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Ein treues Herz.

Von A. Weidenmüller.

 

Fräulein Bertha, Sie sind wohl so gut, noch vor dem Essen einen Ihrer schönen Natron-Kuchen zu backen. Frau Pastor Harms schreibt mir soeben, daß sie mit ihren Töchtern heute nachmittag zu uns kommen will.«

»Gewiß, Frau Pastor. Ich werde mich sogleich daran machen, damit er zum Kaffee ganz kühl ist.« Das Fräulein erhob sich rasch und legte die Wäschestücke, an denen sie nähte, in den großen Flickkorb am Fenster.

Aber sie hatte noch nicht den Fingerhut abgezogen, da klang es ärgerlich von der Tür her: »Fräulein Bertha, wissen Sie nicht, wo das Missions-Blatt vom vorigen Sonntage hin ist? Ich habe schon mein ganzes Studier-Zimmer danach durchsucht und kann jetzt nur noch annehmen, daß es hier oder in der Küche irgendwo herumliegt.«

»In der Küche und hier ist es nicht, Herr Pastor, aber haben Sie in Ihrer Stube auch wirklich genau nachgesehen?«

Der Pastor ließ einen Laut der Entrüstung hören; dann stürzte er auf den zurückgestellten Flickkorb los und schüttete dessen Inhalt auf den Fußboden aus. »Gewiß habt ihr die Zeitung hierhinein verkramt.«

Diese Art zu suchen war der Frau Pastor unausstehlich. »Fräulein Bertha,« sagte sie ungeduldig, »bitte, suchen Sie nach dem Unglücksblatte. Der Kuchen wird doch noch kalt.«

Bertha verschwand in dem anstoßenden Zimmer, und der Pastor setzte sich erschöpft auf das Sofa, nachdem er ihr noch nachgerufen hatte: »Sehen Sie einmal Ihre Topfanfasser nach; dazu ist Ihnen ja jedes Papier recht.«

Bertha dachte nicht daran, ihre unschuldigen Topfanfasser aufzuwickeln. Sie hatte ein bestimmtes Gefühl für den Aufenthaltsort verlegter Zeitungen, und nach einer guten halben Stunde fand sich, daß das Missionsblatt in dem großen Atlas des Pastors bei der Karte von Hinter-Indien lag. Wie Fräulein Bertha des ersten Artikels in dem Blättchen, betitelt »Ein Tag in Sisattakananahut,« ansichtig wurde, fand sie diesen Versteck sehr natürlich und ärgerte sich, vorher sämtliche Bände des Konversations-Lexikons durchgesehen zu haben. Aber freilich, auch da hätte es bei Si liegen können; für die Missions-Zeitungen mit ihren schweren Namen ließ sich bei der Gründlichkeit des Pastors ja nie mit Sicherheit das Buch vorausbestimmen, in das sie sich auf kürzere oder längere Zeit vom Tageslichte zurückzuziehen pflegten.

Pastor Cornelius konnte selbstverständlich nicht begreifen, wie das gesuchte Blatt in den Atlas hatte kommen können. »Ob es Willi dahin gelegt hat?« murmelte er zweifelnd, denn das Wort Sisattakananahut weckte in ihm auf einmal die Erinnerung an eine die Augen sehr angreifende Karte.

Bertha wartete nicht ab, bis er sich den Sachverhalt erklärt hatte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, daß sie keine Minute verlieren durfte, wenn der Kuchen noch zustande kommen sollte. Eilig ging sie in die Küche.

»Fräulein Bertha,« schrie da eine Kinderstimme von der Haustür ihr entgegen; »der Ärmel in meiner Jacke ist schon wieder entzwei. Ich glaube, Sie haben ihn das vorige Mal mit Spinnenfaden genäht. Ich habe nur ein bißchen geturnt und da ging es gleich ritsch, ratsch.«

Allerdings klaffte der tags zuvor geflickte Ärmel des kleinen Arnold kreuz und quer auseinander. Bertha sah mit einem Blick, daß hier nicht mit einigen Stichen zu helfen war. Schnell entschlossen öffnete sie, Arnold vor sich her schiebend, die soeben erst zugemachte Wohnzimmertür. »Frau Pastor, darf Arnold heute einmal seine Sonntagsjacke anziehen? Er hat den Ärmel hier schon wieder ganz zerrissen, und wenn ich ihn jetzt gleich zunähe, wird es für den Kuchen zu spät.«

»Meinetwegen!« sagte die Frau Pastor, indem sie zerstreut von ihrer Schreibmappe aufsah, an der sie die ganze Zeit über gesessen hatte.

Aber der Pastor, welcher zufällig Frage und Antwort gehört hatte, war anderer Meinung. »Ich glaube gar!« sagte er sehr entschieden, »die neue Jacke ist ja erst gestern bezahlt worden, soll die etwa auch sogleich ruiniert werden? Erst ganze Ärmel, dann Kuchen, sonst muß ein Haushalt rettungslos zugrunde gehen. Das merkt euch alle drei. Und nun gehe ich hinüber. Um ½12 habe ich eine Haus-Kommunion. Sie legen mir wohl alles Erforderliche zurecht, Fräulein.«

»Gewiß, Herr Pastor.«

Die Tür schließt sich hinter dem geistlichen Herrn.

»Arnold,« fährt das junge Mädchen fort, »gib mir rasch deine Jacke her und hänge, bis ich den Ärmel geflickt habe, das gestrickte Tuch dort um.«

Während Arnold mit Freuden gehorchte – denn alles Ungewöhnliche war von besonderm Reiz für den kleinen Nichtsnutz –, warf Bertha über ihr Nähzeug hin einen prüfenden Blick auf die Schreibmappe der Pastorin und sagte, da sie gerade die Feder der Dame ruhen sah, in halblautem, überredendem Tone: »Frau Pastor Harms wird es gewiß nicht übel nehmen, wenn es nur Schmalzgebackenes zum Kaffee gibt; als wir zuletzt in Seewarden waren, hatte sie ja nur Butterbrot.«

»Gerade deswegen hätte ich sie heute gern mit einem feinen Kuchen bewirtet,« versetzte die Hausfrau seufzend und tauchte die Feder wieder ein; »aber der Friede im Hause geht natürlich vor. Sie können jedoch gewiß, wenn Sie mit dem Schmalzgebäck fertig sind, noch einen hübschen Pudding machen; Harms' geben so viel auf materielle Genüsse.«

Die Feder rauschte über das Papier, und Fräulein Bertha stach mit verdoppelter Geschwindigkeit in das dicke Zeug. Wenn der Lappen nur bis nach der großen Wäsche hält! Wenn nur noch feiner Zucker genug da ist! Zu weiteren Gedanken nahm sie sich nicht die Zeit bei ihrer Arbeit.

Szenen, wie die soeben geschilderte, gehörten in dem Pfarrhause von Oldorf nicht zu den Seltenheiten. Im Gegenteil, Fräulein Bertha Grote, das junge Mädchen der Pastorin, würde sich mit sehr verwundertem Kopfschütteln zu Bett gelegt haben, wenn einmal der Tag ohne Zwischenfälle vergangen wäre.

