothektür herausgestreckt hatte. Als sie Allak erkannt hatte, war sie zurückgetreten und hatte mit gutmütigem Lächeln leise die Tür geschlossen.

Die Verlobten konnten sich nicht lange in dem erleuchteten Vorsaal vor den Zimmern der Herrschaft aufhalten. Nach einigen rasch gewechselten Worten verabschiedete sich Allak, und Ellen ging nach der Gesindestube, um das versäumte Abendbrot nachzuholen.

Bei ihrem Eintreten flogen ihr fragende Blicke entgegen, und sie entschuldigte sich bei der Köchin wegen ihrer Verspätung mit dem Bemerken, es wäre ihr eine Abhaltung in den Weg gekommen.

»Du siehst übel aus, Ellen,« entgegnete diese; »Peggy kann dir eine Tasse Tee machen, damit dir's warm wird; du siehst bleich und frostig aus.«

»Ich weiß, was ihr fehlt,« flüsterte Mrs. Horner der Wirtschafterin ins Ohr. »Morgen früh geht Lady Edith weg, das geht ihr nahe.«

»Ja, sie hängt sehr an ihr,« erwiderte diese. Dem Ton, in welchem sie diese Worte sprach, merkte man an, daß die Sprechende dieses Gefühl nicht teilte.

Am andern Morgen in aller Frühe reiste Lady Edith ab. Sie war noch einmal an das Bett der Großmutter gekommen und hatte sich von der alten Dame verabschiedet. Mit heiteren Worten und von einem baldigen Wiedersehen sprechend, hatte diese die Enkelin entlassen.

Als Lady Edith das Zimmer verlassen hatte, tat ihre Großmutter etwas Ungewöhnliches, etwas, das sie seit langen Jahren nicht mehr getan hatte. Sie erhob sich, trotzdem es erst sieben Uhr war, hüllte sich in ihren Schlafrock und trat an das Fenster. Sie mußte noch einen letzten Blick auf ihren Liebling werfen, aber sie wollte sich nicht zeigen; Edith sollte nicht merken, wie hart ihr das Scheiden diesmal ankam, und wie schwach das Alter ihr das Herz gemacht hatte.

Jetzt trat die zierliche Gestalt ihrer Enkelin auf die Freitreppe hinaus. Der Wagen hielt bereits. Ungeduldig scharrten die Pferde mit den Hufen, und der Pony vor dem Gepäckwagen wieherte laut in den grauen, nebligen Morgen. Nun stieg die junge Frau ein, ihr Kopf wandte sich den Fenstern der Großmutter zu, aber da sie dicht verschleiert war, konnte die Gräfin Inver das schöne, blasse Gesichtchen nicht mehr sehen. Die Wagentür wurde geschlossen, die Pferde zogen an, und der Wagen rollte schnell über den kiesbestreuten Fahrweg des Parks. Als er schon längst in dem Nebel verschwunden war, stand die Gräfin immer noch unbeweglich am Fenster. Edith war der Abgott ihres Herzens, der Stolz ihrer Seele, die Wonne ihres Alters. Mit einer hastigen Bewegung wandte sie sich plötzlich um. »Unsinn!« schalt sie in Gedanken. »Man kann nicht immer beieinander bleiben, und ich kann es William nicht verargen, daß er die Begleitung seiner Frau auf der Reise wünscht.«

Sollte sie sich wieder zu Bett legen und versuchen, noch einmal zu schlafen? Die alte Dame verwarf diesen Gedanken, denn der Schlaf war ihr vergangen. Schon streckte sie die Hand nach der Klingel aus, um Ellen herbeizurufen und sich ankleiden zu lassen, als ihr Blick auf ihren Schreibtisch fiel. So etwas! Der Schlüssel steckte noch von gestern. Unerhört eine solche Vergeßlichkeit! »Auch daran ist gewiß das Alter schuld,« dachte sie halb verdrießlich, halb belustigt. Ihre strenge Ordnungsliebe spielte ihr doch selten einen solchen Streich.

Statt zu klingeln, trat die Gräfin an den Schreibtisch. Ihr fiel ein, daß sie die stille Morgenstunde dazu benutzen konnte, alte Briefe durchzulesen. Sie war ohnehin in so schwachherziger, weichmütiger Stimmung, wie sie es gar nicht an sich gewöhnt war. Ja sie wollte sich die alte Zeit wieder einmal ins Gedächtnis zurückrufen, die süße, selige Zeit ihres Glückes, die schon so lange, lange dahin war.

