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Das Lied der Wellen.

Von A. von Blomberg.

 

»Wir schlummern und flüstern im Traume. Wir lächeln. Wir schmiegen uns weich um die Werke der Menschen, der kleinen Menschen. Wir tragen ihre Boote und Schiffe und dulden ihre Bauten auf unserm Grunde. Was ist Menschenwerk gegen uns? Was ist Menschenkraft gegen unsere Kraft? Aber wir schlummern und lächeln.«

Sie standen nebeneinander auf der äußersten Plattform der Landungsbrücke, der blonde Mann und seine beiden blonden Kinder. Weit hinaus in die See war die Brücke gebaut, ein Wunderwerk, das eine ganze Niederlassung trug: glänzende Läden mit allem, was verwöhnten Menschen gefallen kann, einen langen Promenadensteg und endlich ein Kaffeehaus und eine Konzerthalle.

Sie standen nebeneinander und sahen auf die stahlfarbene See.

»Wie sonderbar, daß sie nicht blau ist!« sagte das Mädchen. »Der Himmel ist doch blau.«

Der Vater gab keine Antwort. Er sah auf das Meer und sah es doch nicht. Seine Gedanken waren weit weg.

»Papa,« sagte der Sohn nach einer Weile, »wollen wir denn hier draußen bleiben? Glaubst du nicht, daß das Konzert bald anfangen wird? Ich glaube das.«

»Das Konzert?« wiederholte der Vater, als müßte er sich erst besinnen. »Du kannst ja einmal hineingehen und nachsehen, ob es schon an der Zeit ist.«

»Kommst du mit, Hanna?« fragte der Junge.

»Nein, ich bleibe lieber bei Papa.«

Der Bruder ging, und Hanna knotete ihren Schleier fester. Die lockeren Haare stahlen sich immer wieder unter dem Hute hervor und wehten ihr in die Augen. Es war immer windig auf der Brücke, hatte die Wirtin gesagt, und das war richtig. Aber großartig war diese Brücke.

Ein wunderlicher Ton erschreckte das Mädchen, ein knarrendes Ächzen und Stöhnen. Ach, wohl, dort unten an der andern Seite lag der große Dampfer, der nach Schweden gehen sollte; der hob und senkte sich leise und rieb seine Planken an den gewaltigen Bohlen der Brücke. Das war das Knarren. Beruhigt wandte Hanna wieder den Kopf, und für Sekunden haftete ihr Blick auf den Gästen, die gleich ihr und dem Vater die frische Seeluft der geschützten Halle vorzogen. Sie hatten sich die windstillste Ecke der Plattform gesucht. Außen an der Wand des Kaffeehauses saßen sie. Die einen tranken Kaffee, die anderen aßen Eis. Die einen schlürften mit Behagen das heiße Getränk und sagten, das täte gut. Die anderen wickelten sich in ihre Tücher, lachten und meinten, es wäre ein eisiger Genuß.

Hannas fröhliche Blicke wunderten weiter, kehrten zurück zu ihrem Vater; aber was sie sagen wollte, unterblieb. So starr sah er hinunter auf die atmenden Fluten.

»Wir lächeln und flüstern. Seht ihr ihn stehen dort an des Himmels Grenze? Dunkel ist sein Mantel und dunkel sein wallend Haar. Er reckt sein Haupt, das gewaltige. Spürt ihr nicht seinen Odem? Wacht auf, ihr Schwestern, wacht auf! Er bläst uns zum Tanze. Wacht auf, wacht auf!«

Die Wellen wachten auf und sangen, und das dumpfe Brüten des Mannes ward zum bewußten Nachsinnen. Geld, Geld! Alles in der Welt dreht sich um das goldene Kalb. Geld! Woher es nehmen, wenn man keins mehr hat und doch bezahlen soll? –

Der Sohn kam zurück. »Die Musik ist schon da. Ich glaube, sie werden sogleich anfangen. Kommt ihr denn nicht?«

Der Vater schwieg.

»Kommt ihr denn nicht?« wandte sich der Sekundaner enttäuscht an seine Schwester. »Du hast dich doch auch so auf das Konzert auf der Brücke gefreut, und wir sind doch auch deswegen gekommen.«

Sie waren deswegen gekommen. Sie gehörten nicht zu den Badegästen, sondern wollten nur zwei Tage hier bleiben, der Vater und sie beide, zwei schöne, frohe Feiertage. Hanna sah den Bruder an mit der lächelnden Ueberlegenheit der älteren Schwester. »Ich habe mich auf das Konzert gefreut und werde es auch genießen. Aber wenn Papa noch eine Weile hier draußen bleiben will, dann warten wir eben. Es gibt ja hier auch genug zu sehen.«

Er zuckte ungeduldig und nicht ganz artig die Achseln.

»Aber Paul!« sagte sie mahnend.

Da ging er nach der anderen Seite, wo der Dampfer lag, und sah der Gepäckbeförderung zu.

Hanna blieb und hielt sich mit den Händen am Geländer.