Es konnte auch gar nicht anders sein, denn die Familie war groß, der Bekanntenkreis noch größer, der Pastor sehr zerstreut und seine Frau eine Dichterin. Das sah sich alles bei einem Nachmittagsbesuch recht nett an; da konnte man sich herzlich freuen über die sechs rosigen Kindergesichter am untern Ende des Tisches, konnte darüber lachen, wenn der Pastor sich mit dem gestickten Sesselschoner den Kaffeetropfen vom Rock wischte, und in eine weiche Stimmung geraten, wenn die reizende Hausfrau auf dringendes Bitten ihr neustes Gedicht »Herbstgefühl« zum besten gab; aber für den täglichen, mit weitgehenden Verpflichtungen verbundenen Umgang hatten doch diese schönen, erheiternden Dinge auch ihre Schattenseiten. Denn zu den sechs frischen Gesichtern gehörten sechs sehr bewegliche Körper mit zwölf Armen und zwölf Füßen, für die lächerlichen Zerstreutheiten des Pastors mußte allezeit Fleckseife, Chlor und Benzin bereit gehalten werden, und wenn die Verse von Frau Pastor recht glatt und fließend werden sollten, mußte es im Zimmer und wo möglich auch im Hause ganz, ganz still sein.

Das Schwerste im Oldorfer Pfarrhause war eigentlich diese Rücksicht auf den Genius der Hausfrau, und es darf nicht verhehlt werden, daß nur wegen Mangels an dieser Rücksicht drei Vorgängerinnen von Bertha Grote übereilten Abschied genommen hatten.

Aber freilich, warum waren sie so töricht gewesen, nicht einzusehen, daß die Verfasserin des lyrischen Blütenstraußes »Am Wanderstabe« die Verpflichtung hatte, ihr schönes Talent weiter auszubilden? Begriff das doch sogar schon die kleine Leni, die sich mit dem achtungsvollen Worte: »Mama schreibt« sofort in die Küche zurückzog, wenn sie ihre Mutter hinter der dicken, braunen Schreibmappe sitzen sah.

Bertha Grote hatte sich dank ihrer angebornen Hochachtung vor jeder Art von Poesie und mit Hilfe der ihr anerzogenen sichern Erfahrung und praktischen Umsicht in allen Hausgeschäften leichter als sämtliche früheren Stützen in das schwierige Verhältnis zu der dichtenden Hausfrau gefunden. Sie war sich schon in den ersten Wochen ihrer Anwesenheit im Oldorfer Pfarrhause darüber klar gewesen, daß sie von der Frau Pastor nur Anweisung, nie Hilfe erwarten durfte, und daß sie es um so ruhiger hätte, je ruhiger sie selbst alles abmachte. So wußte sie es mit vielem Geschick einzurichten, daß der Pastorin die Ehre des Befehlens ungeschmälert blieb, die Pflicht des Mitarbeitens aber nur dann zu teil wurde, wenn sie selbst wollte.

Und diese Anerkennung fand um so mehr den vollen Beifall der klugen Hausmutter, als Mann, Kinder, Dienstboten und das ganze Haus vom Boden bis zum Keller sich dabei vortrefflich befanden. Der Pastor murrte, und die Kinder schrien zwar immer noch einmal gerade dann, wenn ihre Seele im besten Aufschwunge war, aber diese gelegentlichen Störungen standen gar nicht im Vergleich zu der unablässigen Gefährdung ihrer Muse während der Zeit der Fräulein Emma, Sophie oder gar Rike. Und dann, wie hätte die Frau Pastor den angefangenen Sonetten-Kranz »Des Lebens Schmerzen« zu Ende dichten können, wenn sie nicht noch ein wenig zu klagen gehabt hätte?

Auch der Pastor fühlte sich, wie schon gesagt, sehr wohl, seitdem Fräulein Bertha seiner Frau »einen Teil der Wirtschaftssorgen tragen half,« wie der übliche Ausdruck lautete. Das Fräulein hatte neben der guten Eigenschaft, daß es immer schmackhaftes Essen kochte, einige seiner Ansicht nach bei einer Stütze unbezahlbare Tugenden. Sie war außerordentlich findig, hatte immer Zeit für ihn und widersprach nur dann, wenn er wirklich im Unrecht war. Es gab bloß einen Punkt, wegen dessen er unzufrieden war mit Bertha Grote, dem Liebling seiner Kinder, der unentbehrlichen, treuen Verwalterin seines Hauses, und dieser Punkt hieß Heinrich Steffen. Das war nicht etwa ihr Verehrer oder Bräutigam – Pastor Cornelius würde nie einen Einwand erhoben haben, wenn Fräulein Bertha sich mit einem ordentlichen jungen Manne verlobt oder verheiratet hätte –, sondern ein Bursch aus dem Dorfe, kurzweg Hinnerk genannt, zu dem sie in einer gewissen Beziehung stand.

Hinnerk hatte schon als kleiner Knabe seine Eltern verloren, und da es etwas Vermögen für ihn zu verwalten gab, und er in der Schule für einen fixen Kopf galt, war einer seiner Verwandten, ein reicher Oldorfer Bauer, bereit gewesen, ihn mit seinen Kindern zusammen aufzuziehen und ihn die Landwirtschaft lernen zu lassen. Das hatte er auch pünktlich und gewissenhaft besorgt, und der Junge war auf dem besten Wege, ein tüchtiger Bauer zu werden. Da machte seine dreijährige Dienstzeit bei der Artillerie einen dicken Strich durch die Rechnung. Er kam mit neumodischen Ideen aus der Stadt zurück, man brauchte ihn nur von Bodenverhältnissen reden zu hören, um zu begreifen, wie verdreht er – nach der Ansicht seines Pflegevaters – geworden war. Hatte es denn je in Oldorf Bodenverhältnisse gegeben? Und doch, was für schöne Ernten waren alle die vielen Jahre her eingebracht worden! Aber diese Beweise machten ihn an seinen Hirngespinsten gar nicht irre, und man wußte nicht, ob man lachen oder sich ärgern sollte, wenn er anfing über rationelle Wirtschaft zu sprechen.

Allmählich gewöhnten sich die Burschen des Dorfes an das Lachen, die älteren Männer an das Sichärgern, so oft Hinnerk den Mund öffnete, und da der verachtete Prophet noch immer den hellen Kopf hatte, den man ihm schon in der Jugend nachrühmte, so fand er dies Betragen recht unliebenswürdig und saß am liebsten allein, vertieft in eins der Bücher, die ihm der junge Lehrer von Seewarden lieh.

In dieser Zeit erhielt er eines Abends von der Bäuerin den Auftrag, der Tochter des Hauses, die zu Pastors Mädchen spinnen gegangen war, ein wollenes Tuch zu bringen, das sie in der Eile hatte liegen lassen. Zögernd holte er die Füße unter dem Tische hervor und klappte sein Buch zu; wußte er doch, daß zu den wöchentlich zweimal stattfindenden Spinnstuben bei Pastors mindestens zehn Mädchen aus dem Dorfe kamen; und diesen traute er noch weniger Rücksicht zu, als den jungen Burschen. Indessen sich weigern, das mochte er nicht; hätte ihm das doch gleich wieder Vorwürfe wegen seiner unbrauchbaren »Einbildungen« eingetragen; so setzte er denn schweigend seine Mütze auf und wanderte durch das draußen herrschende Schneegestöber nach dem Pfarrhause.

Er fand das Haus hell erleuchtet, was sehr natürlich war; denn im Wohnzimmer saß die Pastorin und dichtete, im Studierzimmer der Pastor und machte seine Predigt, in der Eßstube lernten die beiden ältesten Jungen an ihren Aufgaben, und in der Küche waren die Spinnerinnen versammelt. Das durch die Türritzen auf die Flur herausschimmernde Licht berührte Hinnerk sehr wohltuend, und, um es etwas länger zu genießen, stand er ein Weilchen still und hing seinen Gedanken nach.

