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Das halbe Brot.

Von A. Weidenmüller.

 

Ich war gestern nachmitttag bei einem Begräbnis. Keinem von denen, die mein kleiner Hans »schöne Leichen« nennt, und bei denen es etwas zu sehen gibt. Das ganze Gefolge bestand aus zehn Dienstmännern, meinem Schwager und mir, und der ganze Sargschmuck aus einer Buchsbaumguirlande von den zehn Dienstmännern und aus einem großen Asternkranz von mir; mein Schwager hatte auch einen Kranz stiften wollen, da aber sein Hilfslehrergehalt noch sehr bescheiden ist, so hatte ich ihn bewogen, die Ausgabe zu unterlassen und den Betrag lieber der Witwe unsers alten, braven Schmidt zu schenken. Denn der war der Tote, dem wir die letzte Ehre erwiesen, derselbe alte brave Schmidt, der uns ungefähr zwanzig Jahre lang die Reisekoffer zur Bahn getragen und wieder abgeholt hatte, und den auf seiner eignen und wohl so ziemlich einzigen Reise zu begleiten wir darum für unsre Pflicht hielten.

Es war ein weiter Weg, den wir zu machen hatten, und ich war recht abgespannt, als der kleine Zug vor dem hohen, schwarzen Gittertor anlangte. Da ermunterte mich ein unerwarteter Anblick. Von der Seite her trat ein noch ziemlich jung aussehender Mann mit zwei hübschen krausköpfigen Jungen auf uns zu. Sie trugen alle drei Kränze von Eichenlaub und Feldblumen in den Händen und sahen so erhitzt und bestaubt aus, daß man wohl merken konnte, wie lange sie unterwegs gewesen waren. Der Vater besonders schien erschöpft, und wie er seinem Ältesten das graue Strohhütchen zurechtrückte und sich selbst den Schweiß von der Stirn trocknete, sah ich, wie seine Hände zitterten. Die drei warteten, bis die letzten vorüber waren, dann gingen sie hinterher, und ich hörte, wie der Dienstmann hinter mir seinem Nebenmann zuraunte: »Das kann doch niemand sein als der Wachsmut mit seinen Jungen. Sind die bei der Hitze von Hohenkirchen bis hierher gelaufen! Und er hat doch nur einmal ein paar Monate auf demselben Gange wie Schmidts gewohnt.«

Die leisen Worte gaben mir zu denken. Ich hatte den alten Schmidt wohl immer für einen sehr braven und ordentlichen Mann gehalten, dem man ruhig seine Börse zur Besorgung der Fahrkarte anvertrauen konnte, aber wenn es so war, wie der Mann hinter mir sagte, dann mußte er doch Eigenschaften gehabt haben, die ich hinter seiner wortkargen Art nie vermutet hatte. Wenn der alte Schmidt etwas besonderes gehabt hätte, auf unsern vielen gemeinschaftlichen Wegen zum oder vom Bahnhof hätte ich es doch einmal merken müssen. Aber da war er immer schweigsam neben mir hingetrottet und hatte auf meine Fragen nur das Allernötigste zur Antwort gegeben. Und mit Seinesgleichen mußte er nicht gesprächiger gewesen sein, denn der etwas angeheiterte Dienstmann, der mir die Stunde des Begräbnisses mitgeteilt hatte, war, nachdem er seine Meldung gemacht hatte, stehen geblieben und hatte anerkennend gesagt: »Herr Doktor, es ist sehr schön von Sie, daß Sie mit wollen gehen, denn was der Schmidt war, so hatte er nicht viele Kameraden, von wegen weil er nie nicht ins Wirtshaus kam und auch sonsten sehr retiree war.«

