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Die schwarze Kuppe.

Erzählung von F. Meister.

 

Martha, dort zieht ein Bö herauf! Und sieh den Schoner dort draußen! Wenn das Volk an Bord auch nur ein halb Lot Verstand im Kopf hat, dann hält es auf die Bucht hier ab, ehe die Bö das Fahrzeug im Genick hat.«

»Ja, das halbe Lot Verstand aber haben die dort nicht«, erwiderte Martha, nach dem Schiff hinausblickend, »denn sieh nur, sie gehen über Stag und laufen, meiner Seel'! wieder in die offene See hinaus!«

Martin beschattete seine Augen mit der Hand, lugte scharf über das Wasser und schüttelte dann unwillig den Kopf.

»Wahrhaftig! Sollte man's glauben? Hol' mir doch meine Jacke, Martha. Ich will hinunter zum Strande und das Boot klar machen.«

Am unteren Rande der großen, schwarzen Wolke, die sich mit rasender Schnelligkeit über das Firmament ausbreitete, brach ein blaßgelber Sonnenstrahl hervor und beleuchtete auf einen kurzen Augenblick grell die dicht gerefften Segel des kleinen Schiffes, die weißen Kämme der schwarzen Wogen und Martins aufgeregtes Gesicht.

»Da treiben sie schon nach Lee und auf die Klippen los!« rief er.

Ein heftiger Windstoß trieb eine Schar rasselnder, dürrer Blätter über seinen Kopf dahin und der See zu.

»Man sollte wahrhaftig meinen, daß unser Herrgott manche Leute nur geschaffen hat, damit auch Dummköpfe in der Welt sind!«

Damit rannte er hinunter zu seinem Boote, warf Haken und Leinen hinein und stand dann neben demselben, bereit, im Augenblicke der Not sofort abzustoßen.

Der Schoner hatte von neuem gewendet und näherte sich wieder der Bucht.

»Herrgott! Warum bleibt das Volk nun nicht draußen, wenn es doch die Küste nicht kennt! Und was für Leinwand sie noch stehen haben!«

Und in halber Verzweiflung beobachtete Martin die schwachen Versuche der Mannschaft, das Fahrzeug auf den kommenden Sturm vorzubereiten, der demselben schon dicht auf dem Fersen war.

»Ohio! Martin! Siehst Du den Schoner da draußen? Die werden Salzwasser in die Augen kriegen, ehe sie hier binnen kommen! Hätten's sollen zehn Minuten früher versuchen!«

Der Sprecher, ein alter, stämmiger Fischer, saugte an seiner kurzen Kalkpfeife und lehnte sich lässig gegen sein Boot, dabei das Fahrzeug nicht aus den Augen verlierend.

»Da geht er hin!« schrie er dann, als der Sturm sich plötzlich mit heulender Gewalt auf das kleine Schiff stürzte und dasselbe der Brandung über den Klippen zutrieb.

»Ah! ... Noch nicht ... der Wind ist wieder herumgeschraalt ... aber jetzt ... da ... da! Vorwärts, Martin! Ich gehe mit!«

Und tief vornübergebeugt, der herabgießende Regen peitschte ihnen gerade ins Gesicht, ruderten die beiden Fischer durch die tosenden Wogen auf die brandenden Klippen zu, wo in dem sprühenden Gischt die Masten und Rahen des Schoners nur noch undeutlich zu erkennen waren.

Der Nebel wurde dichter: der Wind sprang von einem Strich des Kompasses zum andern, jetzt schnob er ihnen in das Gesicht, jetzt peitschte er ihnen den salzigen Schaum ins Genick, bis sie, obgleich seit Kindesbeinen mit dem Wasser der Küste vertraut, kaum noch wußten, wo sie sich befanden.

»Wir müssen warten, bis sich der Nebel hebt, Heinrich,« sagte Martin, »wir tappen hier im Finstern.«

Und mit den Riemen über dem Wasser saßen sie und suchten den Nebel zu durchspähen und horchten gespannt auf jeden Laut, der durch das Geheul des Sturmes und das Wogengebrause in ihr Ohr dränge.

Plötzlich rief Martin:

»Horch, Heinrich! da drüben! luvwärts!«

Eifrig und schweigend ruderten sie einige Minuten in der angegebenen Richtung weiter.

»Mir war's, als hörte ich einen dumpfen Stoß und ein Krachen, als ob er aufgelaufen sei«, sagte Martin atemlos.

Heinrich Lassen lauschte angestrengt.