»Das wird Sie bald zu doll hier werden, Fräulein,« sagte ein Matrose. »Wir sind hier schon zu weit draußen.«

»Wir tanzen und hüpfen. Wir zieren unser Kleid mit einem weißen Saume. Heran, heran, du wilder Spielgesell. Willkommen, willkommen, Konzertmeister. Noch läßt er die Geigen und Pfeifen klingen, bald wird die Orgel brausen. Wir tanzen und hüpfen – hinauf – hinab. Wir spielen und schaukeln das Fischerboot – hinauf – hinab.«

Hinauf – hinab. Hinauf war er gegangen, als er von seinem Schwiegervater die Fabrik übernommen hatte. Unter seiner genialen Leitung war der Betrieb bald fast um das Doppelte gestiegen. Das hatte ihn kühn gemacht; er wollte ihn immer mehr steigern, und er fing an zu bauen, die Fabrik zu vergrößern und zu verbessern. Sein eigenes kleines Kapital war bald verschlungen; aber er hatte auch Verfügung über das Vermögen seiner verstorbenen Frau. Nur sein Gewissen war der Vormund seiner Kinder. Er hatte dem Gewissen einen goldenen Berg für die Kinder versprochen und hatte das Geld geopfert. Doch der goldene Berg wollte nicht zur Wirklichkeit werden, und als zwei Jahre um waren, war die Fabrik mit einer Schuldensumme belastet. Da kam ihm wohl die schreckliche Ahnung, daß es nicht mehr hinauf ging, sondern hinab. Aber noch wußte das niemand außer ihm. –

Das lebhafte Treiben auf der anderen Seite des Brückenkopfes hörte auf. Die Versenkung, die das Gepäck beförderte, kam und ging nicht mehr, und auf der Treppe, die so steil und tief hinunterführte, stiegen keine Menschen mehr. Bei den wenigen Zurückbleibenden stand auch Paul und sah hinab. So hoch war die Brücke, daß der Schornstein des Dampfers noch nicht mit dem Geländer gleich war.

Ein mißtönender Schrei klang über das Wasser. Erschrocken sah der grübelnde Mann sich um. Da stampfte der Dampfer vorüber – in weitem Bogen – stolz, ruhig. Die Wellen tanzten ihm entgegen und wollten ihn schaukeln. Er ging hinauf und hinab, aber er behielt seine Würde.

Paul war wieder herübergekommen und stand neben seiner Schwester am Geländer. Sie sahen dem Schiffe nach. »Fein,« sagte Paul, »kümmert sich gar nicht um das bißchen Sturm. Aber eine lustige Fahrt wird das werden. Könnte ich doch dabei sein?« Sehnsüchtig fuhren seine Blicke nach rechts und links. Seine Augen leuchteten. »Das müßte doch auch fein sein, jetzt zu segeln. Nicht, Hanna?«

»Jetzt zu segeln?« wiederholte sie. »Aber Paul! Das würde Papa keinesfalls erlauben.«

»Wer weiß?« entgegnete Paul. »Er ist doch früher ein vorzüglicher Segler gewesen. Ich glaube, es würde ihm noch heute Spaß machen.« Er sah nach dem Vater hin.

Doch der hatte die Worte gar nicht gehört; er verfolgte mit seinen Blicken den Dampfer.

»Ich frage ihn mal,« schloß der Sohn.

Nicht weit von ihnen stand der Matrose, der Hanna vorhin angesprochen hatte. Sie hielt ihn für einen Matrosen, weil er die dunkelblaue Kleidung trug. Er hatte einen Strohhalm zwischen den Lippen und kaute daran. Und er lachte. Da blinkten seine weißen Zähne. »Nee, junger Herr, mit dem Segeln ist das aus für heute. Sehen Sie nicht?« Er zeigte auf einen Mast in seiner Nähe, an dessen Spitze ein Korb hing. »Das ist das Zeichen für die Motor- und Segelboote, daß kein's mehr hinaus darf.«

Der lebhafte Junge war sofort neben ihm. »Ach – so – . Also das ist das Sturmzeichen? Ein Korb? Erzählen Sie doch mal.«

Sehr gesprächig war der Seemann nicht. Er sprach die Worte einzeln und zwischen den Zähnen; denn er kaute an dem Strohhalm. Aber er lachte: »Das heißt: zu Hause bleiben. Der da –,« er deutete mit dem Daumen nach dem sich mehr und mehr entfernenden Dampfer – »schafft es schon noch, aber die kleinen nicht mehr. Ein paar Fischerboote sind ja noch draußen, die machen aber auch, daß sie nach Hause kommen.«

»Sind Sie ein Matrose?« fragte Paul und sah ihn neugierig an. »Oder mehr?«

»Von der Rettungsstation,« sagte der Blaue.

Paul stand noch erwartungsvoll. Von diesen Dingen hätte er gern mehr gehört. Aber der Seemann lachte ihn nur an mit seinen merkwürdig blauen Augen und schwieg und biß an dem Halme. So ging der Sekundaner wieder zu seiner Schwester.

Sie sahen nach der dunklen Wand im Nordwesten, die unbeweglich stand, und nach dem hellen Dampfer, der ihr entgegensteuerte. Er war von der Sonne grell beleuchtet und glänzte wie Silber.

»Wie sonderbar, daß diese Wolken gar nicht näher kommen!« sagte Hanna zu dem Seemann.

Er nahm den Halm aus dem Munde und warf ihn weg. »Das sind keine gewöhnlichen Wolken, Fräulein, das ist der Sturm.«

»Der Sturm? Den kann man sehen? Wie wunderbar!«

Aus der Halle klangen die ersten Töne. Paul horchte auf. »Die Brahmssche Rhapsodie,« rief er sehnsüchtig und vorwurfsvoll.

»O, die möchte ich hören,« sagte die Schwester, und sie liefen zum Vater und rissen ihn mit ihren Bitten aus seiner Versunkenheit.

»So kommt denn,« sagte er.

Sie gingen alle drei hinein.

In der Halle stand Tisch an Tisch und Stuhl an Stuhl. Durch die schmalen Gänge, die freigeblieben waren, eilten die Kellner und trugen die beladenen Kaffeebretter auf der zurückgebogenen Hand über der Schulter. Auch Damen drängten sich hindurch nach den Verkaufstischen am Eingange und kamen mit gefüllten Kuchentellern wieder.