Womit mochte er es also wohl dem Wachsmut angetan haben, daß der den langen Weg bei Staub und Sonnenbrand mit seinen zwei Jungen um des Toten willen gewandert war? Die Ankunft am offenen Grabe machte meinem Nachsinnen ein Ende. Der Pfarrer sprach nicht mehr als nötig war; freundlich erkannte er die große Zuverlässigkeit und die ehrliche Treue des Verstorbenen an, rühmte auch, daß er ihn oft in der Kirche und jedes Jahr einmal beim Abendmahl gesehen hätte, mehr schien er nicht von ihm zu wissen, und das Gefolge war bei der drückenden Hitze des Augustnachmittags auch ganz wohl damit zufrieden, daß er seine Sache kurz machte. Nur der Mann aus Hohenkirchen schien sich nur schwer von dem Grabe trennen zu können. Als ich von einem der Friedhofwege noch einmal zurücksah, stand er noch immer neben dem Erdhügel, auf den er seine drei schönen Feldblumenkränze zu der Guirlande der Dienstmänner und meinem Asterkreuz gelegt hatte, und hielt beide Hände vors Gesicht.

Als wir den Friedhof verließen, war es kühler geworden. Eine Wolkenwand hatte sich vor die Sonne geschoben, und ein frischer Luftzug strich von Westen her über die Felder. Das bestimmte mich, nicht sogleich nach Hause zu gehen, sondern erst noch einen kleinen Spaziergang zu machen.

Ich ging alleine ins Freie hinaus, bald befand ich mich auf einem tief ausgefahrenen Ackerweg zwischen hohen, sich bäumenden Weizenhalmen. Gerade war ich dabei, mir eine noch ziemlich neue und besonders tiefe Erntewagenspur auszusuchen, als ich Stimmen hinter mir hörte und, mich umwendend, den Mann von Hohenkirchen erblickte, der mit seinen beiden Knaben raschen Schrittes hinter mir herkam. Er hatte jetzt den schwarzen Rock, in dem er auf dem Friedhof gewesen war, ausgezogen und trug ihn zusammen mit den grauen Jäckchen der Jungen auf einem Stecken über der Schulter, und die drei sahen sehr sauber und ordentlich in ihren reinen weißen Hemden aus. Als sie an mich herankamen, zogen sie die Hüte, und der Vater sagte achtungsvoll: »Guten Tag, Herr Doktor!« Ich grüßte wieder. »Woher kennen Sie mich denn?«

Er verlangsamte seinen Schritt. »Als ich noch in der Stadt wohnte, hat Schmidt Sie mir ein paarmal gezeigt, und da habe ich Sie vorhin sogleich wiedererkannt.«

Er sprach ein gutes, ungezwungenes Hochdeutsch, und seine Stimme war sanft und angenehm, beides tat mir wohl, und da die Persönlichkeit des Mannes mich schon vorher beschäftigt hatte, so erwiderte ich, die Unterhaltung fortspinnend: »Ich weiß zufällig auch etwas von Ihnen, Sie heißen Wachsmut und sind aus Hohenkirchen, nicht wahr?«

Er sah mich erstaunt an, und auch seine Jungen starrten mir so verwundert ins Gesicht, daß ich lachen mußte.

»Es geht ohne Zauberei zu,« erklärte ich dann, »als Sie sich vor dem Friedhof dem Zuge anschlossen, nannte der Dienstmann hinter mir Ihren Namen und Wohnort, und ich wunderte mich, daß Sie mit Ihren Jungen so weit hergekommen waren. Sind Sie ein guter Freund von Schmidt gewesen? Denn Verwandte hatte er doch, so viel ich weiß, nicht.«

Er zögerte einen Augenblick mit der Antwort. »Nein,« sagte er dann, »wir gingen uns gar nichts an, aber zu seinem Begräbnis hätte ich kommen müssen, wenn der Weg auch noch einmal so weit gewesen wäre.« Er stockte abermals. »Wir gingen nicht hier neben Ihnen, Herr Doktor, wenn Schmidt nicht so gut gewesen wäre,« schloß er darauf mit hörbarer Bewegung.

Ich schwieg eine Weile, da ich nicht wußte, ob eine Frage nach dem näheren Sachverhalt dem Manne wohl wehe tun würde. Endlich siegte mein Wunsch, etwas von Schmidt zu erfahren, über alle Bedenken.