»Streich', Martin, streich'!« rief er plötzlich, indem er zugleich selber die entsprechende Rückbewegung mit seinem Riemen ausführte. »Dort ist die Brandung über den Klippen!«

»Gott sei den Leuten gnädig!«

Heinrich legte die Hand an sein Ohr. Ein Schrei drang aus dem Nebel zu ihm herüber.

»Hoi! Ahoi!« rief er antwortend. Dann sagte er:

»Martin, wo ist der Schoner?«

»Das weiß Gott!«

Der Nebel wurde lichter und es näherten sich ihnen mehrere Boote.

»Der Schoner sitzt auf, drüben, bei der schwarzen Kuppe!« schrie ein Fischer. »Es steht eine hohe Brandung dort.«

»Und die Leute?« fragte Martin.

»Bei der Unterströmung, die heute läuft, kommt keiner davon,« antwortete der Fischer.

Es entstand ein dumpfes Stimmengewirr in den Booten und einige der Männer erbleichten. Dann rief Martin:

»Hört, Maaten, fahrt ihr um die schwarze Kuppe südlich herum, und Heinrich und ich, wir wollen auf der andern Seite suchen. Der Wind ist ein paar Strich herumgeschraalt und der Nebel muß auch gleich steigen. Es kann ja sein, daß wir noch den einen oder den andern auffischen.«

»Martin hat recht! vorwärts, Leute!«

Die Fischer legten sich kräftig in die Riemen und die Boote schossen unter dem festen, stetigen Druck pfeilschnell davon, um wie Gespenster in der weißdunstigen Finsternis zu verschwinden.

»Nun, Heinrich! Uns beiden bleibt das Schwerste. Laß uns nur dem Klippenkamm nicht zu nahe kommen. Luv, Heinrich, luv, mehr an die schwarze Kuppe heran.«

Der Nebel hob sich vor dem Winde wie ein Schleier, und die zackige, von der kochenden Brandung umtoste Klippenreihe zeigte sich ihren Blicken.

»Wir sind hier nichts nütze,« sagte Heinrich, auf die Schaumlinie deutend. Bei dieser Brandung und der Unterströmung ist sicher keiner mehr am Leben.«

Martin blickte, traurig den Kopf schüttelnd, hinüber zu der glatten, flach gewölbten, von der weißen Brandung fast ganz überbrausten, dunklen Klippe, welche bei ebbendem Wasser wie ein kleiner Dom aus der Flut ragte und im Munde der Fischer und Seeleute des Ortes die schwarze Kuppe genannt wurde. Plötzlich schoß eine hohe Röte in seine Wangen.

»Streich aus, Heinrich!« rief er. Noch mehr ... noch näher ... so, vorsichtig! ... Dort liegt etwas auf der Kuppe!«

Schnell wie der Blitz sprang er aus dem Boote auf die flache Klippe und bückte sich nach einem auf derselben liegenden Gegenstand.

»Ein Kind! Heinrich, ein Kind!« schrie er jubelnd und hob das kleine Wesen sorgfältig auf. Dann sprang er mit seiner Bürde wieder in das Boot.

»Du arme Kleine! Sie ist ohnmächtig und kalt! Vorwärts, Heinrich, streich' aus wie noch nie in deinem Leben! Armes, kleines Schätzchen! Warte nur, Martha wird dich schon wieder lebendig machen!« ...

Das aber verursachte Martha viel, viel Mühe. Das kleine Leben war schon so weit fortgewandert, so dicht bis an die Pforten des Himmels, daß es nur sehr zögernd wieder zurückkehrte. Endlich aber belohnte ein großer, verwunderter Blick die Anstrengungen der treuen Wärterin. Die Augen des Kindes wanderten von der einen zu dem andern, rings im Zimmer umher ... dann sagte es ganz ruhig:

»Bei Euch gefällt es mir.«

»Wahrhaftig, Liebchen?« rief Martin und eine sonnige Freude strahlte von seinem ehrlichen, männlichen Gesicht. »Na, das freut mich aber unbändig!«

»Aber wer bist Du denn?« fragte die Kleine ernsthaft und richtete ruhig und ohne die geringste Furcht ihre Augen auf die seinen.

»Wer ich bin? Na, ich bin ja der Onkel Martin,« erwiderte er mit gewaltigem Kopfnicken und dabei blickte er sie so freundlich und so ermutigend als möglich an.

»O – und Du?« hier wendete sich ihr Köpfchen zu Martha, »Du bist die Tante Martin ... ich weiß schon.«

Damit schloß sie ihre Augen und schlief ein.