Und nun hatte sie das geräumige Geheimfach geöffnet, wo neben Gold und Wertsachen einige Päckchen vergilbter Blätter lagen. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus und fuhr mit der Hand über eine Reihe Geldrollen hin, die an der Seitenwand des tiefen Faches lagen. »Unmöglich! Ich habe sie doch gestern dahin gelegt; es waren zehn Rollen,« stieß sie aufgeregt hervor. Aber da lagen nur fünf Rollen.

In peinlichem Grübeln starrte die alte Dame die fünf Geldrollen an. Sie wußte bestimmt, daß es gestern abend noch zehn waren. Es stand übrigens auch in ihrem Buche vermerkt, das sie in einer Seitenschublade aufzubewahren pflegte. Mit zitternden Händen suchte sie das Buch hervor. Richtig, da stand klar und deutlich, wie sie sich erinnerte, gestern abend geschrieben zu haben: »Zehn Rollen Gold, à tausend Mark.«

Großer Gott, sie war bestohlen worden, bestohlen in ihrem eigenen Hause, von ihren eigenen Leuten. Sie hatte gestern den Schlüssel stecken lassen, und während sie den Abend mit ihren Gästen verbracht hatte, war ein Dieb an ihrem Schreibtisch gewesen. Ein maßloser Zorn, eine tiefe Empörung packte die alte Dame. Unter ihrem Dache hielt sich ein Dieb auf; der Gedanke brachte sie fast um.

Aber wer konnte der Dieb sein? wer? Es war ihr fast unmöglich, auf irgend jemand von ihrer Dienerschaft einen Verdacht zu werfen. Es schien ihr unmöglich, daß jemand von ihrem Hausstande den Diebstahl hätte begehen können. Aber es konnte kein Fremder sich unbemerkt ins Schloß geschlichen haben. Die Hunde hätten den Dieb sofort aufgespürt. Zudem, wo sollte ein Dieb herkommen? Einer der Inver-Leute etwa? Das war lächerlich. Die hätten sich lieber zu Tode gehungert, als auch nur die Hand nach fremdem Eigentum ausgestreckt. Sie kannte diese Leute, arm waren sie, aber ehrlich und stolz, wie der vornehmste Edelmann im Lande. Und der größte Teil ihrer Dienerschaft bestand aus Inver-Leuten; sie zu verdächtigen, das wäre ihr so unmöglich gewesen, wie sich selbst eines Diebstahls zu zeihen. Die wenigen Dienstboten aus dem Süden? Wer weiß, unter welchen Verhältnissen diese groß geworden waren, wer weiß, ob nicht einer von ihnen – – doch nein, nein, sie brachte es nicht fertig, gegen eine bestimmte Person Verdacht zu schöpfen. Alle hatten ihr seit Jahren treu und ehrlich gedient. Außerdem war es geradezu ein Wunder, daß der Dieb so leicht das Geheimfach hatte finden und aufschließen können. Einmal hatte sie dasselbe von Ellen verschließen lassen, sie war überhaupt die einzige, in deren Gegenwart sie dieses Fach aufgeschlossen und Geldangelegenheiten geordnet hatte. Und Ellen hatte dies sicher nie mit einem Sterbenswörtchen gegen irgend jemand erwähnt, sie war ja so verschwiegen, wie das Grab. Und selbst, wenn sie geplaudert hätte, der bloßen Beschreibung nach konnte ein Fremder nicht leicht sich an ihrem Schreibtisch zurechtfinden.

Verwirrt starrte die Gräfin vor sich hin. Es wollte ihr nicht in den Sinn, daß jemand, den sie kannte, sie hatte bestehlen können.

Was sollte sie nun tun, um den Dieb ausfindig zu machen? Mechanisch räumte sie das ganze Geheimfach aus und räumte es wieder ein; die Tatsache blieb unverändert dieselbe: Das Geld fehlte: Folglich war sie bestohlen worden.

Als Ellen pünktlich zur gewohnten Stunde eintraf, fand sie ihre Herrin immer noch vor dem Schreibtisch sitzend. Bei ihrem Eintritt wandte die alte Dame den Kopf und winkte sie zu sich heran.