Da hörte er in der Küche, deren Tür nur angelehnt war, eine helle Stimme sagen: »Aber Gesine, wie kannst du denn wissen, daß der Hinnerk Unrecht hat, wenn dein Bruder noch gar nicht mit ihm auf dem Acker gewesen ist?«

Ein verlegenes Lachen antwortete. »Mein Bruder ist so alt, daß er sich nicht mehr braucht zum Narren halten zu lassen. Ich an seiner Stelle würde mich schämen, mit dem Neunmalklugen zusammen zu gehen.«

Hinnerk ballte im Dunkeln die Faust, aber schon antwortete auch wieder die helle Stimme: »Gesine, ich hätte dich doch für klüger gehalten. Wenn unsre Voreltern alle so gedacht hätten, wie du, und bange gewesen wären, einmal etwas Neues zu tun, dann säßen wir alle noch jetzt im dicken Walde und kauten Eicheln und Holzäpfel.«

Viele Stimmen erhoben sich jetzt. »Das hat man hier herum doch nie getan,« hieß es, und in dem Durcheinander, das daraus folgte, trat sich Hinnerk geräuschvoll den Schnee von den Füßen und öffnete mit einem lauten »Guten Abend« die Küchentür.

Er hatte sich darauf gefaßt gemacht, daß sein Erscheinen überraschen würde, aber daß alle Versammelten ihn so anstarren würden, wie sie dies taten, darauf war er doch nicht vorbereitet. Sogar seiner Verwandten, die ziemlich nahe beim Eingange saß, schien der Schrecken über seinen Anblick die Augen zu erweitern und die Zunge zu lähmen.

Er lächelte ein wenig, aber ehe er den Grund seines Kommens erklären konnte, kam aus dem Hintergrunde der Küche eine zierliche Gestalt in einem hübschen, braunen Hauskleide auf ihn zu. »Ist denn das nicht der Herr Steffen, von dem wir eben sprachen?«

Hinnerk verbeugte sich artig vor der Dame, die ihm ganz fremd war – bis auf ihre helle Stimme, hinter der er ohne Besinnen »Pastors Fräulein« voraussetzte, und sagte artig, wie er das in der Stadt gelernt hatte: »Ja, Fräulein Grote, ich heiße Heinrich Steffen, und es tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe. Ich wollte nur meiner Verwandten, der Käthe Dierksen, dieses Tuch bringen.« Er streckte den Arm mit dem Tuche nach Käthe aus, damit sie es an sich nähme; aber das Mädchen war aus seiner Versteinerung in ein so unaufhaltsames Gekicher übergegangen, daß es gar nicht sah und hörte, wie sehr es selbst in die lächerliche Geschichte verwickelt war.

Fräulein Grote warf den Spinnerinnen, welche es mehr oder weniger alle wie Käthe machten, einen mißbilligenden Blick zu, dann nahm sie Hinnerk das Tuch ab und sagte freundlich: »Es ist sehr hübsch von Ihnen, daß Sie sich Ihrer Cousine wegen bemüht haben; Sie sind ja ganz naß geworden.«

»O das schadet mir nichts,« versetzte der Bursche dankbar lächelnd; »aber es ist bös draußen gehen; darf ich vielleicht hier bleiben, bis die Käthe fertig ist? Sie könnte sich dann doch ein bißchen an mir festhalten.«

Bertha Grote nickte erfreut. Doch endlich einmal ein manierlicher Oldorfer, so stand auf ihrem klugen, nicht mehr ganz jugendlichen Gesicht zu lesen. »Gewiß, Herr Steffen,« sagte sie; »setzen Sie sich nur die halbe Stunde, die wir noch zusammen sind, zu uns; es wäre ja Unsinn, wenn Sie nicht auf Käthe warteten.«

Sie rückte ihm einen Stuhl am Tische zurecht, neben welchem sie selbst gesessen hatte, und fuhr dann, ihm gegenüber Platz nehmend, fort: »Ich habe Sie neulich in der Kirche gesehen, Herr Steffen, und mich darüber gefreut, daß Sie so tapfer sangen. Sie waren gewiß bei den Soldaten ein ordentlicher Stimmführer.«

»Es ging an,« erwiderte Hinnerk bescheiden, aber innerlich sehr erwärmt; denn Singen war eine seiner wenigen Liebhabereien. »Wenn unser Chor die Liturgie zu singen hatte, wollten die vom Tenor alle mich neben sich haben.«

»Das kann ich mir gut denken,« meinte Fräulein Grote. »Wie oft hatten Sie denn Gesangübung?«

Ehe sich Hinneck dessen versah, war er im besten Erzählen vom Leben beim Militär, von den Kirchen der Hauptstadt, vom Theater, an dem er zweimal als Statist mitgewirkt hatte; und er war so lustig, wie er seit seiner Rückkehr nach Oldorf noch keinmal gewesen war. Aber freilich, es hatte ihn ja vorher auch noch niemand so freundlich und eingehend nach allen diesen Dingen gefragt, noch niemand hatte so herzlich mit ihm über seine Abenteuer als Mime gelacht.

Soeben wollte er eine neue Geschichte anfangen, da wickelte Fräulein Grote den Kinderstrumpf zusammen, an dem sie während ihrer Unterhaltung emsig gestrickt hatte, und sagte aufstehend: »Es ist Zeit zum Heimgehen, Mädchen.«

Wie auf Kommando erhob sich die ganze Gesellschaft, die während der letzten halben Stunde außerordentlich ruhig gesessen hatte; die dicken Wolltücher wurden umgebunden, die leichten Hausschuhe mit groben Holzpantinen vertauscht, die Spinnräder unter die Schürzen genommen, und fort ging es unter Abschiednehmen und Lachen in den weichen, flockigen Schnee hinaus.

Hinnerk hatte, die Mütze in der Hand, gewartet, bis alle Mädchen Fräulein Grote gute Nacht gesagt hatten, dann streckte auch er ihr, ein wenig verlegen, die Hand hin. »Gute Nacht, Fräulein. Ich danke Ihnen vielmals.«

Bereitwillig erwiderte sie seinen Händedruck. »Gute Nacht, Herr Steffen. Es hat mich gefreut, Sie einmal in der Nähe zu sehen. – Hanni, du darfst auch Herrn Steffen noch ein wenig leuchten, er weiß am schlechtesten Bescheid hier.« Diese letzten Worte richtete Bertha Grote an die Dienstmagd des Hauses, ein hübsches Landmädchen von auswärts, die soeben mit dem Küchenlichte von der Haustür zurücktrat.

Hanni folgte etwas mißmutig dem Geheiß; als sich aber Hinnerk nach ihr zurückwandte und, die Hand an die Mütze legend, artig sagte: »Besten Dank; jetzt kann ich mich schon zurechtfinden,« erhellte sich ihr Gesicht, und sie leuchtete so lange in die Nacht hinaus, bis sie sich überzeugt hatte, daß er glücklich über den Graben hin und zu den vorausgehenden Mädchen gelangt war. Und als sie die Tür verschlossen und verriegelt hatte und die Stühle und Bänke in der Küche wieder in Ordnung brachte, meinte sie, zu Bertha Grote gewendet, die ebenfalls noch etwas zu schaffen hatte: »Der Hinnerk sieht gar nicht so übel aus; ich glaube, eine vernünftige Frau könnte ihm seine Grillen schon austreiben;« worauf das Fräulein nickte und, den Kaffee auf die Mühle schüttend, im Scherze antwortete: »Du hast recht, Hanni; wie wäre es, wenn du selbst die vernünftige Frau würdest?«

Seit diesem Abend war Heinrich Steffen ein oft gesehener Gast in Pastors Küche. Er kam nämlich jedesmal, wenn die Mädchen ihre Spinnstube hielten, gegen halb neun Uhr seiner Verwandten, der Käthe Dierksen, nach und blieb da, bis Fräulein Grote mit der stehenden Redewendung: »Es ist Zeit zum Heimgehen, Mädchen« die Sitzung aufhob.