»Mein schönes Schätzchen!« flüsterte Martin und nahm eine ihrer kleinen Hände vorsichtig und zärtlich zwischen seine harten Finger. »Wie alt mag sie wohl sein, Martha?«

»Ich denke ungefähr fünf Jahre, auf dem Medaillon an ihrem Halse steht wenigstens etwas vom »fünften Geburtstag«. Ist da aber sonst weiter niemand gefunden worden?«

Martin schüttelte den Kopf.

»Der Schoner sitzt drüben, jenseits der schwarzen Kuppe, noch aber haben sie keinen von der Mannschaft, weder lebendig noch tot, gefunden. Vielleicht wird nach dem Sturme einer oder der andere an Land gespült.«

Es wurde aber niemand mehr an das Land gespült.

Aus des Kindes abgerissener Erzählung entnahm man, daß es sanft geschlafen habe, als der Schoner strandete. Einige Tage noch plauderte es von seinem Papa, der kommen und es holen würde; als es denselben aber immer vergeblich erwartete, erzählte es Martin, daß sein Papa wieder auf das große Schiff gegangen sei, zu seinen Matrosen, und niemand suchte ihm diesen Glauben zu nehmen.

Die Wochen vergingen, es vergingen die Monde, und das Kind hatte sich vollständig an seine neue Umgebung gewöhnt. Eines Tages saß die Kleine auf der Schwelle der Hüttentür im warmen Sonnenschein. Sie hatte Martin erzählt, daß ihr Papa sie Flora, ihre Mutter aber immer »Blümchen« genannt habe. Sie folgte mit ihren großen, nachdenklichen Augen dem Fluge der Möwen und den dahin segelnden Fischerbooten, unter denen sie Onkel Martins Boot immer schon in der weitesten Entfernung zu erkennen pflegte.

Plötzlich sagte sie:

»Erzähle mir etwas, Onkel Martin.«

Das war ihre stete Bitte, und der Fischer, dem nur wenige Bücher außer dem großen Buche der Natur offenkundig waren, erzählte ihr gern immer wieder von jenen alten Zeiten, in denen noch die Engel auf Erden wandelten und Gottes Sohn zu den Menschen redete. Sie kannte noch nichts aus der Bibel, und mit offenen Lippen und eifrigen Augen lauschte sie, wenn Martin in seiner einfachen Weise von ihm erzählte, der über das Meer geschritten und ein Freund der armen Fischerleute gewesen sei; und dann kam wohl aus ihrem Kindermunde die Frage, die sich als Schmerzensschrei schon aus manch wundem Herzen gerungen:

»Warum ist dies alles vorüber, warum geschieht dies jetzt nicht mehr, Onkel Martin?«

Der brave Fischer aber antwortete dann in seiner geduldigen Weise:

»Warte nur, Liebchen, warte nur noch ein Weilchen, dann werden wir, Du und ich, ihn schon sehen.«

Niemand kümmerte sich darum, mit welchem Rechte er das Kind behielt, und wenn die Fremden, denen Floras große Schönheit auffiel, sie fragten, wem sie angehöre, dann antwortete sie:

»Onkel Martin hat mich da draußen in der See gefunden, und darum gehöre ich ihm.« – – – –

*

Die Jahre vergehen schnell.

Es ist ein warmer, heller Sommernachmittag.

Martins Boot liegt regungslos in einer kleinen Felsbucht; der Fischer hat seine Angeln ausgeworfen; Flora sitzt im Stern des Bootes und beobachtet ihn. Sie hat ihren Hut abgenommen, die schrägen Sonnenstrahlen durchschimmern ihre goldenen Locken und liebkosen ihre weißen Arme und die beweglichen, kleinen Hände.

»Komm, Onkel Martin; bist Du noch nicht bald fertig? Tante Martha wird ungeduldig werden.« ...

Der Maler hoch oben auf dem Abhang, der, von unten ungesehen, die Gruppe skizziert, sucht hastig sein Werk zu beenden ...

»Dauert nicht mehr lange, Blümchen, dauert nicht mehr lange.«

Wieder lehnt sie sich zurück und folgt dem Fluge der weißen Möwen draußen auf der hohen See. Der goldige Sonnenglanz wird schwächer, und ein weicher Ausdruck verklärt das junge, reizende Gesicht. In Martins Seele aber ist ein seltsames, unbestimmtes Gefühl erwacht, ein Etwas, was ihm die ganze Welt fast fremd erscheinen läßt, das sein starkes Herz mit Lust und sanftem Weh erfüllt. Er beugt sich zu ihr hinüber und berührt zärtlich ihre Hand.