»Ich bin bestohlen worden. Ich habe gestern aus Versehen meinen Schreibtischschlüssel stecken lassen. Während ich unten bei meinen Gästen war, muß der Dieb sich das Geld geholt haben. Du mußt mir ausfindig machen helfen, wer es war. Ein Dieb in meinem Hause – oh, Ellen, der Gedanke bringt mich um. Ich bin krank vor Zorn und Schmerz.«

Zitternd vor Aufregung hatte die Gräfin diese Worte hervorgestoßen, und ratlos sah sie Ellen an. Doch was war das? Auf Ellens sonst so ruhigem Gesicht malte sich heftiges Erschrecken. In höchster Verwirrung und völliger Fassungslosigkeit starrte sie die Herrin an. Kein Wort kam über ihre Lippen.

»Sieh nur, fünf Rollen Gold; es ist schändlich und gemein,« klagte die Gräfin. »Hast du irgend einen Verdacht?«

Glühende Röte und tiefe Blässe jagten sich auf Ellens Gesicht; sie stammelte mühsam einige zusammenhanglose Worte. »Ich wußte nicht, – ich sah nicht, – hätte ich gesehen, daß die gnädige Frau den Schlüssel – ich weiß nichts – es war – es war – niemand von der Dienerschaft.«

Verblüfft sah die alte Dame ihre Dienerin an. Sie kannte Ellen nicht wieder. Wie das verkörperte böse Gewissen stand sie vor ihr. Die Augen der Gräfin öffneten sich. Ein entsetzlicher Gedanke durchzuckte sie – Ellen und Allak Gillet, wie sie gestern abend von einander Abschied genommen hatten, das Bild tauchte wie eine Erscheinung vor ihrem geistigen Auge auf. Ellen hatte blaß und verstört ausgesehen und hatte mit ängstlicher Hast ihrem Verlobten ein Päckchen zugeschoben. »Ellen,« rief die Gräfin, von Argwohn gepackt, »weißt du, wo das Geld ist?«

Das große, schöne Mädchen bot einen traurigen Anblick. Jeder Blutstropfen war aus ihrem Gesicht gewichen. Ein krampfhaftes Schluchzen schüttelte ihren Körper. Sie hatte die indirekte Anklage verstanden, aber sie vermochte nicht, auch nur ein Wort zu ihrer Verteidigung zu sagen.

Finster wandte die Gräfin den Kopf weg und sagte mit eisiger Stimme: »Dein Benehmen ist mir rätselhaft. Wenn du irgend etwas über den Verbleib des Geldes weißt, so sage es mir; denn ich werde den Dieb ausfindig machen, darauf kannst du dich verlassen.«

Ellen gab keine Antwort. Unter bedrückendem Schweigen half sie ihrer Herrin beim Ankleiden. Als dies geschehen war, sagte die Gräfin kurz: »Sage Sanderson, daß er sofort alle Leute in der Bibliothek versammelt.«

Einen Augenblick blieb Ellen unbeweglich stehen. Es schien, als wollte sie dem Befehl nicht Folge leisten. Verstört und verwirrt stammelte sie: »Wollen gnädige Frau nicht damit warten, vielleicht –«

»Tu, was ich gesagt habe,« antwortete die Gräfin schroff.

Fünf Minuten später befand sich die Schloßherrin ihren Leuten gegenüber in der Bibliothek. In kurzen Worten teilte sie ihnen mit, daß ihr aus dem Schreibtisch Geld gestohlen worden sei, und dann verlangte sie von jedem auf Ehre und Gewissen, daß er ihr den Dieb ausfindig machen hülfe.

Tiefes Schweigen folgte ihren Worten, grenzenloses Staunen, maßlose Entrüstung waren auf allen Gesichtern ausgedrückt. Sanderson, der alte Hausmeister, ergriff zuerst das Wort. Ehrerbietig verbeugte er sich vor seiner Herrin und sagte mit einer Stimme, die vor Aufregung zitterte: »Gnädige Frau, ich kann's nicht glauben, daß eins von uns sich so weit gegen Gottes Gebot hätte versündigen können. Ich kann's nicht glauben. Schon über 30 Jahre bin ich hier im Schlosse, und das Silberzeug und der Weinkeller waren mir immer übergeben. Ich bitte die gnädige Frau, mir zu sagen, ob je eine Flasche Wein oder auch nur das kleinste Stück vom Silberzeug abhanden gekommen ist.«

»Ich habe dies nicht gesagt, Sanderson, ich habe nur nach dem Gelde gefragt, das mir gestern Abend gestohlen worden ist,« entgegnete die Gräfin mit einiger Heftigkeit.