Anfangs hatte er sich wegen seines Kommens immer entschuldigt; da war es einmal so stockfinster, daß er eine Laterne bringen mußte, und ein andermal hatte es nach Kätchens Weggehen so furchtbares Glatteis gegeben, daß die Bäuerin um ihre Tochter in großer Sorge war; allmählich aber blieben solche Begründungen aus, er kam nur ganz einfach mit einem freundlichen »Guten Abend« herein und setzte sich zu Fräulein Grote auf den bereit gehaltenen Stuhl. Und darüber wunderte sich auch keine der versammelten Dorfschönen; galt es doch bald als ein offenes Geheimnis, daß Pastors Hanni und der Hinnerk einander gern sähen und außer in der Spinnstube keine Gelegenheit hätten, so zusammenzukommen, wie es sich für das Mädchen eines Pfarrhauses schickte.

Auch Bertha teilte diese Ansicht, seitdem sie gesehen hatte, mit welchem Eifer Hanni den Staub von dem Stuhle für Hinnerk abwischte, und wie freundlich er sie grüßte, wenn sie ihm zur Tür hinausleuchtete. Daß er während seines Aufenthalts in der Küche nie das Wort an Hanni richtete, ja sie nicht einmal besonders lange ansah, fand sie nur recht und anständig von ihm, und ebenso schrieb sie es seiner zarten Rücksicht auf Ort und Umgebung zu, daß er immer sehr andächtig zuhörte, wenn sie den Mädchen, was meistens der Fall war, beim Stricken etwas vorlas. Daran, daß der Inhalt ihrer Vorlesungen, kurzer Beschreibungen von fremden Ländern und Menschen, die sie, ihrem eigenen Geschmack und der Weisung des Pastors folgend, gewöhnlich wählte, für Hinnerk Reiz haben könnte, dachte sie nicht, und darum geriet sie ernstlich in Verlegenheit, als der Pastor, dem die Besuche des Burschen natürlich nicht verborgen geblieben waren, sie eines Mittags nach dem Essen ohne Umschweife und mit hörbarer Unzufriedenheit fragte: »Fräulein Bertha, kommt eigentlich der Hinnerk Steffen des Lesens wegen in Ihre Spinnstube?«

»Das kann wohl sein, Herr Pastor; ich weiß es nicht genau, aber ich denke, daß er gern zuhört.«

Sie kam sich selber mit dieser gewundenen Antwort sehr albern vor; als aber der Pastor nachdrücklich fortfuhr: »Ich traue Ihnen zu viel Taktgefühl zu, Fräulein Bertha, als daß ich es für nötig hielte, die Zusammenkünfte der jungen Leute persönlich zu überwachen, aber ich kann nicht sagen, daß mir das häufige Kommen des jungen Mannes gut gefiele;« da hatte sie ihre ganze Fassung zurückerlangt und sagte so sicher: »Lassen Sie den Hinnerk nur kommen, er ist ein ordentlicher Mensch,« als wäre er ihr Schüler, und sie hätte die Verpflichtung, für ihn einzustehen.

Und doch sollte ihr selbst der junge Steffen bald darauf rätselhaft werden. Hannis Mutter erkrankte plötzlich lebensgefährlich; das Mädchen mußte so schnell wie möglich nach Hause, und da sich gerade eine günstige Gelegenheit bot, eine alte Magd zu bekommen, so geschah es, daß in der ersten Spinnstube der Woche noch Hanni am schnurrenden Rade saß und in der folgenden schon die zahnlose Gesche den angefangenen Faden weiterspann. Und trotz dieser Veränderung kam Hinnerk doch, und, was noch seltsamer war, er lachte der alten Gesche beim Weggehen gerade so freundlich zu, wie vor drei Tagen der hübschen Hanni.

Auch den Bauernmädchen schien Hinnerks Wiederkommen etwas sonderbar, da aber der Anblick seines nachdenklichen Gesichts schon zu einer Gewohnheit der Spinnstube gehörte, und Käthe Dierksen auf einige verwunderte Fragen nur gleichmütig antwortete: »Was weiß ich?«, so fügten sich die Spinnerinnen ohne langes Besinnen in die Tatsache, daß Hinnerk doch die Hanni nicht gewollt hätte. Wen und was er nun eigentlich wollte, das ging sie ja vorläufig nichts an.

Desto mehr ging es Bertha Grote an; denn da sie einmal Hinnerks Partei gegen den Pastor genommen hatte, mußte sie über seine Absichten unbedingt ins Klare kommen, wenn sie nicht alle Fähigkeit zu berechtigtem Widerspruche einbüßen wollte. So faßte sie an einem stürmischen Märzabend, als sie wieder einmal die Mädchen und Hinnerk erwartete, den Vorsatz, den Letztem beim Weggehen geradezu zu fragen, warum er jetzt noch käme. Der Entschluß wurde ihr nicht leicht; der Bursch hatte in den letzten Wochen so auffallend nachdenklich ausgesehen, und sie hatte hie und da so sehr viel von seinem schiefen Verhältnis zu den meisten Bauern von Oldorf gehört, daß sie eine Folge von ihrer Frage fürchtete, die ihr selbst leid tat.

Aber sie kam nicht dazu, Hinnerk und sich selbst wehzutun. Der Bursch blieb zum erstenmal, seitdem er ein Besucher der Spinnstube geworden war, aus, und Käthe erzählte, in acht Tagen ginge ihr Vetter nach Amerika.

Das war nun natürlich ein Ereignis für die Versammlung; als aber jede der Spinnerinnen ihre mehr oder minder kluge Meinung über die Sache kundgegeben hatte, und sie zu dem gemeinsamen Schlusse gekommen waren, der Neunkluge täte ganz wohl daran, auszuwandern, in Oldorf brächte er es doch zu nichts, da erlosch die Teilnahme an dem Gegenstande, und es wurde zu einer mindestens ebenso aufregenden Tatsache, der Verlobung der Auguste Lübben, übergegangen.

Nur Bertha Grote konnte nicht so schnell, wie die anderen, über den jungen Europa-Müden hinkommen; immer wieder fiel er ihr ein mit seinen nachdenklichen Augen und dem sorgenvollen Zuge in dem jungen Gesicht; und so dachte sie auch gerade an ihn und seine Zukunft, als sie am folgenden Sonntagnachmittage in der Küche saß, Salatkartoffeln zum Abendessen schälend, und der Hinnerk plötzlich mit einem leisen Gruße hereinkam.

»Komme ich Ihnen nicht zu ungelegen, Fräulein Grote?«

Sie sah ihn überrascht an. »Bewahre, Herr Steffen. Soll ich Ihnen irgend etwas raten oder helfen? Wie ich höre, tragen Sie sich ja mit großen Plänen.«

Er lehnte sich an den Küchenschrank ihr gegenüber und betrachtete verlegen die Innenseite seiner Hände. »Ich wollte mich gern noch bei Ihnen bedanken, Fräulein Grote,« sagte er endlich zögernd.