Die drei hatten Plätze gefunden. Hanna, die draußen keinerlei Furcht gezeigt hatte, saß jetzt ängstlich auf ihrem Stuhl und sah mit staunenden Augen um sich. Sie kam aus einer kleinen Stadt, und ein solches Gewimmel war ihr fremd. Immer von neuem wunderte sie sich, daß die Kaffeebretter aus der schwebenden Höhe wirklich heil auf die Tische kamen, und bewunderte immer wieder den kühnen Schwung, mit dem die Kellner Tassen und Teller an die bestimmten Plätze »schleuderten«. Das war ein Ausdruck von Paul.

Rechts von ihnen saßen einige Damen. Die eine hatte, als sie gekommen war, einen winzigen weißen Seidenspitz auf dem Arme getragen. Das Tierchen schien an diese Art der Beförderung gewöhnt, so still und ruhig lag es, die Pfötchen vorgestreckt, und betrachtete mit seinen großen ernsthaften Augen alle, an denen es vorüber getragen wurde. Dann war ihm ein Tuch über einen Stuhl gebreitet worden, und nun hatte es seinen Platz neben seiner Herrin, blinzelte bittend durch die überhängenden Haare und bekam Zuckerkrümchen und Kuchenbrocken.

An dem Tische links saß eine Gesellschaft, unter der ein Kranker zu sein schien; denn neben ihm, um ihn bemüht, saß eine barmherzige Schwester. Sie trug eine Tracht, die der Kleinstädterin unbekannt war. Diademartig lag der breite Streifen der weißen Haube über dem welligen Haar, und darüber hing, wie ein Schleier, ein schwarzes Tuch, das kleidsam, aber ein wenig kokett zurückgesteckt war.

Drei Herren, der eine wie ein Hüne, saßen an dem Tische geradeaus. Alle die ungezählten Menschen in der weiten Halle aßen, tranken, plauderten oder lauschten. Und über das fröhliche Durcheinander fluteten die Töne. Spielenden Kindern gleich haschten und jagten sie sich, flohen auseinander und fanden sich in entzückendem Wohllaute wieder zusammen. Wie ein Taubenschwarm flogen sie aufwärts mit rauschendem Flügelschlage und rollten wie rieselnde Wassertropfen wieder herab.

Hanna liebte Musik. Ihre Stimmung hob sich, wo immer sie Akkorde hörte; aber an diesem Orte war der Eindruck auf ihre bewegliche Seele überwältigend. Die festlich geschmückten Menschen und die Geschäftigkeit, deren Zweck einzig und allein das Vergnügen war, hatten für sie etwas Feierliches, das durch die Musik veredelt und verklärt wurde. Eine zitternde Erregung überkam das Mädchen. »Lauter glückliche Menschen,« dachte sie und schloß die Augen vor der Gewalt der Empfindung, die Wehmut und Seligkeit zugleich war. Sie wurde allzu leicht von ihren Gefühlen beherrscht, aber sie war ja auch noch jung.

Paul sah die Menschen nicht; er sah und hörte nur das Orchester, und er strahlte. Er war hochmusikalisch, und wenn er nur erst die Schule hinter sich hatte, sollte die Musik sein Studium werden.

»Lauter glückliche Menschen,« dachte Hanna. Auch sie fühlte sich ja glücklich, obwohl sie schon den Ernst des Lebens kannte. Der Tod der Mutter und die Notwendigkeit, daß sie fortan dem Vater die Hausfrau ersetzte, hatten sie frühzeitig ernst und verständig gemacht. Wenigstens glaubte sie das. Sie glaubte, was sie wünschte, und sah, was sie glaubte.

Die Rhapsodie war zu Ende. Das Rauschen der Wellen draußen klang wieder herein.

»Raffiniert ist der Kulturmensch,« sagte der Hüne an dem Tisch vorn. »Ein solcher Kunstgenuß in solcher Umgebung. Man braucht nicht einmal den Kopf zu wenden; man hat das großartigste Naturschauspiel direkt vor Augen.«

»Lauter glückliche Menschen,« dachte Hanna und sah wieder umher.

»Aber der Sturm wächst von Minute zu Minute,« sagte der zweite an dem Tische. »Das kann heute noch gut werden.«

Hannas wandernder Blick war zurückgekehrt und heftete, wie vorhin draußen auf der Plattform, erschrocken auf ihrem Vater. Was war heute mit dem? Sein Gesicht sah jetzt ganz verzerrt aus. Und er bemerke gar nicht, daß die Tochter ihn tief betroffen ansah; er starrte vor sich hin.

»Wenn nun mal der ganze Kladderadatsch hier umgeblasen wird?« fragte der Dritte da vorn lachend. »Waghalsig weit ist die Brücke hinausgebaut. Wenn sie zusammenbricht?«

»Mit allem, was darauf ist,« sagte der Hüne, »mit so viel Lebensfreude und Leichtsinn –«

»Und Unglück,« vollendete der zweite.

»Papa,« sagte Hanna leise und berührte ihn am Arm.

Er fuhr zusammen. Eine gewaltsame Bewegung ging über seine Züge. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, wieder und wieder, und als er das Gesicht dann der Tochter zuwandte, war es wie sonst.

»Was fehlt dir?« fragte sie ängstlich.