Der alte Mann ließ sich nicht irre machen. »Ich habe das nur gesagt, gnädige Frau, nicht, weil ich mich rühmen will, sondern nur, weil das, was ich getan habe, meine Schuldigkeit war und weil ich es für meine Schuldigkeit gehalten habe, darauf zu achten, ob die andern Dienstboten das Gleiche taten, wie ich. Und da muß ich um der Wahrheit willen sagen: Ich weiß keinen, dem ich den Diebstahl zutrauen kann.«

»Aber der Diebstahl ist begangen worden, und ich muß wissen, wer mich bestohlen hat,« sagte die Gräfin aufgeregt. »Es bekennt sich also niemand zu dem Diebstahl?«

Niemand bekannte sich dazu. Schon wandte sich die Gräfin zu ihrem Schreibtisch, um durch ein paar Zeilen gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, als ein anderer Gedanke ihr durch den Kopf fuhr. Sie trat nahe an die versammelten Leute heran und begann: »Als ich gestern abend mein Zimmer verließ, um zu Tisch zu gehen, war das Geld noch in meinem Schreibtisch. Wer hat mein Zimmer danach betreten? Du mußt es wissen, Ellen, du warst in dem Zimmer.«

»Ich, gnädige Frau, ich war dort,« brachte sie mühsam hervor; »als alles in Ordnung war, ging ich herunter in die Gesindestube.«

»Wenn jemand während dieser Zeit mein Zimmer betreten hat, so mußt du es wissen. Sanderson,« wandte sich die Gräfin abermals an den alten Mann, »war die Seitentür geschlossen? Hast du bemerkt, daß die Hunde unruhig waren?«

Es war alles in Ordnung gewesen, und ein Fremder hätte sich nicht unbemerkt in dem kleinen Seitenflügel, der von der Schloßherrin bewohnt wurde, aufhalten oder dorthin einschleichen können.

»Aber du bist später noch einmal in meinem Zimmer gewesen,« sagte die alte Dame, Ellen scharf ansehend.

Diese schrak zusammen. Ihr Ja war kaum verständlich. Ihre Verwirrung war so offenkundig, daß aller Augen mit Befremden auf ihr hafteten.

»Du weißt um den Diebstahl, ich sehe es dir an,« brauste die Gräfin jetzt auf.

»Ich habe nicht gestohlen,« stieß Ellen zitternd hervor.

Die Gräfin wurde bleich bis in die Lippen, ihr Atem ging schwer. »Ich kann dir nicht glauben,« sagte sie dann mit fremder Stimme. »Sage mir, was hast du dem Allak gegeben, als du mit ihm an der Seitenpforte standest? Warum hast du ihm diese Tür, die doch geschlossen war, aufgemacht? Wohl, damit er möglichst unbemerkt das Schloß verlassen könnte?«

Eine lebhafte Unruhe ergriff die kleine Versammlung. Energisch verlangte die Gräfin, daß alle sich still halten sollten.

Blaß und stumm stand Ellen unter der Anklage. Es klang so unwahr, als sie endlich sagte, sie hätte Allak ein paar selbstgestrickter Strümpfe gegeben.

»Wie lange war Ellen aus der Gesindestube fort?« fragte die Gräfin, sich an Mrs. Horner wendend.

Diese mußte der Wahrheit gemäß gestehen, daß sie lange fortgewesen war, und daß sie Peggy nach ihr geschickt hatte, um sie zum Essen rufen zu lassen.

Nun wurde Peggy ausgefragt, und ihre Aussagen riefen eine erneute Unruhe unter den versammelten Leuten hervor. Sie behauptete, an der Schlafzimmertür der Gräfin gestanden zu haben. Als sie diese verschlossen gefunden hatte, hatte sie geklopft, zumal sie durch das Schlüsselloch bemerkte, daß Licht in dem Zimmer brannte. Doch war ihr keine Antwort geworden, selbst nicht, als sie mehrmals gerufen hatte.

»Bist du in meinem Zimmer gewesen, als Peggy dich rief?« fragte die Gräfin.

»Ja,« antwortete Ellen.