»Bedanken? wofür? Ich habe Ihnen ja nie etwas zugute getan.«

»Sie waren immer freundlich gegen mich und lasen so hübsche Sachen vor.«

Bertha hob sehr erfreut den Kopf. »Ich bin froh, daß Sie das sagen. Der Herr Pastor glaubte nicht, daß Sie des Lesens wegen kämen, und auch ich wußte anfangs eigentlich nicht, –«

Sie brach ab, als sie sah, wie jeder Zug in Hinnerks ehrlichem Gesichte sie staunend zu fragen schien: »Aber weshalb denn sonst?« und setzte dann lächelnd hinzu: »Nicht alle jungen Leute fragen viel danach, wenn eine alte Jungfer von Indianern und Hottentotten vorliest.«

Hinnerk fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Geographie hat mir immer besonderes Vergnügen gemacht. Ich denke, wenn ich jetzt nach Hamburg komme, kaufe ich mir ein Lehrbuch darüber und lerne unterwegs ein bißchen. Auf dem Schiffe soll man ja viel Zeit haben.«

Das Lächeln um Bertha Grotes Lippen verschwand. »Sie wagen sich in ein gefahrvolles Leben hinaus, Herr Steffen; vergessen Sie nur nicht, den besten Gefährten mitzunehmen.«

Er nickte ihr ernst zu. »Gott wird mich ja wohl drüben so gut wie hier verstehen.«

Eine kleine Pause entstand. »Haben Sie schon ein bestimmtes Ziel für Ihre Reise ins Auge gefaßt?« fragte das Mädchen.

»Ich gehe zuerst nach New-York, wo ein Bekannter von mir wohnt; von dort aus will ich versuchen, mich weiter westlich vorteilhaft anzukaufen.«

»Seien Sie nur ja recht vorsichtig, Herr Steffen. Sehe ich Sie denn noch einmal, ehe Sie abreisen?«

Er wurde ein wenig rot. »Ich wollte übermorgen dem Herrn Pastor adieu sagen; wenn ich da auch noch einmal zu Ihnen hereinkommen darf, –«

Bertha bot ihm freundlich die vorher an der Schürze abgewischte Hand. »Aber doch ganz natürlich. Es würde mir ja sehr leid sein, wenn Sie aus dem Hause gingen, ohne daß auch ich Ihnen noch eine glückliche Überfahrt gewünscht hätte.«

Als an dem Abend nach dieser Unterredung der Pastor, eine lange Pfeife rauchend, in der einen Sofaecke saß, und die Frau Pastor in der andern auf den Empfang einer neuen poetischen Idee wartete, erzählte die Stütze, was Hinnerk gesagt hatte. »Der Bursch dauert mich,« schloß sie ihren Bericht; »er steht so sehr allein. Wüßten Sie nicht ein gutes Buch, das ich ihm zum Abschied schenken könnte, weil er so gern liest?«

»Geroks Palmblätter, Frommels Hauspostille,« ließ sich das Ehepaar fast gleichzeitig vernehmen.

Fräulein Bertha machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich dachte weniger an etwas Erbauliches,« meinte sie dann, »und besonders nicht an Verse, die doch eigentlich – keinen rechten Nutzen haben,« wollte sie sagen, unterdrückte aber die beleidigende Wendung noch rechtzeitig und fuhr eilig fort: »Wenn Herr Steffen so viel Sinn für Geographie hat, wäre da nicht vielleicht ein guter Leitfaden in dieser Wissenschaft angebracht?«

Der Pastor nickte. »Der Einfall macht Ihrem praktischen Sinne alle Ehre. Wie viel gedachten Sie denn ungefähr anzulegen? Ich habe da eben – er brach ab und verließ das Zimmer, um wenige Augenblicke später mit dem großen Bücherpaket zurückzukehren, das Bertha Grote am Tage vorher dem Postboten abgenommen hatte. Das Paket enthielt theologische, geschichtliche und geographische Werke, die dem Pastor zur Ansicht zugeschickt worden waren; und unter den letzteren die neueste Auflage von Daniels geographischem Handbuche.

Als Bertha den ihr noch von der Schule her wohlbekannten Namen Daniel erblickte, griff sie sofort nach dem stattlichen Bande. »Ist dies sehr teuer, Herr Pastor?«

Er lachte. »Teuer ist ein relativer Begriff. Sie müssen am besten wissen, ob Ihnen Hinnerk 12,50 Mark wert ist.«

»Es ist teuer,« sagte das junge Mädchen erschrocken. Aber gleich darauf standen ihr wieder die nachdenklichen Augen des Burschen vor der Seele, und sie fügte rasch entschlossen hinzu: »Aber ich denke, ich darf doch so viel anwenden; es schenkt dem armen Menschen ja doch sonst niemand etwas. Bitte geben Sie mir das Buch, Herr Pastor.«

»Soll ich Ihnen eine hübsche poetische Widmung vorn hineinschreiben?« ließ sich die Pastorin vernehmen, als ihr Mann den Band schweigend ausgehändigt hatte.

Bertha Grote errötete; sie wußte selbst nicht, warum, sie fühlte nur, das es nicht vor Freude war. »Sie sind sehr freundlich,« stammelte sie dann, »aber ich möchte Sie nicht gern bemühen; es genügt wohl, wenn ich Hinnerks Namen und das Datum hineinschreibe.«

»Nun, ganz wie Sie wollen,« versetzte die Pastorin merklich kühl; »mein Vorschlag war nur gut gemeint; ich dränge meine Kunst niemand auf.«

Bertha wollte etwas entgegnen, aber sie wußte nicht recht, wie sie die Empfindlichkeit der Pastorin am besten zunichte machen und doch ihren eigenen Willen behalten könnte. Sie stand also eilig auf. »Ich will doch gleich das Geld herunterholen, damit es nicht am Ende vergessen wird.«

Aber das Hinausgehen half ihr nicht viel. Weder auf der dunklen Treppe noch in ihrem kalten Schlafstübchen fiel ihr die geeignete Antwort ein, und sie mußte froh sein, daß ihr der Pastor schon an der Tür des Wohnzimmers entgegenkam, sich den Betrag für das Buch in die Hand legen ließ und dabei besorgt sagte: »Ich höre Arnold so stark husten; bitte, sehen Sie doch einmal nach ihm.«

Von einer Auseinandersetzung mit der Pastorin war nun natürlich keine Rede mehr.

Als Arnold die schnell heißgemachte Mich getrunken hatte und eingeschlafen war, saß die Hausfrau längst weltentrückt vor der braunen Schreibmappe und durfte nur noch durch ein leises »gute Nacht« in ihren »Gedanken beim Anblick meines Kindes« gestört werden.

Am folgenden Abend hatte Bertha Grote bereits in das geographische Handbuch mit fester, wenn auch nicht besonders schöner Schrift die Worte eingetragen: »Herrn Heinrich Steffen zur freundlichen Erinnerung an Ohldorf.« Der Antrag der Pastorin war halb vergessen. Er kam ihr auch nicht in den Sinn, als sie Hinnerk am Tage vor seiner Abreise das Buch übergab, und er vor Freude und Bestürzung sich kaum ordentlich bedankte.

Erst als der Bursch schon 14 Tage fort war, wurde sie an den leisen Mißklang jenes Sonntagabends durch ein ungewöhnlich heftiges Wort der Dichterin erinnert. Die Pastorin Harms mit ihren Töchtern war wieder einmal zu Besuch, und Bertha hörte im Ab- und Zugehen, wie die Damen die Frau vom Hause eifrig um einige Verse baten, welche ihr »junges Mädchen« bei der Überreichung eines Hochzeitsgeschenks sprechen könnte. Die Pastorin schien anfänglich sehr geneigt, den Wunsch zu erfüllen, aber plötzlich – gerade als Fräulein Bertha die Kaffeetassen herumreichte – schlug ihre Nachgiebigkeit in das Gegenteil um.