»Jetzt wollen wir nach Hause, mein schönes Blümchen.«

Das Mädchen fährt aus ihrer Träumerei auf und lächelt ihn an, nun wieder ganz ein Kind ...

»Das Gesicht dieses Mädchens muß ich haben!« ruft es in dem Maler, und als Martin die Riemen ergreift, tönt ein lautes Halloh von dem Felsenhange hernieder. Er blickt empor und sieht einen Menschen in eiliger Hast von Vorsprung zu Vorsprung herabspringen und ihm winken.

»Wir wollen einen Augenblick warten, Blümchen, sonst bricht sich der junge Mensch dort noch den Hals.«

Unten angekommen zieht der Fremde höflich seinen Hut vor Flora, die in reizender Verwunderung und Verwirrung errötet.

»Können Sie mir sagen, lieber Freund«, redet er dann Martin an, wo ich hier im Orte wohl auf acht Tage ein Unterkommen finden kann? Ihre Küste hier ist so herrlich, und ich bin Maler ...«

Hier unterbricht er sich plötzlich und blickt auf Flora, die mit niedergeschlagenen Augen ihre Hand in das klare Wasser taucht.

›Welch ein himmlisches Gesicht!‹ rief er innerlich in froher Begeisterung.

»Ja, vielleicht nimmt Sie Heinrich Lassen's Frau auf,« antwortete der Fischer, »wenn Sie sich mit Fischen und Eiern und so was begnügen wollen.«

»O, selbstverständlich!«

Der Fremde ist bereit, alles nur Erdenkliche zu essen, wenn man ihm nur sagen wollte, wo Heinrich Lassen's Frau zu finden ist. Martin macht ihm in seiner natürlichen Höflichkeit den Vorschlag, in seinem Boote Platz zu nehmen, und so hat er eine ganze halbe Stunde das Glück, neben dem ersehnten Modell sitzen zu dürfen und dessen leiser, süßer Stimme zu lauschen, soweit es ab und zu auf seine lebhafte Unterhaltung eingeht. Auch legt er Flora sein Skizzenbuch auf den Schoß und zeigt ihr seine letzte Arbeit.

Wie leuchten ihre Augen!

»Das ist ja Onkel Martin! Und da ist das alte Boot ... aber so seh' ich doch nicht aus ... soll ich denn das sein?«

»Gewiß! Sie machen da meiner Geschicklichkeit kein sonderliches Kompliment; warum ist Ihnen das nicht ähnlich?«

»Das ist viel zu hübsch,« antwortete Flora mit scheuem Erröten, wodurch sie ihrem entzückten Beobachter noch zehnmal reizender erscheint.

Dann knirschte der Kiel des Bootes auf dem Muschelkies des Strandes; der Maler entfernt sich in der Richtung nach Heinrich Lassen's Hütte, die Martin ihm bezeichnet hat, und blickt an der Biegung des Pfades zurück, um die Beiden das steile Ufer emporklimmen zu sehen. Klar zeichnen sich die Gestalten gegen den Abendhimmel ab, der alte Fischer noch immer hoch aufgerichtet und kernig, mit erhobenem Kopf und festem Schritt, das junge Mädchen bald voranhüpfend, bald wieder mit kindlichem Vertrauen sich an die Hand des Alten hängend; so verschwinden sie unter den abendlichen Schatten der Bäume, und mit einem Seufzer verfolgt der Maler seinen Weg.

Der nächste Morgen war sonnenklar und frisch; ein leiser Wind kräuselte die blaue See und jagte dunklere Tinten über die azurne Fläche. Außerhalb der Klippen schimmerten einige Segel weiß in der Morgensonne. Der Schaum auf den kleinen, glänzenden Wellen sah aus wie zierliche Federkronen; die Möwen schossen kreischend hierhin und dorthin und ihre langen Flügel blinkten im Sonnenlicht.

Leonhard, der Maler, der den Strand entlang geschlendert kam, stand plötzlich vor Martin und seinem »kleinen Blümchen«, die traulich unter einem alten Boote beisammen saßen, welches schon seit langen Jahren als Wrack auf dem Strande lag.

»Guten Morgen, junger Herr«, sagte Martin, »Sie sind früh auf.«

Und er schickte sich an, aufzustehen.