»Nichts,« sagte er. »Ich glaube, es ist schwül hier.«

Sie versuchte sich damit zu beruhigen; aber ihre Gedanken umkreisten den kleinen Zwischenfall. Was war das gewesen, das in ihres Vaters Antlitz zu lesen war, wenn sie es nur hätte lesen können! Irgend eine fremde, unheimliche Macht hatte ihre Schriftzüge in seine Stirn gegraben. Schon seit lange? Warum hatte sie es dann nicht schon früher gesehen? Sie war doch täglich um ihn. Es konnte nur vorübergehend gewesen sein. Zwar unruhig hatte er sich in den letzten Wochen gezeigt, und er war einigemal verreist; doch das war auch sonst schon vorgekommen; er war ja überhaupt sehr lebhafter Natur. Sie sah ihn noch einmal an.

Er hatte den Kellner gerufen und sich frisches Bier bringen lassen. Die Hand am Glase, betrachtete er die Nachbarn rechts und links. Aber diesmal bemerkte er den Blick der Tochter. »Ihr müßt nachher zu den Großeltern fahren, wenn wir heimkommen,« sagte er.

Sie nickte. Das wußte sie schon. Und sie atmete auf. Er war wieder wie immer. Sie begann auf die Worte zu lauschen, die von den Nebentischen herüber klangen. Führten auch noch andere sinnige Gespräche, wie die drei da vorn? Ein paar boshafte Bemerkungen – leichtfertiges Geschwätz – Nichtigkeiten –

»Es ist wirklich sehr schwül hier,« sagte der Vater und stand auf. »Ich kann das nicht aushalten; ich will wieder hinaus. Aber bleibt ihr nur ruhig hier.«

»Nein, Papa, ich komme mit,« sagte Hanna. »Bitte, laß mich. Ich bin auch lieber draußen.«

Er sah sie unschlüssig an. Dann griff er plötzlich nach ihrer Hand und zog sie durch seinen Arm »Mein liebes Kind,« murmelte er.

Paul machte ein unzufriedenes Gesicht, als er sie aufbrechen sah. Die Schwester befragte ihn mit Blicken, ob er nicht mitkommen wollte. Aber er schüttelte den Kopf. Die Musik hatte wieder eingesetzt. Er blieb.

So gingen die beiden allein hinaus.

»All wieder da?« fragte der Mann von der Rettungsstation. Er lehnte nachlässig an einem Pfosten, und er lachte wieder. »Den andern is es all zu luftig geworden« Er zeigte auf die leeren Plätze.

»Uns aber nicht,« sagte Hanna. Und sie stand wieder am Geländer und hielt sich fest.

»Wir tanzen und springen – höher, immer höher. Wir sprühen und spritzen. Wir greifen mit unseren Armen, den weichen, schlangengleichen. Wir rollen unsere Kronen, die glitzernden, schäumenden. Wir wühlen und pflügen – wir nagen – heimlich, heimlich. Was ist Menschenwerk gegen unser Werk? Was ist Menschenkraft gegen unsere Kraft? Wir rütteln und nagen – heimlich, heimlich – Jahre, Jahrzehntelang. Was ist Menschenalter gegen unser Alter? Wir sind von Anbeginn.«

»Ist diese Brücke sicher?« fragte Hanna. Sie mußte dreimal fragen, immer lauter, ehe der Seemann sie verstand. Ihre Stimme konnte nicht mehr an gegen das Brausen der Wogen. Sie war zurückgetreten, und der Blaue kam dicht zu ihr.

»Ganz sicher, Fräulein.«

»Aber sie zittert ja.«

»Schadet ihr nich.« Er deutete hinunter. »Was da unten im Wasser ist, das Holz, das is fest wie Stein; das hält länger, als wir alle leben werden.«

»Aber was darüber ist?«

»Ja, das is was anders, da kann mal wohl was von wegfliegen.« Als sie ihn entsetzt ansah, lachte er wieder. »Jetzt noch nich, Fräulein; da muß es noch doller kommen.«

Sie trat aber nicht mehr bis vorn ans Geländer, wo ihr Vater stand; sie lehnte sich an die Wand der Halle und hielt sich am Pfosten.

»Wir springen und greifen – höher, immer höher. Wir recken unsere Arme und schleudern unsere Kronen – weiter, immer weiter. Wir verspritzen Perlen zu Tausenden, zu Millionen, dir zum Diadem, gewaltiger Freund. Blase die Posaune, schlage mit den Schwingen, den schwarzen, rauschenden. Da beginnt der Sand zu wandern.«

Der Vater trat vom Geländer hinweg neben die Tochter. Er sah nicht nach den Wellen, sondern zurück nach dem Strande. Dort war soeben das letzte Fischerboot gelandet. Die Schiffer zogen es weit hin auf den Sand.

Auch der Matrose von der Rettungsstation sah ihnen zu.

Hannas Vater sprach ihn an: »Ob die mir das Boot wohl leihen würden für Geld und gute Worte? Ich würde ganz gern – war früher passionierter Segler –«

Der Seemann öffnete die scharfen Augen noch weiter. »Fragen Sie sie doch,« sagte er kurz. »Auch für Geld und gute Worte riskieren die nicht ihr Boot.«

»Papa!« rief Hanna entsetzt.

Er strich sich unruhig über die Stirn und durch den Bart. »Es war nur so eine Idee von mir,« murmelte er.

Noch immer sah sie ihn entsetzt und erschrocken an.

»Lassen Sie man gut sein, Fräulein,« sagte der Matrose und lachte tröstend, »das wird gar nicht erlaubt.« Er ging und holte eine starke Kette, die spannte er quer vor jene äußerste Plattform. »Ist gesperrt,« sagte er zu den beiden. Gleichmütig und breitspurig ging er dann seinen wiegenden Gang – auf und ab. Die blaue Mütze in den Nacken geschoben, bot er dem Sturme trotzig die Stirn.

Die Wellen sprühten ihren Gischt bis auf die Dielen der Brücke.