»Ich will mich nicht in Ihr Vertrauen eindrängen,« begann ich darum entschlossen, »aber es wäre mir lieb, wenn Sie mir erzählen wollten, warum Sie so dankbar von dem Toten sprechen, ich habe schon vorhin darüber nachgedacht, ob Schmidt wohl noch etwas anderes als fleißig, nüchtern und ordentlich gewesen ist.«

Wachsmut fuhr sich mit dem blaukarrierten Taschentuch Über Augen und Stirn.

»Wem sollte ich lieber als Ihnen erzählen, was Schmidt an uns getan hat? Er hielt ja immer so viel von Ihnen. Aber haben Sie denn Lust, noch weiter zu gehen? Ich könnte Sie sonst ja gut in die Stadt zurückbegleiten.«

»Gut?« Ich lächelte. »Da sollte Ihnen doch zuletzt der Weg nach Hohenkirchen sauer werden. Auch gehe ich gern noch eine halbe Stunde weiter.«

Er wandte sich zu seinen beiden Jungen. »Jakob und Heinrich, geht schon immer ein wenig voraus. Und wenn ihr in den Wald kommt, dann pflückt euch die schönen Himbeeren ab, die ich euch auf dem Herweg zeigte; bis ihr sie gegessen habt, bin ich wieder bei euch.«

Die Jungen nickten verständnisvoll: »Ja, Vater.« Dann blickten sie verlegen an mir herauf. Ich gab jedem die Hand und vergnügt eilten sie davon.

Der Vater sah ihnen nach. »Jakob ist jetzt zwölf und Heinrich zehn,« sagte er dann, »als ich Schmidt kennen lernte, waren sie vier und zwei. Ich bin Schuster und arbeitete damals in einer Schuhfabrik. Aber bei dem Geschäfte war etwas nicht in Ordnung. Bald munkelte der und bald jener, es werde bald zu einem großen Krach kommen, und auch mir wollte es nicht gefallen, daß es Sonnabends oft so schwer hielt, den Wochenlohn zu erhalten. Weil ich aber das Geld zuletzt doch immer bekam, und der Chef stets freundlich gegen mich war, so mochte ich nicht kündigen und beruhigte mich, wenn mir die Leute Angst machen wollten, damit, daß in der Welt doch auch viel gelogen wird. Da, es war acht Tage vor dem Christfest, brach alles Unglück zugleich über mich herein. Meine Frau, die ein paar Kunden hatte, für die sie bügelte, hatte sich so erkältet, daß sie mit heftigen Brustschmerzen und starkem Fieber zu Bette lag, Jakob war die Treppe hinuntergefallen und hatte ein großes Loch im Kopf, und wenn nicht gerade Lohntag gewesen wäre, hätte mich nichts aus dem Hause gebracht. So aber mußte ich ins Geschäft gehen; ich bat darum Frau Schmidt, mit der ich schon manchmal ein paar Worte gesprochen hatte, sich ein wenig um meine Kranken zu kümmern, und eilte fort, um wenigstens meinen Wochenlohn zu holen. Aber es war ein vergeblicher Weg: das Geschäft war am Abend vorher auf Antrag mehrerer Gläubiger geschlossen und alles darin versiegelt worden, und als ich bestürzt nach dem Chef fragte, da hieß es, der habe sich noch rechtzeitig aus dem Staube gemacht. Ich stand zuerst wie vom Donner gerührt, denn ich hatte zu allerhand Lebensmitteln, die wir brauchten, so sicher auf das fällige Geld gerechnet, daß ich gar nicht wußte, was ich tun sollte, wenn ich es nicht bekam. Und ich bekam es nicht; ja, was noch schlimmer war, ich verlor auch die Aussicht, in der nächsten Woche etwas einzunehmen, denn wie und wo sollte ich jetzt sogleich andre Beschäftigung finden. Niedergeschlagen ging ich nach Hause und zerbrach mir ganz vergeblich den Kopf, wie ich schnell zu einer kleinen Einnahme kommen könnte. Arbeit fürs Haus wußte ich nicht zu finden, und mit Kohlentragen und Schneewegschaffen ließen sich wohl jeden Tag ein paar Groschen verdienen, aber dann hätte ich stundenlang meine kranke Frau und die zwei kleinen Kinder allein lassen müssen. So war ich zuerst, um nur etwas zur Pflege und zum Lebensunterhalt zu haben, darauf angewiesen, das wenige zu verpfänden, was wir halbwegs entbehren konnten. Ich war nie vorher im Leihhaus gewesen, und als ich die silberne Uhr hinbrachte, die ich einmal von einem guten Meister geschenkt bekommen hatte, da war mir nicht anders zu Mute, als ob ich ein Stück von mir selbst verkaufen sollte. Aber ich wurde die Sache bald gewohnt; so wenig meine arme Frau, die Jungen und ich brauchten, etwas mußte es doch jeden Tag sein, und als eine Woche vergangen war, da hätte ich gern noch etwas versetzt, wenn nur noch etwas dagewesen wäre. Es war gerade am Heiligen Abend, als es so um uns stand, meine Frau trank Isländisch-Moos-Tee und behauptete, sie wäre davon ganz satt, aber die zwei Jungen weinten vor Hunger. Da entschloß ich mich zu etwas, was mir noch schlimmer schien, als Sachen aufs Leihhaus zu tragen, ich klopfte bei Schmidts an und bat sie um ein Stückchen Brot für meine Jungen. Aber ich hatte meine Bitte kaum herausgebracht, da merkte ich schon, daß es bei den Nachbarsleuten nicht viel besser stand als bei uns. Auch Schmidt, der damals schwach und kränklich war, hatte schon seit Wochen fast nichts verdient, auch sie hatten nichts mehr im Hause als ein halbes Päckchen Zichorien, wie mir Frau Schmidt unter Tränen sagte. Schmidt selber sprach kein Wort, und weil es dunkel in der Stube war – denn sie konnten natürlich auch kein Lampenöl mehr kaufen – sah ich auch nicht, was für ein Gesicht er machte. Halbtot vor Niedergeschlagenheit schlich ich aus der Stube und das einzige, was mich tröstete, als ich in unser Stübchen zurückkam, war, daß Jakob und Heinrich doch endlich eingeschlafen waren.«