»Bleiben Sie ruhig sitzen; darf ich vielleicht bei Ihnen Platz nehmen? Hier ist es kühl und schattig unter dem alten Fahrzeug und die Sonne brennt schon heiß hernieder.«

»Sie sind willkommen, müssen aber mit dem Sand hier vorlieb nehmen; wir haben nicht viel Hausgerät in unserer Sommerwohnung, nicht, Blümchen?«

Blümchen lächelte schüchtern und schob einiges Seegras zurück, um für Leonhard Raum zu schaffen.

»Kommen Sie oft hierher?« fragte der junge Mann, indem er sich behaglich auf dem Sande ausstreckte.

»Ja, junger Herr, Blümchen und ich, wir sind an jedem schönen Tag hier. Wir können ohne dieses alte Boot gar nicht mehr leben, nicht wahr, Kind?«

Flora lachte und schüttelte den Kopf; dann wunderten ihre Augen wieder über die schimmernden Fluten; Leonhard folgte ihrem Blicke, und der Glanz rings umher verklärte sein feines, durchgeistigtes Gesicht.

Alle schwiegen einige Augenblicke, dann wendete sich Leonhard zu Martin:

»Beinahe vergesse ich den Zweck meines Kommens. Ich wollte Sie bitten, mich in ihrem Boote eine Strecke hinauszufahren, damit ich eine Ansicht der Küste mit diesem blitzenden Wasser im Vordergrunde erhalte; Sie können ja fischen, während ich male.«

»Hm,« antwortete der Alte langsam, »nicht, daß ich's nicht gerne täte, im Gegenteil, und ich will auch nicht unhöflich sein, aber müßten Sie nicht eigentlich des jungen Lassen Boot nehmen? Sie wohnen bei ihm, und er ist ein Anfänger; die Fischerei geht schlecht in diesem Jahr und er braucht's eher als ich ... und so möcht' ich's lieber nicht tun.«

»Gut; wenn Sie nicht mögen, will ich nicht weiter in Sie dringen. Wo aber finde ich jetzt den jungen Lassen?«

»Ich werde ihn holen.«

Und Martin ging eilig davon, sehr wohl zufrieden mit dem errungenen Erfolge.

In seiner Abwesenheit bemühte sich Leonhard ernstlich, Flora's Schüchternheit zu überwinden, und dies gelang ihm so gut, daß der zurückkommende Martin beide in der heitersten Unterhaltung fand.

»Da ist der Onkel Martin! Und nun muß ich zur Tante Martha.«

Leonhard streckte ihr seine Hand hin.

»Müssen Sie? Dann adieu, Fräulein ...«

Sie verstand ihn.

»Ich heiße Flora. Einen andern Namen habe ich nicht. Adieu.«

»Hier ist er, junger Herr!« rief Martin, in dessen Kielwasser der junge Heinrich Lassen, eine vergrößerte Ausgabe des alten Heinrich Lassen, herankam ...

»Vielleicht kann ich aus diesem jungen Riesen einige nähere Nachrichten über die kleine Fee herauspumpen«, dachte Leonhard, als er im Boote gegenüber dem großen, freudestrahlenden Gesichte des jungen Lassen Platz nahm. Er täuschte sich nicht; bald wußte er Flora's Geschichte, soweit sie eben bekannt war; und nun verging kein Tag, an dem er keinen Vorwand gefunden hätte, in Martins Hütte vorzusprechen. Bald brachte er eine seltene Muschel, bald mußte er Flora eine Skizze zeigen, bald Martin um welche Auskunft fragen. Es war die alte, alte Geschichte ... er hatte Länder und Meere durchmessen, um endlich hier auf diesem entlegenen Fischereilande die eine, die längst Ersehnte, zu finden.

Die Tage wurden zu Wochen, und wenn abends die hellen Sterne über dem Meere aufgingen, dann erzählte er ihr von seiner Heimat, die so öde und einsam sein würde, wenn Flora nicht mit ihm käme, um dieselbe zu teilen. Wenn er so bat und flehte, dann wendete sie ihre scheuen, süßen Augen ab, aber die Röte ihrer Wangen antwortete ihm genug. Martin, der sie eines Abends kopfschüttelnd erwartete, wunderte sich darüber, daß seines Blümchens Augen so tränennaß waren und ihre Stimme so seltsam leise bebte, als sie ihm »Gute Nacht« wünschte ...