»Der Sand wandert. Der Sand fliegt. Fliehen muß er vor dem Odem unsers gewaltigen Freundes. Der Sand wandert – die Dünen hinauf – durch die Luft – über die Gräben. Er füllt die Gräben. Millionen und aber Millionen von Körnchen wandern, fliegen. Was ist Menschenlos? Was ist Menschenschicksal? Ein fliegend Sandkorn Meistern wollen uns die Menschen? Wir lachen der Menschen. Wir spotten der Menschen. Wir jauchzen. Wir brausen. Wir sind von Anbeginn, unser gewaltiger Freund und wir.«

Der Sand wanderte, und die Gedanken des Mannes wanderten. Zurück wanderten sie noch einmal.

Es hatte noch niemand gewußt, wie es um seine Verhältnisse stand, so hatte er gemeint, als er die Schuldensumme, die auf seinem Besitze lastete, wieder und wieder vergrößern mußte. Schon galt es längst nicht mehr den goldenen Berg zu gewinnen, es galt das Ringen ums Dasein. Und allmählich versiegten die Quellen, aus denen er Hilfe geschöpft hatte, und eines Tages stand er vor der furchtbaren Erkenntnis, daß sein Kredit zu Ende war, völlig zu Ende. Auf leisen Sohlen war das Gerücht aus dem Hause geschlichen, und draußen hatte es Flügel bekommen und flog durchs Land. Wo er auch anklopfte und um Hilfe bat, immer war vor ihm schon das Gerücht dagewesen; wie ein Schatten war es vorbeigeflogen. Er bekam als Antwort Achselzucken und bedauernde Worte, aber Geld bekam er nicht.

Es galt das Ringen ums Dasein.

In einer Provinzstadt lebten seine alten Eltern. Sein Vater war pensionierter Offizier. Der Sohn wußte, daß sie sich ein kleines Vermögen erspart hatten »für Tage der Not und Hinfälligkeit« und später für die Enkel. Sie lebten sehr sparsam, sehr anspruchslos, die beiden Alten. Und er war zu ihnen gekommen und hatte sie gebeten – unter einem Vorwande – das Geld ihm anzuvertrauen.

Bei ihnen war das Gerücht noch nicht gewesen; dort anzuhalten hatte es nicht gewagt. Und er wagte nicht, ihnen die Wahrheit zu sagen, weil, allen Selbsttäuschungen zum Trotz, eine innere Stimme ihm zuraunte, daß auch das Geld der Eltern verloren sein würde, wie alles andere bereits verloren war.

Sein Vater hatte ihm zugehört und den Kopf geschüttelt. »Nein, mein Sohn, was du uns da versprichst, das sind Luftschlösser. Ich ziehe auf meine alten Tage nicht in ein Luftschloß.«

Das Herz voll Scham war er wieder gegangen.

Es galt das Ringen ums Dasein.

Er hatte ein verhängnisvolles Talent: Er konnte seine Handschrift verstellen, konnte beliebig fast jede andere Handschrift täuschend nachahmen. Und als das Ringen ums Dasein immer angstvoller, immer verzweifelter wurde, da – in einer dunklen Stunde – war es geschehen. Er hatte sich noch einmal Hilfe verschafft durch – einen gefälschten Wechsel. Und er log sich selber vor, bis die Zeit des Einlösens da wäre, würden auch seine Verlegenheiten zu Ende sein, und er könnte alles begleichen, ohne daß jemand etwas merkte. Aber der Tag, an dem der Wechsel fällig wurde, rückte näher und näher, er stand jetzt ganz nahe bevor, und an ein Einlösen von seiner Seite war nicht zu denken.

Da war er noch einmal zu seinen Eltern gereist. Auch jetzt sagte er ihnen nicht die Wahrheit. Doch die Augen der Alten waren noch sehr klar und sahen tief. Diesmal hatte er das Geld bekommen. »Mein Sohn, über alles die Ehre,« hatte der Vater gesagt. Und die Mutter: »Vergiß nur eins nicht, mein lieber Sohn: ›Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupte alle gezählt.‹«

Er hatte das Geld bekommen, aber es brannte ihn wie Feuer. Daheim angelangt, hatte er es in das tiefste und sicherste Fach verschlossen und seinen Kindern gesagt, sie wollten eine kleine Ferienreise machen. Nur erst etwas Luft bekommen, Zeit gewinnen, überlegen, nachdenken –

Die Wellen schlugen bis auf die Brücke dort vorn, in jener äußersten Ecke.

Ein leidenschaftliches Verlangen erfaßte ihn plötzlich, das, was er litt, jemand anzuvertrauen, einem mitfühlenden, liebevollen Herzen, seinen Eltern oder seinen Kindern, ihnen zu sagen: »Helft mir! Ich kann es allein nicht mehr tragen. Seht, ich stehe an einem Abgrund, und ihr mit mir.« Er sah sich nach seiner Tochter um.

Dort stand sie noch, wenige Schritte von ihm entfernt. Den einen Arm hatte sie um den Pfosten geschlungen, um Halt vor dem Sturme zu gewinnen; mit der andern Hand strich sie sich die unaufhörlich wehenden Haare aus der Stirn. Sie merkte sofort, daß er sie beachtete. Ihr liebliches Gesicht, von der scharfen Luft gerötet, war ihm zugekehrt, und ihre blauen Augen strahlten ihn an. Heiterkeit und Freude lag in dem Blick, und doch auch etwas wie unruhige Sorge, die Frage: »Was ist das heute mit dir?«

Er wußte es ja, sie hing mit ganzer Seele an ihm. Und er würgte hinunter, was er hatte sagen wollen, und sagte statt dessen: »Geh hinein, Hanna. Das hier ist jetzt nichts mehr für dich. Sieh, dort kommt auch Paul, um dich zu holen!«

Paul sah sehr verdrießlich aus. »Das finde ich dumm. Warum steht ihr eigentlich hier? Ich hatte mich so auf diesen Nachmittag gefreut, und nun ist er wie ein zerrissenes Stück Papier.«

»Du hast recht, mein Junge. Hanna geht jetzt mit dir, und dann bleibt ihr zusammen. Geh, Hanna.«

»Und du, Papa?« fragte sie. Das Strahlen ihrer Augen erlosch.