»Warum hast du ihr keine Antwort gegeben?«

Eine seltsame Veränderung ging mit Ellen vor, ihre zusammengesunkene Gestalt richtete sich stolz auf. Jeder Muskel ihres Gesichts schien zu erstarren, und ein stolzes Feuer glühte in ihren Augen. »Ich habe nicht gestohlen. Bei Gott, ich habe es nicht getan.«

Die Geduld der Gräfin war erschöpft. Ein Zittern durchflog die hohe, stattliche Gestalt. »Entweder hast du selbst das Geld gestohlen, oder du weißt, wer es gestohlen hat,« stieß sie hervor. Du wirst sofort mein Haus verlassen und nur, wenn du das Geld wieder zurückgibst, werde ich dir die Schande der öffentlichen Strafe ersparen.«

Bei diesen Worten zuckte Ellen wie unter einem Schlage zusammen, aber sie erwiderte nichts. Eine Art steinerner Ruhe war über sie gekommen. Unbeweglich blieb sie auf demselben Fleck stehen, als die übrige Dienerschaft bereits auf den Wink der Herrin das Zimmer verlassen hatte.

»Nun, wo hast du das Geld?« fragte die Herrin kurz.

»Ich habe nicht gestohlen – weiter kann ich nichts sagen,« beharrte Ellen fest.

»Aus meinen Augen, aus dem Schloß!« rief die alte Dame. »Nur du kannst das Geld gestohlen haben, du undankbares, schlechtes Geschöpf. Fort, und komm mir nie wieder unter die Augen!«

Todesstille folgte diesen Worten. Einen Augenblick war die Gräfin im Zweifel, ob Ellen sie verstanden hätte. Wie geistesabwesend starrte diese vor sich hin. Jetzt hob sie den Kopf ein wenig und sah auf ihre Herrin, ein verstörtes Fragen im Blick.

Draußen auf dem teppichbelegten Flur standen noch die anderen Dienstboten. Alle sahen verstört aus. Der alte Sanderson allein redete die Angeschuldigte an. »Ellen,« sagte er mit zitternder Stimme, »hast du es getan?«

»Nein,« entgegnete sie schroff und wandte sich ab.

Langsam, müden Schrittes ging sie auf ihr Zimmer und packte ihre Habseligkeiten zusammen. Eine Stunde später trat sie in das Strandhäuschen.

Das Wort erstarb ihrer Mutter auf der Zunge beim Anblick ihrer Tochter. »Um Gottes Willen, was ist dir?« rief sie erschrocken. Da kniete Ellen vor ihr nieder, umschlang sie mit beiden Armen und erzählte, was geschehen war.

Eine qualvolle, bange Stille folgte. »Mutter, glaubst du auch, daß ich gestohlen habe?« rief Ellen, von tödlicher Angst gepackt.

Die alte Frau beugte sich zu ihr hinab und küßte sie auf die Stirn. »Ich weiß, daß du Gott im Herzen hast. Du hast nichts Schlechtes tun können,« sagte sie einfach.

Wie ein Lauffeuer war die Kunde von Ellens Diebstahl von Haus zu Haus bis hinauf in die Berge geflogen. Auch Allak Gillet hatte sie vernommen und war sofort in das Häuschen am Meer gekommen. Er fand Ellens Mutter im Bette liegen. Die ihrem Kinde angetane Schmach hatte sie auf das Krankenlager geworfen. Ellen war kaum wiederzuerkennen. Mit dem schönen, blühenden Mädchen war in wenigen Tagen eine traurige Veränderung vorgegangen. Ein qualvoller Seelenschmerz sprach aus ihrem blassen, schmal gewordenen Gesicht. Aber die großen, dunklen Augen blickten so wahr, so stolz und furchtlos, wie früher.

Ein frohes Leuchten glitt wie Sonnenschein über das traurige Antlitz, als Allak sie in alter Weise begrüßt hatte und zu ihr sagte: »Habe nur keine Furcht; Gott wird die Wahrheit ans Licht bringen.«

Aber als er weiter fragte: »Hast du keinen Verdacht, wer das Geld genommen haben kann?« da sah sie ihn so müde und traurig an, daß es ihm ins Herz schnitt. »Ich darf keinen Verdacht haben,« wehrte sie seine Frage ab; »ich muß ihn selbst tragen. Frage mich nichts, ich weiß nur und auch Gott weiß, daß ich unschuldig bin.«