Der Schuster machte eine Pause. »Herr Doktor,« sagte er dann zögernd, »der Herr Pfarrer hat vorhin kein Wort davon gesprochen, wie gut Schmidt gewesen ist, und Sie haben's wohl auch nicht gewußt, weil er ja niemals von sich selber sprach, da meine ich, ich mußte Ihnen erzählen, wie alles war.«

Ich nickte ihm aufmunternd zu. »Nur weiter, Herr Wachsmut,« und mit einem liefen Atemzuge fuhr er fort:

»Herr Doktor, ›Ein hungriger Mensch, ein böser Mensch‹; und es ist ja gewiß sehr unrecht, wenn man sich durch Hunger zu Schlechtigkeiten bringen läßt, aber wer noch keinmal erfahren hat, wie weh es tut, wenn man tagelang nichts rechtes mehr gegessen hat, der weiß doch nicht, wie groß dann die Versuchung ist. Ich meine die Versuchung, aus dem Leben zu gehen, denn daß ich's Ihnen nur gestehe, das zu tun, dachte ich in jener ganzen Nacht. Wie, wußte ich noch nicht recht, am besten, dachte ich, würde es sein, wenn ich am nächsten Morgen ins Wasser spränge, und es kam mir nicht einmal in den Sinn, wie feige und erbärmlich ich dadurch an meiner armen Familie handeln würde. Mitten in meinem Grübeln übermannte zuletzt auch mich der Schlaf, und als ich aufwachte, wurde es eben hell. Leise stand ich auf und wollte mich, so lange Frau und Kinder noch schliefen, fortschleichen, zum Fluß hinunter, da klopfte es behutsam an die Tür. »Wachsmut, wollen Sie einmal herauskommen?«