»Ich komme auch – bald – will nur noch etwas Luft schnappen. Es ist darin so schwül. Geht nur jetzt, geht. Hört ihr?«

Sie waren eigentlich nicht allzu gehorsam. Er hatte sie durch seine Nachgiebigkeit verwöhnt; er gab selten bestimmte Befehle. Aber jetzt gehorchten sie still, wie in schweigendem Uebereinkommen. Sie faßten sich wie Kinder bei der Hand und gingen durch die nächste Tür in die schützende Halle. Und sie seufzten beide leise und hätten doch nicht sagen können, warum.

»Wir jauchzen, wir brausen. Was ist Menschenschicksal? Ein fliegend Sandkorn. Wir lachen der Menschen. Wir jauchzen. Wir brausen. Nur einer war, nur einer ist, der stärker ist, als wir. Was ist das für ein Mann, daß ihm Wind und Meer gehorsam sind? Er streckte seine Hand aus, da ward es ganz still. Aber noch ist seine Hand nicht ausgestreckt. Wir jauchzen. Wir brausen.«

Der Sand wanderte und die Gedanken des Mannes wanderten. Wirr stoben sie durcheinander.

Was ist Menschenschicksal? Ein fliegend Sandkorn.

Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupte alle gezählt.

Gab es denn keinen Ausweg mehr aus seiner fürchterlichen Bedrängnis? Aus dieser erstickenden Enge? Keinen außer dem, das mühsam ersparte Geld der Eltern zu opfern? Sie würden ja schweigen, würden ihn nicht verraten, und was einmal geglückt war, konnte noch zum zweitenmal glücken: Er konnte sich durch eine gefälschte Unterschrift von neuem Geld verschaffen und sich noch einmal wieder der wahnwitzigen Hoffnung hingeben, daß seine Verhältnisse sich in der Zwischenzeit heben würden. Das Gewissen, den unbequemen Mahner, kann man ja einschläfern. Dann sinkt die Seele immer tiefer, aus der Wogenbrandung der Not in den Schlamm und Schmutz der Sünde bis auf den dunkelsten Grund. Dann wacht das schlafende Gewissen erst wieder auf in der Stunde des Gerichts. Er schauderte. Sein Gewissen war noch nicht abgestumpft; es schlief noch nicht. Jetzt galt es nicht mehr nur das Ringen ums Dasein; es gab noch etwas Höheres als das Dasein, »Ueber alles die Ehre.« Nein, nicht diesen Ausweg des schändlichsten Betrugs; dann lieber noch den andern, den letzten: sterben.

»Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupte alle gezählt.«

Er blickte verstört um sich und sah wild verlangend ins Weite. Geschehen denn keine Wunder mehr? Ach, es brauchte ja nicht einmal ein Wunder zu sein. Wie oft geschehen im wirklichen Leben Dinge, die wie erdichtet klingen! Dort vorn, dort, wo der Sturm wie rasend fauchte, könnte einer stehen und Hinunterstürzen, und er könnte ihm nachspringen und ihn retten. Und der Gerettete könnte ein reicher Mann sein, ein amerikanischer Dollarfürst, der ihm aus Dankbarkeit aus allen seinen Nöten half. So etwas war doch schon vorgekommen. Aber es geschah nichts. Oder es könnte ein Schiff in Not sein, in Gefahr zu scheitern. In der Nähe der Küste gab es Klippen. Es könnte gelten, Schiffbrüchige zu retten. Wie gerne wollte er sich dann der Rettungsmannschaft anschließen! Und wenn er nicht mehr zu helfen vermöchte, könnte er vielleicht bei dem Rettungswerk mit Ehren untergehen, in Ehren sterben. Aber es geschah nichts. Das Meer war eine kochende Wasserwüste, auf der weit und breit nichts Lebendiges mehr zu sehen war. Es geschah nichts. Der Tod flieht die, die ihn suchen. Es geschah kein Wunder. Menschenschicksal ist ein fliegend Sandkorn.

Es gab ja doch aber Mittel und Wege, ihn zu zwingen, den Tod. –

Der Mann von der Rettungsstation kam auf seinem Wächtergange wieder einmal vorüber. Er hielt an. Seine leuchtend blauen Augen hatten jetzt etwas Finsteres. Die schienen den andern Mann zu fragen: »Warum stehst du noch immer hier? Was willst du hier?« Er zeigte nach der Kette. »Hier ist gesperrt, Herr,« sagte er bedeutungsvoll. Er mußte die Worte schreien.

Der andere winkte. »Ich weiß.« Und er sah ihm nach, wie er wieder seinen wiegenden Gang ging – gleichmütig, trotzig, aber wachsam – und in seinem Herzen regte sich etwas wie Bewunderung und Neid. Dieser Seemann hatte wohl nicht allzu viel gelernt; er stand an Wissen jedenfalls unter ihm; aber was er gelernt hatte, das verstand er gründlich; was er konnte, das konnte er recht, und das übte er aus mit einer Treue, die für ihn selbstverständlich war. Und darum stand er doch über ihm, dem andern. Er war ein ehrlicher Mann, und ehrend war seine Arbeit, die Pflicht, über gefährdete Menschenleben zu wachen oder auch sie zu retten mit Gefahr des eigenen Lebens.