»Onkel Martin, komm' doch aus ein Weilchen mit mir zum Strande hinunter, es ist so wunderschön und frisch heute Morgen!«

Und Flora führte ihren willigen Gefangenen zu dem Orte, den sie beide am liebsten hatten, unter das alte Boot, das, obgleich jetzt viel zerfallener und verwitterter, als zu der Zeit, da sie noch ein glückliches Kind gewesen, ihnen noch immer Schutz genug vor Sonne und Wind gewährte.

»Nun, Blümchen, was gibt's?«

»Erzähle mir noch einmal, wie Du mich damals fandest, Onkel Martin.«

Und wieder erzählte er ihr von jener gewaltigen Böe, von der brüllenden See, von der fürchterlichen Brandung über den Klippen, und wie er sie auf der schwarzen Kuppe in Sturm und Regen gefunden.

»Ich war einsam damals, mein süßes Blümchen«, fügte er weich und zärtlich hinzu, »und Du kamst mir wie ein Geschenk Gottes, wie ein warmer Sonnenstrahl am kalten Wintertage.«

Sie legte ihre Hand in die seine und er drückte vorsichtig und liebevoll ihre zarten Finger.

»Also auch mein armer Vater mußte ertrinken?«

»Ja, Liebchen; wir sahen und hörten niemals mehr etwas von der Besatzung des Schoners.«

Des Mädchens Gesicht wurde traurig. Aber indem sie hinausblickte in die sonnenblaue Ferne, kam ein sinnender, seliger Ausdruck in ihre Augen und ihren Mund umspielte ein schwaches Lächeln.

Die Möven saßen schwatzend und kreischend auf den Klippen. Man hörte deutlich das Plätschern der Wellen an den Felsen. Draußen schaukelten zwei Fischerboote auf dem Wasser. Fern unten, auf dem weißen Sand des Strandes, schritt die Gestalt eines Mannes heran.

Martin betrachtete das Mädchen mit ernster Aufmerksamkeit. Er verstand das sinnende Schweigen nicht, das in letzter Zeit so oft über sein kleines Blümchen kam. Ahnte er, daß sie dann an niemand weniger dachte, als an ihn? Sie fuhr leise auf, als er sie leise anredete und dabei zögernd ihren Arm berührte.

»Was hast Du in Deinem hübschen Kopf, mein Blümchen? Magst Du's dem Onkel Martin nicht sagen?«

Da warf sie sich an seine Brust, verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter und erzählte ihm. daß sie dem Maler versprochen habe, ihm über das Meer zu folgen.

»Er ist so einsam, wie ich,« schloß sie, »und ich habe ihn so lieb, Onkel Martin.«

Das starke, treue Herz zog sich in schmerzlichem Krampf zusammen, die guten, freundlichen Augen verschleierten sich, während seine Hand wieder und immer wieder über die glänzenden Locken streichelte, die an seiner Brust ruhten; denn in diesem Augenblick, da die Gewißheit, sie auf immer verlieren zu müssen, vor ihn trat, wurde ihm klar, daß er ohne sie nicht leben könne.

»Laß mich aufstehen, mein Blümchen,« sagte er; »ich will bei Seite gehen und darüber nachdenken.«

»Bist Du mir böse, Onkel Martin?«

Und ihre weichen Lippen berührten liebevoll seine Hand.

»Nein, Liebchen, nein; warum sollte ich böse sein?« antwortete er ernst; aber als er dahinging, war sein Kopf gebeugt, sein Schritt schleppend und schwer ... die letzte Viertelstunde hatte ihn mehr altern lassen, als alle die vorhergegangenen Jahre.

Er kam zurück und fand einen andern auf seinem Platz unter dem Boote, eines andern Hand tändelte mit den goldenen Locken, in denen jedes Haar ihm so teuer war. Man vermißte ihn nicht, und mit einem schweren Seufzer wendete er sich zur Seite. Flora aber hatte seinen Schritt vernommen, sie sprang auf und eilte ihm nach durch den weichen Sand.

»Onkel Martin! O bitte, warte auf mich! Leonhard möchte so gern mit Dir reden!« ...

Die Männer saßen beieinander unter dem Boote. Keiner sprach. Beider Augen hingen an der anmutigen Gestalt, die langsam den Strand entlang schritt. Aus den Blicken des einen leuchtete die stolze Freude des Besitzes, der andere sah ihr traurig nach, wie man einem gelebten Toten nachschaut.