»Ich bin Ihnen gern gefällig, Liebste,« sagte sie lauter als nötig war; »aber da die Strophen nicht für Sie, sondern für Ihr Hausfräulein sein sollen, so möchte ich mich doch erst vergewissern, wes Geistes Kind das Fräulein ist. Ich habe in letzter Zeit die Erfahrung machen müssen, daß diese Leute oft einen sonderbaren Begriff vom Werte der Poesie haben. Sie wissen doch, was in der Bibel von den Perlen steht? Ich nehme die häßliche Redensart nicht gern in den Mund, aber sie kann nie genug beherzigt werden, besonders von einem für die Rauheiten des Lebens doppelt empfindlichen Gemüt.«

Bertha hörte den Schluß des letzten Satzes nicht mehr, da sie währenddessen hinausgegangen war, um frischen Kaffee zu holen; aber sie hatte auch ohnehin genug vernommen, um sich verletzt zu fühlen. Waren solche scharfen Worte der Dank dafür, daß »diese Leute« sich die größte Mühe gaben, alle Unruhe, alle Arbeit, allen Ärger tunlichst von dem Gemach der poetischen Hausfrau fernzuhalten? Der Dank dafür, daß sie der alten Gesche noch am Tage vorher auseinandergesetzt hatte, Gedichte machen zu können, das wäre etwas sehr Seltenes und Wunderschönes, darum dürfte sie, die Gesche, stolz darauf sein, in einem Hause zu dienen, wo eine so hochbegabte Dame wohne. Und auf welchem Ereignisse fußte die Pastorin mit ihrer verächtlichen Äußerung? Bertha Grote mußte ihrer Empörung ungeachtet lachen. Zum erstenmal, seitdem sie im Oldorfer Pfarrhause war, dachte sie gering von der literarischen Bedeutung der Frau des Hauses, gering von dem Kultus, der mit der Begabung getrieben wurde, gering auch von anderen Verhältnissen in der Familie Cornelius.

Und wie eine Schüssel rasch weiter zu springen pflegt, wenn sie den ersten Riß erhalten hat, so wurde das Verhältnis zwischen Fräulein Bertha und der Pastorin nun bald recht unerquicklich. Nicht als ob sich die beiden von jetzt an um dies oder jenes gestritten hätten – dafür war die Hausfrau zu ideal, die Stütze zu praktisch –; aber das Befehlen der ersteren war nicht mehr liebenswürdig, der Gehorsam der letzteren nicht mehr freudig; und als Berthas Mutter wenige Wochen darauf schrieb, ihr alter, böser Rheumatismus mache ihr wieder viel zu schaffen, und an ihrer Jüngsten, Emma, habe sie recht wenig Hilfe, weil diese nur an ihre Aussteuer denke, nahm das junge Mädchen diese Mitteilungen als willkommenen Grund, ihre Entlassung zu erbitten.

Die Pastorin gewährte diese ohne großes Bedauern, und als der Pastor, von dem bevorstehenden Wechsel unterrichtet, unzufrieden sagte: »Dahinter steckt doch nichts anderes?« versetzte sie so kühl: »Ich würde Fräulein Bertha nie gekündigt haben,« daß er achselzuckend sagte: »Dann ist ihr und uns freilich nicht zu helfen.«

*

Vier Monate war Bertha Grote zu Hause, da erlitt sie mit ihrer ganzen Familie einen schweren Schlag. Wenige Tage nach der Hochzeit seiner jüngsten Tochter erkrankte der alte Kantor Grote, und ehe noch seine Angehörigen recht zur Erkenntnis seines bedenklichen Zustandes gekommen waren, hatte schon der Tod den Lebensfaden durchschnitten.

Die Witwe war fassungslos, und Berthas Brüder, die als Lehrer in ziemlich entfernten Städten angestellt waren, konnten nur eben soviel Urlaub bekommen, um bei dem Begräbnis zugegen zu sein; so lag die ganze Arbeit der trüben Zeit und alle Sorge für das Weitere allein auf Bertha. Sie trug beides mit bewunderungswerter Ausdauer und unerschöpflichem Gottvertrauen, dankbar für die Schule, die sie in dem Wirrwarr des Oldorfer Haushalts durchgemacht hatte, und erwarb sich durch ihre ebenso besonnene und energische Tätigkeit die Anerkennung aller, die mit der Groteschen Familie in Berührung kamen; leider aber auch sonst nichts.

Als sie auch noch den Umzug ihrer Mutter in die Stadtwohnung ihres ältesten Bruders besorgt hatte, der bereit gewesen war, gegen Auszahlung des kleinen Witwengehalts zwei Zimmer abzutreten und für den Unterhalt der alten Frau zu sorgen, war eins der ersten Worte ihres Bruders: »Bertha, ich weiß etwas sehr Vorteilhaftes für dich. Frau Franksen auf Hohenmoor sucht zum 1. Oktober eine tüchtige Wirtschafterin; du bekommst die Stelle sicher, wenn du dich sofort bewirbst.«

»Aber, Wilhelm, wohin denkst du?« klagte die Mutter. »Der erste Oktober ist ja schon in acht Tagen, und Bertha hat noch keine Tasse ausgepackt, noch kein Bild aufgehängt.«

»Das können meine Frau und ich ebenso gut besorgen, wenn Bertha wirklich keine Zeit mehr dazu finden sollte,« fiel der junge Lehrer ungeduldig ein.

»Aber Frau Franksen soll ja so sehr genau sein,« klagte die Kantorin weiter.

»Davor wird sich doch Bertha nicht zu fürchten brauchen,« widerlegte Wilhelm spöttisch, »du strichst ja erst neulich ihre Sparsamkeit über alle Maßen heraus.«

Die alte Frau verstand noch immer nicht, was ihr Sohn eigentlich meinte. »Bertha kann sich hier doch erst einige Zeit ausruhen, ehe sie wieder eine Stelle annimmt,« sagte sie leise.

Nun war die Geduld des Pädagogen erschöpft. »Gewiß, das ist für sie ja auch das Bequemste,« sagte er und erhob dabei die Stimme, als redete er zu einer Klasse von mindestens sechzig unartigen Kindern. »Da kann sie in den Tag hineinleben und Gott einen guten Mann sein lassen; der Bruder schafft das Geld an, und die Schwägerin setzt das Essen auf den Tisch. Sie wäre ja dumm, wenn sie ein solches Herrenleben nicht so lange wie möglich führen möchte.«

Bertha, die schon während der ersten Worte ihres Bruders ins Nebenzimmer gegangen war, um das Bett ihrer Mutter in Stand zu setzen, kam jetzt mit einem Armvoll Packleinen über die Schwelle. »Warum schreist du denn so furchtbar, Wilhelm? Ich räume nur noch diese paar Kisten weg, dann schreibe ich gleich an Frau Franksen. Ich habe meine Zeugnisse glücklicherweise so gepackt, daß ich ohne Aufenthalt daran kann. Ich ahnte, daß ich sie sofort brauchen würde,« wollte sie noch hinzufügen, aber sie besann sich rasch und stieg, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, mit den leeren Kisten die Bodentreppe hinauf. Sie wußte ja nur zu gut, was ihren gutmütigen Bruder so beißend hatte sprechen lassen; es war die Furcht vor der übeln Laune seiner Frau, die aus ihm redete, und so erschöpft sich auch Bertha fühlte, war sie doch entschlossen, lieber die erste beste Stelle anzunehmen, als dieser übeln Laune nur einen Tag länger, als unumgänglich nötig war, Grund zu gelegentlichen Ausbrüchen zu geben.

So bewarb sie sich denn schon eine Stunde später um die Stelle als Wirtschafterin auf Hohenmoor und zeigte eine so ungeheuchelte Befriedigung, als sie zwei Tage darauf die lakonische Antwort erhielt: »Unser Wagen erwartet Sie am 1. Oktober Nachmittag 5 Uhr an der Bahn-Station,« daß ihre Mutter das Klagen aufgab, um so leichter, als kein Bild an der Wand mehr fehlte und jedes Stückchen Glas und Porzellan seinen richtigen Platz hatte.