»Ueber alles die Ehre.«

Nein, nicht unehrlich, nicht freventlich sterben; leben und wieder gutmachen. Und da gab es nur ein Gutmachen: die Folgen auf sich nehmen. Dann war er zwar ehrlos vor der Welt, aber doch ehrlich vor Gott und seinem Gewissen, vor seinen Eltern und seinen Kindern.

Ehrlos vor der Welt. Barmherziger Gott, dazu gehörte mehr Mut, als in die brausende Tiefe zu springen oder sich eine Kugel in den Kopf zu schießen.

»Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupte alle gezählt.« Der das verheißen hatte, der würde auch bei ihm bleiben, und ihm die Kraft geben, den rechten aber furchtbaren, schweren Weg zu gehen, der würde auch seinen Kindern helfen, seinen armen Kindern – . Zwei Tage lang wollte er ihnen noch ihre glückliche Unwissenheit lassen, dann wollte er sie zu seinen Eltern bringen und sich selbst dem Gerichte stellen. Der Entschluß war noch nicht die Tat, aber er wirkte befreiend. Wie Schlacken fiel es von ihm ab, alle die Qual und Verzweiflung. Es wollte Friede werden. Er horchte nicht mehr auf das Lied der Wellen, das wilde Lied. Er lauschte der Stimme des Friedens, die wie aus der Ferne hergeweht vor seinem inneren Ohre klang. Und er ging zu seinen Kindern.

Das Konzert war zu Ende. Die Besucher hatten sich in die Restauration vorn am Eingange zurückgezogen. Dort spürte man nicht das Zittern der Brücke; denn der Sturm hatte eine Gewalt erreicht, wie noch im ganzen Jahre nicht. Aengstliche Gemüter hatten es vorgezogen, die Brücke ganz zu verlassen und nach Hause zu gehen; aber viele waren geblieben und aßen hier ihr Abendbrot. Auch die drei.

Der Vater war jetzt so mild, so freundlich, so ruhig heiter. Paul lachte und schwatzte, schwärmte noch von der Musik und versuchte sich in der Kritik an den Umsitzenden. Hanna lächelte den Vater an und sagte im stillen einmal über das andere: Gottlob! Sie hatte ja nicht gewußt, was es gewesen war, aber irgend etwas Unbekanntes, Schreckliches hatte ihr Herz bedrückt, und jetzt war es verschwunden. Gottlob!

Der Vater rief den Kellner. Er wollte bezahlen, und dann wollten sie in ihr Quartier gehen. Er suchte in seinen Taschen und erschrak. Zwar das nötige Geld fand er noch zusammen, aber seine Brieftasche fehlte. »Ich muß sie vorn auf der Brücke verloren haben. Ich war da so in Gedanken, habe sie vielleicht mit dem Taschentuche herausgerissen, ohne es zu merken. Unbedingt muß ich sie wiederhaben. Ich will sie suchen.«

Paul wollte statt seiner gehen, aber er wehrte ab. »Nein, das muß ich selber tun. Bleibt ruhig hier und wartet; ich bin in ein paar Minuten wieder da.«

Auf der Mitte der Brücke war eine Sperre. Wer hindurch wollte, mußte zehn Pfennig bezahlen. Der Mann in dem Wärterhäuschen fragte erstaunt: »Aber was wollen Sie denn noch draußen, mein Herr, jetzt gegen Abend und bei diesem Sturme?«

»Ich habe etwas verloren und muß es suchen,« antwortete er.

Da ließ der Mann ihn durch.

Er kam ungehindert durch die Halle, hinaus auf den Brückenkopf.

Der Matrose ging nicht mehr auf und ab. Drüben vor dem großen Fernrohr stand er und spähte hindurch. Er bemerkte ihn gar nicht.

Ja, da lag die Brieftasche, ganz versteckt in der Ecke, wo er zuletzt gestanden hatte. Noch hatte sie niemand gesehen und berührt. Er hob sie hastig auf und barg sie an ihrem Orte.

Was hatte der Matrose dort zu sehen? Er suchte mit dem Fernrohr den Horizont ab. War doch vielleicht ein Schiff in Not? Könnte doch vielleicht?

Er trat bis dicht an die Kette; auch er wollte sehen, was zu sehen war. Wie die Brücke zitterte!

Was gab es dort zu sehen? Könnte doch vielleicht – vielleicht –? Geschah doch vielleicht ein Wunder –?

Er hatte die Kette hochgehoben und war unter ihr durchgeschlüpft. Er wußte kaum, daß er das getan hatte. Und nun sah er umher. Warum stand er denn hier? Was wollte er hier? Auch das wußte er nicht. Er spähte, wartete. – Wie die Brücke zitterte! – Er spähte, wartete in atemloser Spannung. – »Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupte alle gezählt.« –

»Er schweigt, der Stärkere, der Stärkste. Wir haben die Macht. Wir toben. Wir brüllen.«

Es war jählings geschehen. Ein Bersten und Krachen, ein schriller Schrei. Die äußerste Plattform und der, der darauf stand, sanken in die brausende Tiefe. –

Die Unglücksstätte füllte sich mit Menschen. Es war wunderbar, wie trotz des Tosens in den Lüften die Kunde ihren Weg fand. Sie kamen und standen und sahen zu, wie die Rettungsmannschaft arbeitete – jener eine und zwei andere, die auf sein Zeichen gedankenschnell zur Hand gewesen waren. Sie brachten ihn auch herauf, die wackeren Männer, aber er war tot.