Es war Schmidts Stimme, und wie ich, ein wenig ärgerlich über die unvorhergesehene Störung, zögernd öffnete, da stand er auf dem dämmerigen Gang, reichte mir ein halbes Brot und sagte in seiner kurzen Weise: »Da, ich konnte eben einem Herrn den Koffer zur Bahn tragen. Für die fünf Groschen, die er mir dafür gegeben hat, habe ich uns gleich ein Brot gekauft. Ich hätte es Ihnen gern ganz gebracht, aber auch wir haben gestern den ganzen Tag nichts gegessen.«

Damit ließ er mich stehen, und ich konnte zuerst nichts anders tun, als an dem halben Brote riechen, das so kräftig nach Roggen und Kümmel roch. Dann aber ging's in die Stube zurück, wo die Jungen indes munter geworden waren, und dankbarer und froher ist wohl noch nie Brot gegessen worden, als von uns dreien an jenem Christmorgen. Ich hab' mich natürlich hernach auch bei Schmidt dafür bedankt, das aber habe ich ihm nie gesagt, daß seine Hilfe keine fünf Minuten später hätte kommen dürfen. Er hatte mir einmal von einem Bekannten erzählt, der aus Not in den Fluß gesprungen war, und gemeint, jemand, der so etwas mache, sei der größte Lump, den er sich denken könne. Da schämte ich mich zu sehr, ihm zu verraten, daß ich auch beinahe zu einem solchen Lump geworden wäre.«

Der Schuster sah zur Erde. »Ich habe es überhaupt bis heute niemand als unserm Herrgott bekannt, aber wie ich vorhin an dem Grabe stand und sah die Leute alle so gleichgültig an den Sarg hinunterblicken, da war mir's, als müßte ich ihnen zurufen: Denkt doch gut von Schmidt, er hat mir ja das Leben gerettet. Und als Sie mich dann vorhin nach ihm fragten, da dachte ich, es sollte so sein, und nicht wahr, Sie nehmen mir's auch nicht übel, daß ich davon gesprochen habe?«

Ich reichte ihm die Hand. »Nein, Herr Wachsmut, gewiß nicht, erzählen Sie mir jetzt nur auch noch, wie Sie wieder aus Ihrem Elend herausgekommen sind.«

Er hob den Kopf in die Höhe. »O, damit ging es auf einmal ganz geschwind, Herr Doktor. Noch an demselben ersten Festtag kam ein Paket von einer alten Tante meiner Frau. Es war darin Kuchen und Wurst und etwas Geld, und sie schrieb dazu, ich möchte doch, wenn's irgend anginge, einmal zu ihr nach Hohenkirchen kommen, da fehle es an einem ordentlichen Schuster, und sie wolle uns gern für den Anfang hundert Taler vorstrecken. Die gute Nachricht half meiner Frau besser, als das Essen und Trinken, das wir nun hatten, ich konnte schon am dritten Feiertag von ihr weg und zu der alten Tante gehen, und der Januar war noch nicht halb um, da wohnten wir schon in Hohenkirchen und ich machte ein Paar Stiefel für den Herrn Bürgermeister.«

Er lächelte vergnügt bei der angenehmen Erinnerung, dann wurde sein Gesicht wieder ernst.

»Meine Frau genoß die guten Tage, die wir von da an hatten, nur noch drei Jahre, sie ist vor fünf Jahren gestorben, und ich bin seitdem allein mit den Jungen.«

Ich sah ihn überrascht an. »Sie haben sich nicht wieder verheiratet? Ihr und Ihrer Jungen Aussehen hatte mich auf eine sehr ordentliche Hausfrau und Mutter schließen lassen.«

Er wurde rot. »Daß wir auf unsre Sachen halten, verdanken wir auch noch meiner Frau. Ihr war nichts so verhaßt wie Schmutz und Unordnung. Aber die alte brave Magd, die wir haben, sorgt auch dafür, daß alles rein und ganz ist.«

»Aber möchten Sie denn nicht doch wieder eine Frau nehmen? Sie sind doch noch ein junger Mann.«