Unruhig sah Allak das junge Mädchen an. Ehe er aber noch etwas erwidern konnte, hatte Ellen die Hand auf seinen Arm gelegt und sagte flehend: »Frage nichts mehr – ich weiß nichts ich kann nicht mehr denken und kann es nicht verstehen; nur das weiß ich, so wahr ich hoffe, selig zu werden, ich habe das Geld nicht gestohlen.«

*

Bis zur letzten Wegbiegung, von welcher man auf das Strandhäuschen hinabsehen konnte, hatte Ellen ihren Verlobten begleitet. Er mußte in die Berge zurück. »Ein böser Sturm,« sagte er hinabblickend. »Weißt du auch, Ellen, daß ich mich oft geängstigt habe, wenn ich in stürmischen Nächten an das Strandhäuschen dachte?«

Ellen schüttelte den Kopf. »Die Felsen sind fest und sicher, und noch sicherer stehen wir in Gottes Hand. Der Herr weiß die rechte Zeit.« Ein seltsamer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.

» La breagh!« (einen schönen Tag) rief sie ihm zu; dann grüßte sie noch einmal mit der Hand und eilte den Felspfad hinab.

Trübe, graue Dämmerung hing über Meer und Land. Sturmgepeitscht wogte das Meer gegen die felsige Landzunge heran. Mit beklemmendem Angstgefühl sah Allak dem schlanken Mädchen nach, als es den schmalen, wogenumtosten Pfad betrat, der wie eine Brücke nach dem kleinen Felseneilande mit dem Strandhäuschen führte.

Nun hatte Ellen die Tür erreicht. Noch einmal wandte sie sich um und grüßte mit der Hand hinauf zu dem einsamen Manne. Das wirre, schrille Heulen des Sturmes erfüllte die Luft, und dunkle Schatten breiteten sich über die Berge und das Meer.

*

Die Gräfin Inver hatte eine schlechte Nacht. Sie fühlte sich angegriffen und ruhelos, seitdem ihr das Geld abhanden gekommen war. Je mehr sie sich mit der traurigen Angelegenheit beschäftigte, um so klarer wurde ihr, daß niemand anders als Ellen den Diebstahl begangen haben konnte.

Obgleich die Gräfin anfänglich gedroht hatte, die Hilfe des Gerichts in Anspruch zu nehmen, so hatte sie das doch nicht getan. Die alte Liebe zu Ellen hatte es ihr unmöglich gemacht, zu der äußersten Maßregel zu greifen, um wieder in den Besitz ihres Geldes zu gelangen. Den Verlust hätte sie gern verschmerzt, ja sie hätte eine noch größere Summe willig hingegeben, wenn sie sich damit ihren Glauben an Ellens Unschuld hätte zurückkaufen können.

Der Sturm in der Nacht hatte sie um den Schlaf gebracht; sie hatte immerfort an Lady Edith denken müssen. Wenn das arme Kind in solchem Wetter auf der See war! Sie hatte während ihres letzten Aufenthalts auf Inver so überzart und elend ausgesehen, und sie hatte noch nicht einen einzigen ausführlichen Brief geschrieben, seit sie abgereist war, nur inhaltlose Postkarten. Was sie wohl sagen würde, wenn sie hörte, daß Ellen –

»Vielleicht hätte ich es ihr nicht schreiben sollen, um ihr den Schmerz zu ersparen,« überlegte sich die alte Dame, während sie sich ruhelos in ihrem Bette herumwarf.

Die Fenster klirrten und ächzten unter dem Anprall des Sturmes, und das Meer peitschte mit dumpfem Heulen den Strand. Die Gräfin stand auf und schob die Vorhänge ihres Fensters weg, um auf das Meer hinauszublicken, aber die Nacht war rabenschwarz. Eine unbestimmte Furcht ergriff sie. »Was für eine Nacht muß dies für die beiden Frauen in dem Strandhäuschen sein!« dachte sie und bemühte sich vergebens, diesen Gedanken wieder abzuschütteln. Immer tiefer bohrte er sich in ihr Herz, bis sie, um sich davon loszumachen, Licht anzündete und anfing zu lesen.

Aber ohne daß sie es merkte, wußte sie bald nicht mehr, was sie las. Sie sah Ellen, wie sie bei ihrer Mutter am Bette saß, und wie die kleine, armselige Hütte, einem bedrohten Schifflein gleich, aus dem stürmischen Meere hervorragte. Die peinliche Vorstellung wich erst von ihr, als der Tag dämmerte und die Wut des Sturmes etwas nachließ. Die müden, schweren Augenlieder fielen ihr zu, sie fand endlich noch etwas Schlaf. Allein sie wurde von bösen Traumbildern geängstigt und war froh, als sie endlich wieder wach wurde und ihrer neuen Jungfer klingeln konnte.