Die Kunde fand auch ihren Weg zu Hanna und Paul. Angstvoll kamen sie gelaufen, von Entsetzen gejagt. Da hatte man ihn schon in die Halle getragen. Mitleiderfüllte Menschen drängten sich um die beiden, fragten und trösteten. Aber sie waren wie erstarrt im Schmerz; die tröstenden Worte glitten an ihnen ab. Nur eins drang in das Ohr der Tochter. Jemand fragte: »Ob er es absichtlich getan hat?«

Und der Matrose, dessen Kleider noch trieften, antwortete: »Im Sinn gehabt hat er es wohl, aber getan hat er es nicht, sonst stände ja das vorderste Brückenteil noch.« Er fügte noch etwas hinzu wie: Es wäre besser gewesen, wenn er grob geworden wäre.

Doch darauf hörte Hanna nicht mehr, und auch jenes eine Wort hastete nur in ihrem Ohre. Erst viel später drang es in die Tiefe ihrer Seele.

Die beiden Geschwister wußten auch kaum, wie ihnen die nächsten Stunden vergangen waren. Fremde Menschen hatten sich ihrer angenommen, ihnen Obdach gegeben und sie verpflegt, und irgend ein Beamter hatte an den Großvater telegraphiert. Sie hatten erfahren, daß die Menschen freundliche Herzen haben und gern helfen. Aber auch das erkannten sie erst viel später.

Am andern Tage standen sie beide Hand in Hand am Strande; nicht auf der Brücke; vor der graute ihnen. Sie wichen nicht voneinander. Wo der eine ging und stand, da war auch der andere. Diese gegenseitige Nähe war jetzt das einzige, das ihnen etwas Trost gewährte. Sie warteten auf die Großeltern. Der Großvater hatte zurücktelegraphiert, sie würden beide kommen.

Noch war das Meer aufgeregt. Noch rollten die Wellen und trugen weißen Schaum, aber sie tobten nicht mehr.

Finster starrte Hanna aus sie nieder. »Ich hasse euch. Ihr seid schuld daran.«

»Wir rollen und müssen verstummen. Was ist das für ein Mann, daß ihm Wind und Meer gehorsam sind? Er hat seine Hand ausgestreckt, da wird es still. Wer hat des Herrn Sinn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen?«

Es war nach Jahren, da stand Hanna wieder auf der Brücke. Längst war, was damals zerstört worden war, wieder hergestellt, fester und schöner, als vorher. Hanna hatte das Grab ihres Vaters besucht. Er war hier beerdigt worden. Die Tochter wußte jetzt, daß er damals in furchtbarer Seelenqual hier gestanden hatte. Durch den Großvater wußte sie es. In militärischer Knappheit hatte der alte Herr den Kindern mitgeteilt, was die Untersuchung daheim ergeben hatte: »So und so ist es. Was wollt ihr nun: Daß ich euch euer Erbe rette, oder daß eures Vaters Name rein bleibt?«

Und sie hatten beide wie aus einem Munde geantwortet: »Daß sein Name rein bleibt.«

Der alte Herr hatte genickt. Kein Wort davon, welches Opfer er selber und die Großmutter brachten, »Ueber alles die Ehre.« Auch eine Heimat hatten die Verwaisten bei den Alten gefunden, freilich eine bescheidene Heimat, in der die Anspruchslosigkeit manchmal fast dem Mangel ähnlich sah. Aber ein unbesiegbares Gottvertrauen verjagte die Schatten und machte das Schwere leicht. Aus den klaren alten Augen strahlte das Licht in die jungen über, wenn die sich verdunkeln wollten.

So war es gekommen. Die beiden Geschwister hatten erfahren, daß eine starke unsichtbare Hand ihnen die Wege ebnete. Sie hatten auch wiederum erfahren, daß die Menschen doch freundliche Herzen haben und gern helfen; man muß nur erst selber einen Sinn dafür haben. Verschiedene Stipendien hatten es Hanna ermöglicht, Lehrerin zu werden, und Paul, daß er das Gymnasium nicht vor der Abgangsprüfung zu verlassen brauchte. Dann war er zur Post übergegangen. Die Musik freilich hatte er daran geben müssen; die war fortan nur für die Feierstunden. Und auch Hanna lebte der Arbeit. Aber das Leben war darum doch nicht düster. Der Jugend blühen Rosen an allen Wegen, und daheim bei den Großeltern leuchtete das Licht.

Auch heute war es zugig auf der Brücke, obgleich das Meer so blau und glänzend war und nur leise atmete. Die Haare des Mädchens wehten. Sie strich sie immer wieder glatt und sah in die schimmernde Unendlichkeit, das Herz voll Fragen. War es Barmherzigkeit gewesen, die ihren Vater damals so jäh aus dem Leben rief? Hatte diese Barmherzigkeit gewußt, daß er doch vielleicht zu schwach gewesen wäre, um den Kampf mit feindseligen Verhältnissen siegreich zu bestehen, daß ein vielleicht heldenhafter Entschluß nie zur Tat geworden wäre oder doch nur zur kümmerlichen Tat? Und hatte sie ihn davor bewahren wollen, damit er nicht ewigen Schaden litte? Und wenn sie diesen einen bewahrt hatte, warum denn nicht auch andere, alle? Hanna kannte jetzt genug vom Leben, um zu wissen, daß das nicht immer geschah. Wie viel tat da die Schuld, der Trotz der Herzen? Und wie viel vermochte die Fürbitte? Fragen und keine Antwort; Rätsel und keine Lösung.

Leise atmeten die Wellen.

»Wir schlummern und träumen Die Hand des Höchsten kann alles ändern. Er macht seine Diener zu Feuerflammen und die Wasserwogen zu seinen Dienern. Aber wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Wir schlummern und träumen.«


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