Als Bertha Grote auf Hohenmoor anlangte und die Hausfrau auf dem Sofa liegend antraf, glaubte sie einen Augenblick, die Oldorfer Verhältnisse würden sich hier erneuern; aber schon nach zehn Minuten war sie anderer Ansicht. Frau Franksen war keine Dichterin, und wenn sie sich stundenlang aus Küche und Milchkeller entfernte, so geschah dies keineswegs, um Verse zu machen, sondern nur, um ihren bei einem Falle schwer beschädigten Fuß zu schonen. Nur wegen dieses Fußes hatte sie auch auf Befehl des Arztes eine Wirtschafterin genommen; für ihre anderen Glieder brauchte sie keine Vertretung, so erklärte sie dem jungen Mädchen ohne weiteres, d. h. sie sähe und hörte selber sehr genau alles, was vorginge, und ihr Mundwerk sei ebenfalls in bester Ordnung. Von der Wahrheit dieser Behauptung überzeugte sich Bertha noch an demselben Abend. Eine Tür knarrte irgendwo, und sogleich ertönte Frau Franksens scharfe Stimme: »Lene, was hast du in dem Mittelfach des Geschirrschranks zu tun? Du brauchst keinen guten Löffel zu nehmen.« Die Schürze des auftragenden Dienstmädchens zeigte Milchspuren, und wieder erscholl es sofort: »Wer hat dich geheißen, schon jetzt die Töpfe hinuntertragen? Du hast gewiß das Füttern wieder einmal so unordentlich wie nur möglich besorgt.«

Es war Bertha Grote nicht zu verdenken, daß ihr vor der nächsten Zukunft ein wenig bange war, als sie an jenem Abend schlafen ging; aber die Sache machte sich besser, als sie gefürchtet hatte. Die übertriebene Sparsamkeit des Ehepaars Franksen verletzte sie in der ersten Zeit zwar mehr als einmal, und zuweilen war ihr auch zu Mute, als verlangte die Hausfrau mehr, als zwei Füße und zwei Hände leisten können; aber da sie fest entschlossen war, so lange wie möglich auszuhalten, und der scharfe Blick der Gutsherrin sehr bald die Tüchtigkeit des jungen Mädchens erkannt hatte, gestaltete sich das Verhältnis allmählich wenn nicht schön, so doch haltbar, und der kluge Wilhelm konnte sich schon zu Neujahr gegen seine Mutter rühmen, durch seine vermeintliche Härte das Glück der Schwester begründet zu haben.

*

Der Winter war vergangen, die Weiden am Bach zeigten die ersten Kätzchen, die Stachelbeerbüsche hinten im Garten das erste zarte Grün, da saß an einem Sonntagmorgen Bertha Grote in der Küche und schälte die letzten Aepfel zu einem Brei für die Herrschaft. Kam es nun durch die ähnliche Beschäftigung, oder machte es das ähnliche Wetter, sie mußte auf einmal so lebhaft wie nie an Hinnerk und den Sonntagnachmittag denken, an dem er ihr für die Teilnahme dankte, die sie ihm gezeigt hatte. »Ob er wohl noch lebt?« murmelte sie vor sich hin.

Da rief die ihr wohlbekannte Stimme des Postboten vom Eingänge her: »Guten morgen, Fräulein Grote. Heute bekommen Sie aber einen Brief, der viel von der Welt gesehen hat.«

Der Alte hatte nicht so unrecht, wenigstens vielgereist genug sah das Schriftstück aus, das er in die Hand des erstaunten Mädchens legte. Es stammle, den Marken nach zu schließen, aus Amerika und war zuerst nach Oldorf gewandert, von dort in das Dörfchen geschickt worden, wo der alte Kantor begraben lag; hier hatte es wieder eine mitleidige Seele mit der Adresse des Lehrers Wilhelm Grote versehen, und von dort aus war es nun glücklich nach Hohenmoor gelangt, auf beiden Seiten mit Schriftzügen und Tintenklecksen so bedeckt, daß es schwerlich mehr einer fünften Angabe Raum gewährt hätte.

Der Postbote war schon längst wieder gegangen, da hielt Bertha noch immer den Brief ungeöffnet in der Hand, suchte den Poststempel zu entziffern und überlegte, ob es wohl der vor sieben Jahren ausgewanderte Vetter wäre, der da an sie schriebe. Endlich gab sie ihre doppelte Bemühung als fruchtlos auf und schnitt rasch entschlossen den Umschlag auseinander. Es waren zwei Briefbogen, die sie hervorzog, beide in einer und derselben großen, deutlichen Männerschrift, und die Unterschrift der acht Seiten lautete: »Ihr Sie hochverehrender Heinrich Steffen.«

Berthas für gewöhnlich ziemlich bleiches Gesicht rötete sich vor Freude, als sie den Namen las, und ein freundliches Lächeln spielte um ihre Lippen, während sie den ersten Bogen öffnete und überflog. Aber je weiter sie kam, desto ernster wurde ihre Miene, und als sie die letzte Seite zu Ende gelesen hatte, rollten große Tränen über ihre Wangen. Sie hatte seit dem Begräbnis ihres Vaters nicht mehr geweint, so schwer ihr das Herz auch manchmal gewesen war, es mußte also etwas ganz Ungewöhnliches sein, das ihre tiefe Rührung veranlaßte.

Und etwas ganz Ungewöhnliches war es auch; Hinnerk hielt in den ehrerbietigsten Ausdrücken um ihre Hand an. Es war ihm in dem fernen Westen nach mancher Irrfahrt und mancher Täuschung wohlgelungen. Er hatte sich in Missouri angekauft und gleich im ersten Sommer eine so vorzügliche Ernte gehabt, daß er den Rest des Kaufgeldes schon beinahe ganz hatte abtragen können. Aber bei allem seinem Glück und den guten Aussichten für die Zukunft, die er hegen durfte, war ihm einsam zu Mute. »Ich habe treue deutsche Nachbarn genug hier,« schrieb er, »die sich gern mit Rat und Tat meiner annehmen, und ich glaube, ich würde, wenn ich wollte, auch ein gutes deutsches Mädchen finden, dem der Farmer Steffen zum Manne anstünde, aber –« und nun brachen alle die Gefühle der Dankbarkeit und der Verehrung, die er seit dem ersten Abend in der Oldorfer Pfarrküche für Bertha Grote gehegt hatte, in nicht gerade schönen, aber sehr überzeugenden Worten hervor und endigten mit der Bitte: »Wenn Sie sich also an den Gedanken gewöhnen können, die Frau eines Bauern zu werden und auf einer deutschen Ansiedelung in Missouri zu leben, so schreiben Sie mir nur mit ein paar freundlichen Worten, daß ich kommen und Sie holen darf.«

Bertha hatte noch nie einen Antrag erhalten, und es war ihr angesichts der abhängigen Stellung, in welcher sie sich seit Jahren befand, und der freundlichen Erinnerung an Hinnerk nicht übelzunehmen, wenn ihr dieser erste recht herzlich wohltat, so wohl, daß sie sich für eine Stunde ganz von dem Wunsche beherrscht fühlte, die dargebotene Hand anzunehmen und den jungen Bauern zum Kommen aufzufordern. Aber je weiter der Tag vorschritt, desto leiser klang in ihrem Herzen das ermutigende Wort: Du wirst mit Hinnerk glücklich sein; desto lauter in ihrem Kopfe das zweifelnde: Wird Hinnerk auch mit dir glücklich werden? Und noch ehe der Abend herankam, hatte ihr klarer, kühl abwägender Verstand über alle schnell entflammten Hoffnungen den Sieg davongetragen.