Müde kam sie gegen neun Uhr in das Eßzimmer zum Frühstück. Neben ihrem Platz lag die Posttasche. Während Sanderson die Speisen auf den Tisch setzte, schloß sie die Tasche auf und sah nach den Briefen. Obenauf lag ein dicker Brief von Edith. Ihrer Gewohnheit gemäß schnitt sie ihn auf und legte ihn neben sich, um ihn nach dem Frühstück zu lesen. Ihr Appetit war heute klein, sie trank hastig den warmen Tee und aß einige Bissen geröstetes Brot dazu. Dann zog sie den Brief ihrer Enkelin aus dem Umschlag und fing an zu lesen.

Ihre Augen wurden unheimlich groß, je länger sie auf die feinen Schriftzüge sah. Eine fahle Blässe überzog ihr ganzes Gesicht, und heftig rang sie nach Atem.

»Sind die gnädige Frau nicht wohl?« fragte Sanderson, indem er besorgt näher trat.

Sie machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und sagte leise, es klang wie ein schmerzliches Stöhnen: »Ich will allein sein.«

Der alte Diener verließ sofort das Zimmer. Die Gräfin las weiter in ihrem Brief. Es waren acht eng beschriebene Seiten. Ihre Hände zitterten und ihre Augen glühten wie im Fieber. Jetzt entfielen die Blätter ihrer Hand. Ihr Kopf sank auf die Tischkante herab, und sie fing an zu weinen, so schmerzlich, so bitterlich, wie sie nur vor mehr als zwanzig Jahren bei dem Tode ihres einzigen Kindes, der Mutter Lady Ediths, geweint hatte. Heute hatte ein härterer Schlag sie getroffen, als damals. Ihr Liebling, ihr Abgott hatte das Geld genommen, um Spielschulden ihres Mannes zu bezahlen, und hatte sich geschämt, ihr dies einzugestehen, weil sie so streng und unerbittlich das Spielen verurteilte. Zu ihrem Schrecken war Ellen an jenem Abend unerwartet in das Schlafzimmer eingetreten. Allein sie hatte das Geld bereits zu sich gesteckt und hatte aus Angst vor Entdeckung Ellen das Versprechen abgenommen, keinem Menschen was von ihrer Anwesenheit in dem Zimmer ihrer Großmutter zu sagen. Das war der Inhalt des Briefs. Was weiter noch darin stand, war nichts als bittere Reue und verzehrende Sehnsucht, ihr Unrecht wieder gutzumachen. Sie hatte ja das Geld nur leihen wollen. Sobald Sir William am Spieltisch glücklicher gewesen war, hatte sie das Geld zurückerstatten wollen. Bis dahin, so hatte sie törichterweise geglaubt, würde das Fehlen des Geldes unbemerkt bleiben.

*

Sanderson war sehr erstaunt, als er nach einer halben Stunde seine Herrin das Schloß verlassen sah. Bei so naßkaltem, stürmischem Wetter pflegte sie nie auszugehen. Kopfschüttelnd sah er ihr nach, wie sie, in einen großen, schwarzen Mantel gehüllt, in einen Seitenweg des Parks einbog. Wie langsam sie ging! Die stolze, vornehme Gestalt war nach vorn geneigt. Er sah das heute zum erstenmal.

Die Gräfin befand sich auf dem Wege zu Ellen. Ihrem sonst so scharfen Blick entgingen die Verheerungen, welche der nächtliche Sturm im Park angerichtet hatte. So schnell wie möglich suchte sie das Strandhäuschen zu erreichen.

Jetzt hatte sie den Park verlassen und schritt auf dem Pfade hin, der sich landeinwärts von der Anhöhe hinbog, die ihr noch den Anblick des Fischerhauses verbarg. Der Weg fiel steil ab. Eine letzte Wendung, und die kleine, felsige Landzunge lag vor ihr.

Ein Schrei des Entsetzens entfuhr der Gräfin. Taumelnd wankte sie einige Schritte zurück. Das Strandhäuschen war verschwunden. Der Sturm und die Flut hatten das Haus weggerissen. Sie kam zu spät, um wieder gutzumachen, was sie durch ihren Verdacht verschuldet hatte. Sie schlug die Hände vor das Gesicht in bitterer Seelenqual.