Endlich verschwand sie hinter einer Felsecke. Martin wendete sich zu seinem Gefährten und begann mit ruhiger Würde:

»Flora hat mir gesagt« ... er vermied es, sie jetzt Blümchen zu nennen ... »daß Sie sie von uns nehmen wollen. Das kommt mir sehr unerwartet.«

»Wohl glaube ich, daß es Ihnen schwer werden muß, sie zu lassen; ich hoffe aber, daß Sie nichts einwenden werden.«

Martin sah den jungen Mann ernst an.

»Es klingt vielleicht nicht höflich, junger Herr, aber ich kann mir nicht helfen, recht ist mir's nicht. Blümchen« – der alte Name trat unwillkürlich auf seine Lippen – »war meine ganze, meine einzige Freude. Ich wußte wohl, daß sie nicht zu uns gehörte, dennoch aber hoffte ich, daß sie bei uns bleiben würde, wie ja auch die Blumen und die Sonne bei uns bleiben in unserer Abgeschiedenheit hier; das soll nun nicht sein; aber es sei ferne von mir, sie durch Reden oder dergleichen zu kränken. Ich muß aber wissen ... nehmen Sie es nicht übel, das Kind hat keinen weiter als mich, der für sie einsteht ... ich muß aber wissen, daß Sie sie nicht betrügen wollen, Sie lieben sie, wie Sie sagen. Sie wollen sie von uns fortnehmen, von ihren Freunden, die sie geliebt haben seit ihrer schwachen Kindheit, die gern ihr Leben für sie hingäben ... ja, junger Mann, so gern und willig, wie jene Möwen dort hinausfliegen ins Morgenlicht. Wollen Sie ihr treu sein? Ich kann von Ihnen nichts erlangen, als Ihr Wort, und niemand kann ihr mehr helfen, wenn sie von uns gegangen ist, als Er, der der Vater der Waisen ist.«

Der junge Mann ergriff die Hand des Fischers.

»Ich verehre Sie hoch für diese Worte! Möge Gott sein Angesicht von mir wenden und mich verlassen in meiner Todesstunde, wenn ich die Liebste verlasse oder vernachlässige, die Sie mir anvertrauen wollen!«

*

Sämtliche Einwohner des kleinen Fischerdörfchens betrachteten den jungen Fremdling mit unwilligen, beinahe feindseligen Blicken, da er ihnen ihren Stolz, ihren Liebling entführen wollte. So oft aber einer dem alten Martin gegenüber seinem Zorne Luft machte, erwiderte der:

»Laßt's gut sein, Maaten, der Herr hat sie uns gegeben, der Herr nimmt sie uns auch wieder; wir können nichts dagegen machen.«

*

In dem kleinen Kirchlein oben auf dem Felsenhange wurden sie getraut. Als aber die Trauung vorüber war, warf sie sich in die alten, treuen Arme, die sie aus den Fluten gerettet und die jetzt unter dem Gewicht ihrer leichten Gestalt zitterten.

»Gott segne Dich, mein Blümchen!« murmelte die heisere, zärtliche Stimme.

»Ich gehe nicht für immer, Onkel Martin«, sagte sie unter strömenden Tränen. »Ich komme so oft ich kann, und dann sitzen wir wieder zusammen unter dem alten Boote.«

»Wiederkommen willst Du, Blümchen?« entgegnete er leise und mit mattem Lächeln ... Und als sie mit Leonhard in den Wagen gestiegen war, der sie zur fernen Hafenstadt bringen sollte, fügte er sanft hinzu: »Das alte Boot und ich, wir werden längst nicht mehr sein, wenn Du wieder einmal hierher kommst, mein Blümchen ...«

Eine Woche später dampfte ein prächtiges Schiff aus dem Hafen; auf dem Deck stand eine schöne, junge Frau und blickte mit großen, blauen, tränenschweren Augen nach der in der Ferne verschwindenden Küste zurück. Ihr Gatte stand neben ihr, er trocknete ihr die Tränen von den Wangen, und das Lächeln, mit welchem die scheidende Abendsonne Meer und Land begrüßte, war nicht inniger, nicht wärmer, als das, mit dem Flora zu Leonhard emporblickte ...

Erzählte ihr der sanfte Landwind nichts von einem alten Manne, der auf der flachen Klippe kniete, wo sie einst gefunden wurde? ... Nichts von dem Boote, das, sich selbst überlassen, führerlos in die See hinaustrieb? Nichts von der Flut, die schwer heranrollte? ...

Wie schnob der Nachtwind so kalt über das Riff! ...