Er schüttelte den Kopf. »Als meine Frau ein Jahr tot war, sagte ihre Tante dasselbe zu mir, und weil das Mädchen, das sie mir vorschlug, mir recht gut gefiel, wäre es auch beinahe zum Heiraten gekommen. Da merkte ich aber noch zur rechten Zeit, daß sie nur nach mir und gar nicht nach meinen Kindern fragte, denn wie ich sie eines Abends nach Hause begleitete und mich auf dem halben Wege von ihr trennte, da streckte ihr mein kleiner Heinrich, der mitgegangen war, zum Abschied auch sein Händchen hin; sie aber sah das gar nicht, sondern lachte nur immer mir zu. Da dachte ich: Bist du so, dann taugst du nicht für mein Haus, und schrieb ihr, sie nähme wohl besser einen Mann ohne Kinder. Es hat mich auch noch keinmal gereut, daß ich ledig geblieben bin, und jetzt ist mir's noch ganz besonders lieb. Ich möchte nämlich die Frau Schmidt fragen, ob sie nicht zu uns herausziehen will. Wir hätten oben im Hause eine ganz hübsche Stube für sie und – und – ganz extra pflegen kann ich sie ja nicht, aber gut haben sollte sie's schon. Ich hätte es ihr heute schon angeboten, aber da waren die Jungen bei mir, und ich mußte zeitig wieder zurück, aber übermorgen muß ich mit einem Wagen hinein und Leder kaufen, da bringe ich sie und ihr bißchen Hausrat wohl gleich mit.«

Als wir jetzt an dem ersten Gehöft eines großen Dorfes vorüberkamen, blieb ich stehen. »Lieber Herr Wachsmut, ich muß nun umkehren.«

Er zog den Hut. »Hoffentlich sind Sie nicht weiter mitgegangen, als Sie wollten, und ich habe Sie nicht belästigt. Und wenn Sie einmal nach Hohenkirchen kommen sollten – es ist ja wohl sehr keck von mir, es zu sagen, Herr Doktor, aber wir würden uns sehr, sehr freuen, wenn Sie uns dann besuchten.«

Ich schüttelte ihm die Hand wie einem alten Bekannten. »Natürlich besuche ich Sie dann. Und es kann sein, daß ich noch in diesem Herbst einmal zu Ihnen komme. Und wenn Sie übermorgen in die Stadt kommen, dann lassen Sie sich doch auch ja einmal bei mir sehen und erzählen Sie mir, ob Frau Schmidt zu Ihnen zieht, denn ich möchte ihr dann gern noch einen kleinen Reisepfennig mitgeben.«

Er versprach es mit sichtlicher Freude, dann trennten wir uns und er war bald meinen Blicken entschwunden.

Ich aber wanderte in tiefen Gedanken nach Hause, und in meine Betrachtungen mischten sich auch solche über den Wert, den ein halbes Brot zuweilen und den ein guter Mensch immer hat, auch wenn er nur ein armer Mensch oder ein armer Schuster ist.

Meine Frau zog andre Schlüsse aus dem Bericht, den ich ihr von meinen Erlebnissen mit heimbrachte. Nachdem sie mir aufmerksam zugehört hatte, sagte sie sehr lebhaft: »Dieser Wachsmut soll unserm Hans und der Grete nun auch die Schuhe machen.«

Sie sah mein etwas verblüfftes Gesicht und lachte. »Nun denkst du einmal wieder: mit was für einer beispiellos prosaischen Frau bin ich doch gestraft. Aber sage doch selbst: Kann ich mein Wohlgefallen an deinem neuen Freunde denn besser betätigen, als indem ich ihn fleißig in Nahrung setze? Ich meine wenigstens,« und hier wurde sie plötzlich ernster, »die beste Ehre, die man einem braven Manne erweisen könne, sei, daß man seine Arbeit schätzt, ob es nun die eines Künstlers oder die eines Handwerkers ist. Die Geschichte von dem halben Brote aber soll mir eine Mahnung sein, auch dann nicht mit dem Darreichen einer Gabe zu zögern, wenn sie nur gering sein kann, da Gottes Gnade auch das kleinste Scherflein mit reichem Segen zu begleiten vermag.«


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