Ihre vergötterte Edith hatte – nein, sie konnte es nicht ausdenken, was sie getan hatte. Und sie selbst hatte eine Unschuldige, die ihrem Herzen so nahe gestanden, die ihr so treu und selbstlos gedient hatte, ungerecht verdächtigt. Mit Schimpf und Schande hatte sie Ellen aus dem Schlosse gejagt. Ihre Schuld war es, daß sie mit ihrer alten Mutter dem entsetzlichen Sturm zum Opfer gefallen war.

Mit Gewalt riß die Gräfin den Blick von der Unglücksstätte los. Unklar kam ihr zum Bewußtsein, daß sie nicht immer hier stehen bleiben konnte. Der Regen hatte nachgelassen, aber noch glänzte der felsige Pfad von Nässe. Feucht und kalt stieg die Luft vom Boden auf.

Müde schleppte Gräfin Inver sich weiter bergab, hinunter nach der Unglücksstätte, mit brennenden, tränenlosen Augen. Was hätte sie darum gegeben, wenn sie gegen Ellen nicht so hart gewesen wäre! Warum hatte sie ihr nicht geglaubt? Sie hätte es wissen sollen, daß Ellens Mund rein von Betrug und ihre Hände von Diebstahl rein sein mußten.

Immer qualvoller stürmten die Gedanken auf sie ein. Ihre wankenden Füße versagten den Dienst. Gramgebeugt sank sie auf einen Felsblock nieder, der den Pfad nach den Trümmern des Strandhäuschens halb versperrte.

Und wie sie so in stummem Schmerz dasaß und auf die Unglücksstätte hinsah, gewahrte sie Allak Gillet, der regungslos unter den Trümmern stand. Jetzt wandte er sich um und sah seine Herrin.

Mit schwacher Stimme rief sie ihn zu sich heran.

Er hatte ihr Rufen nicht gehört, wohl aber ihre Handbewegung gesehen. Langsam schritt er auf sie zu, und nun stand er vor ihr, mühsam nach Fassung und Haltung ringend.

»Ellen ist unschuldig gewesen.« Stöhnend brachte die alte Dame die Worte heraus.

Stumm nickte der Mann. Er hatte es gewußt.

*

Auf Befehl der Herrin war einige Stunden später die Dienerschaft in dem großen düstern Speisesaal des Schlosses versammelt. Ein banges Flüstern ging von Mund zu Mund. Auf allen Gesichtern lag der Schatten eines geheimen Grauens.

Die Gräfin war heute früh halb bewußtlos von Allak in das Schloß getragen worden; sie war trotz des Sturms und Regens zu ungewohnter Zeit ausgegangen. Jetzt wollte sie ihren Leuten eine wichtige Mitteilung machen.

Da kam sie schon. Müde und langsam trat sie über die Schwelle; fahle Blässe lag auf ihrem Gesicht, ihre Augen waren tief eingesunken.

Leise, stockend fing sie an zu sprechen. »Ich habe euch rufen lassen – ich muß euch sagen – Ellen – meine liebe Ellen war unschuldig. Sie hat das Geld nicht genommen. Ich weiß es erst seit heute. Ich wollte sie zu mir zurückholen. Ihr wißt, was heute Nacht geschehen ist. Gott möge mir vergeben.«

Ein beklemmendes Schweigen folgte diesen Worten. In den Augen, die auf die Dame gerichtet waren, stand ein schreckenvolles Fragen. Wer hatte das Geld gestohlen? Wie war die Wahrheit ans Licht gekommen?

Aber die Gräfin sagte kein Wort mehr. Wie geistesabwesend glitt ihr Blick über die Anwesenden und blieb an dem Fenster hangen, gegen das der Sturm Regenschauer um Regenschauer warf.

Niemand regte sich, niemand wagte ein Wort zu sagen; aber durch die Herzen ging es wie eine heilige Freude: Ellen war unschuldig.

Die Gräfin schrak aus ihrer Versunkenheit auf. Müde und langsam, wie sie gekommen war, verließ sie den Saal.

Sanderson, der alte Hausmeister, folgte ihr gesenkten Hauptes. Er wußte, was die anderen nicht wußten; er hatte Lady Ediths Brief gesehen und die Tränen seiner Herrin.


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