Der Mond ist aufgegangen, er küßt ihr süßes Gesicht, das an der Schulter des sie liebend umfangen haltenden Mannes ruht ... Erzählt ihr der Mond nichts von dem alten Manne, der sich nur noch mühevoll und verzweifelnd mit erstarrten Armen an den rauhen Felsen klammert, um von der immer höher brandenden Flut nicht in die Tiefe gerissen zu werden?

*

Ein heimkehrendes Fischerboot rudert dicht an der schwarzen Kuppe vorüber ...

»Halt, Vater! Halt! Dort liegt etwas auf der Kuppe!« ...

Heinrich Lassen's Sohn nimmt das graue Haupt sanft in seine Arme.

»Es ist Martin, Vater ... Der arme, alte Mann!« – – – – – – – – – – – –

Schneller braust das Schiff durch das nächtliche Meer, mit vollem Dampf und unter allen Segeln. Hoffnung ist seine Ladung, Segenswünsche folgen ihm; hinter ihm leuchtet das Kielwasser, als wandelte es auf silbernem Pfade.

»Es wird kalt an Deck, Blümchen; komm' hinab in die Kajüte.« – – – – – – – – – –

»Trag' ihn sanft, Heinrich, er kommt wieder zu sich«, sagt der alte Lassen zu seinem Sohn, dem jungen Riesen, der den alten Fischer in seinen Annen zur Hütte trägt.

Der Mond hat sich hinter einer schwarzen Wolke verborgen; die Wogen rollen dumpf donnernd gegen den Strand.

»S'ist kalt! ... Hu ... kalt!« murmelte Martin. »Wo ist Blümchen?« ...

Lange, lange hatte Martha an seinem Lager gesessen; plötzlich fährt er mit einem Schrei empor.

»Fort ist sie, Martha! Sie lehnt sich auf seinen Arm, und die Sonne scheint auf beide herab. Der liebe Gott segne sie ... alle beide!«

Dann sinkt er wieder zurück. Der Wind macht sich auf und kreischt und heult in den Räumen; er erschüttert die Hütte bis in ihre Grundfesten. Der Regen peitscht gegen das Fenster und klatscht auf den flachen Steinen vor der Türe. Ueber den Klippen brüllt und tost die See ... sein Ohr vernimmt des Ozeans gewaltige Stimme und er erwacht.

»Es ist so kalt hier ...« murmelte er im Fieber, »ich glaubte nicht, daß die Flut so bald kommen würde.«

Martha legt noch eine schwere Wollendecke auf ihn; er öffnet die Augen und erkennt sie.

»Auch Du hier, Martha? Hier draußen auf der Kuppe? Wie kamst Du her? Doch Du hast ja stets treu zu mir gehalten, stets, ... Du bist ein gutes Mädchen, Martha, ein liebes, gutes Mädchen« ...

Er stöhnt ein wenig und schließt die Augen, dann blickt er wieder auf und ruft hastig:

»Steck' doch meine alte Kappe auf den langen Pfahl da! Vielleicht sehen sie uns dann vom Lande!«

Martha holt den Bootshaken, auf den er deutet und tut, wie er verlangt; dabei laufen ihr die Tränen über das Gesicht.

Bald darauf schläft er wieder ein.

Draußen schwillt die Sturmflut zu nie gesehener Höhe; eine mächtige Woge erfaßt das alte Boot, das so lange auf dem Strande gelegen, und wirbelt es hinaus in die schwarzen Wasser. Martin fährt aus dem Schlafe empor.

»Dort kommt ein Boot für mich, Martha! Gieb mir meine Jacke!«

Dann verklärt sich sein Gesicht ...

»Das Boot kommt näher, Martha, und darin steht einer mit glänzendem Antlitz ... wir haben oft zu ihm gebetet ... es ist der Herr!« ...

Der Regen lärmt gegen das Fenster, der Wind stöhnt und hält mit der See zornige Zwiesprach, die sich, wie ein unartiges Kind, noch immer nicht beruhigen kann.

In der Hütte aber ist's still. Leise nur schluchzt eine Frau, die vor dem Bette kniet und mit dem Blicke langjähriger Liebe auf das bleiche Gesicht schaut, das vor ihr auf dem Kissen ruht. Ihre Hände haben die Augen geschlossen, die im Leben so treu, so freundlich blickten, und das graue Haar von der Stirn gestrichen, auf der das rauhe Leben seine Linien eingegraben. Weicher Friede zieht in ihr Herz und spiegelt sich in ihren harten Zügen, während sie auf dem stillen Antlitz vor ihr das Lächeln betrachtet, mit welchem der alte Fischer zum Herrn gegangen.


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