Als im Gutshofe alles zur Ruhe gegangen war, und Bertha sich mit der Küchenlampe in ihr stilles Schlafstübchen zurückgezogen hatte, schrieb sie einen bei aller gedrängten Kürze sehr ausdrucksvollen Brief an ihren Bewerber, in welchem sie ihm nach flüchtiger Darlegung ihrer Verhältnisse in warmen Worten für seine gute Meinung von ihr dankte und ihn bat, es nur als einen Beweis ihrer aufrichtigen Freundschaft für ihn anzusehen, wenn sie seinen Antrag ablehne. »Sie müssen eine hübsche, junge Frau haben, lieber Herr Steffen, und nicht eine alte Jungfer wählen, wie ich es bin; Sie sind gewiß 6 bis 7 Jahre jünger als ich.« So ungefähr lautete der entscheidende Satz, und Bertha sah erst am folgenden Morgen, daß sie denselben viel größer und deutlicher geschrieben hatte, als alles Vorhergehende und Nachfolgende. »Da hat gewiß die dumme Küchenlampe besonders klein gebrannt,« murmelte sie verdrießlich, den Unterschied wahrnehmend. Als sich aber keine weiteren unangenehmen Spuren der trüben Beleuchtung zeigten – schlecht brennende Lichter machen zuweilen auch die Augen tränen –, hielt sie den Schaden für nicht wesentlich genug, um den Brief noch einmal abzuschreiben, und ließ die Antwort, so wie sie war, die Reise über das Weltmeer antreten.

Sie hatte keine Zeit, ihr in Gedanken nachzugehen; der Garten mußte besorgt werden, und im Hause sollte auf Befehl Frau Franksens eine Frühjahrsfegerei stattfinden, bei der kein Stück an seinem Platze bleiben durfte; da wußte eine gewissenhafte Wirtschafterin, wie Bertha, schon mehr als genug, was sie in den paar Minuten vor dem Einschlafen und beim Butterschlagen zu bedenken hatte.

Nur einmal, etwa drei Wochen nachdem sie den Brief an Hinnerk abgeschickt hatte, begegnete es ihr beim Erbsenlegen, daß es ihr plötzlich bleischwer aufs Herz fiel: Jetzt weiß er, daß ich ihn nicht heiraten will, und nimmt sich eine andere. Und so traurig wurde ihr bei dieser Vorstellung zu Mute, daß sie sich ein paar Augenblicke an einen Pflaumbaum halten und die Augen schließen mußte.

Als aber das mit ihr arbeitende Dienstmädchen erschrocken fragte: »Fräulein, haben Sie sich wehgetan? Sie sind ja ganz furchtbar blaß;« da ging die Anwandlung vorüber, und sie antwortete, nach den Erbsen in der Schürze greifend, mit einem Versuch zu lächeln: »Nein, Lene, glücklicherweise nicht, mir war nur von dem Bücken ein bißchen schwindlig geworden.«

Der Sommer mit seiner rastlosen Arbeit in Garten, Küche und Keller war vergangen, und der Herbst, für Bertha Grote besonders am Obsttrocknen und Gemüseeinmachen kenntlich, herbeigekommen, da hustete Frau Franksen, die sich jetzt mit Hilfe ihres Stocks wieder leidlich gut fortbewegen konnte, eines Abends mehrmals unverhofft so laut und herausfordernd, daß das Fräulein sie zuletzt etwas verwundert ansah. »Ist Ihnen ein Krümchen im Halse stecken geblieben?«

Frau Franksen lachte gezwungen.

»Ein Krümchen weniger, als eine Mitteilung, die ich Ihnen machen muß.« Und nach einem erneuten, sich sehr nach Verlegenheit anhörenden Hustenanfalle kam es zögernd heraus: »So leid es mir tut, Fräulein Grote, ich muß Ihnen kündigen.«

Bertha war so erschrocken, daß ihr der Samenbeutel, an dem sie nähte, aus den Fingern glitt. »Habe ich irgend etwas nicht recht gemacht, Frau Franksen?«

Die Hausfrau schüttelte lebhaft den Kopf. »Bewahre, liebes Fräulein, wie können Sie nur so etwas denken! Nein, im Gegenteil, wir sind sehr zufrieden mit Ihnen, und ich besonders würde Sie am liebsten ganz behalten, wenn Sie – wenn nicht – aber Sie wissen ja, wie wir jeden Pfennig zu Rate halten müssen, um auszukommen, und wie nötig es ist, daß ich selber wieder mit zugreife. Wenn ich freilich wüßte, daß Sie gern bleiben möchten und nicht so viel Wert wie andere auf ein bares Gehalt legten – was meinen Sie dazu? Behandeln würden wir Sie in diesem Falle selbstverständlich wie eine Tochter.«

Bertha hatte während dieser ein wenig unklaren Rede ihre ganze Ruhe zurückgewonnen. Schon durch das im Munde Frau Franksens sehr fremdartig klingende »liebes Fräulein« stutzig gemacht, war sie bald zu der Erkenntnis gelangt, daß Frau Franksen mit ihrer plötzlichen Kündigung und den darauf folgenden Andeutungen weiter nichts als eine Verminderung ihres Gehalts zu erreichen suchte. Sie fühlte sich von dieser unedeln Absicht der reichen Frau um so mehr abgestoßen, als sie genau wußte, wie viel sich diese auf den »billigen Fund, den sie gemacht hatte,« zugute tat. Ihr Gesicht trug darum auch einen sehr entschlossenen Ausdruck, als sie ruhig zur Antwort gab: »Sie meinen, ich solle ohne Bezahlung hier bleiben? Nein, das kann ich nicht, ich nehme Ihre Kündigung zum 1. Januar an.«

Frau Franksen biß sich auf die Lippe; sie bereute ein wenig, so rasch vorgegangen zu sein, aber zu stolz, wieder einzulenken, und auch zu sehr von dem Wunsche beherrscht, im nächsten Jahre 300 Mark mehr anlegen zu können, verlor sie kein Wort weiter über die Angelegenheit. Nur eine Bedingung stellte sie noch: Bertha möchte schon am 15. Dezember abgehen; mehrere ihrer Söhne kämen über das Fest zu Besuch, und da hätte sie gern ein Zimmer mehr frei. Lächelnd gestand ihr das junge Mädchen dies zu; ihm lag ja selbst nicht mehr besonders viel an einer Weihnachtsfeier in diesem sparsamen Hause.

So trat denn Bertha an einem klaren, kalten Dezember-Morgen die Rückreise nach der Stadt an, die sie vor wenig mehr als einem Jahre verlassen hatte. Ihr war nicht wohl zu Mute. Den Abschied von dem schönen Hohenmoor hatte sie schwerer gefunden, als sie gedacht hatte, und obwohl sie schon wieder eine Stelle in Aussicht hatte, graute ihr doch vor der nächsten Zukunft. Da würde ihre Mutter darüber klagen, daß sie diese »angenehme« Stelle nicht länger hätte behalten können, ihr Bruder weise Reden über die Tugend der Beharrlichkeit führen, welche der weiblichen Natur nun einmal versagt sei, und ihre Schwägerin zum hundertstenmal den einzigen Witz ihres Lebens wiederholen: »Ein Engagement auf Lebenszeit, wie ich es mit Wilhelm eingegangen bin, ist und bleibt doch das Beste für jede Frau, nicht wahr, Schatz?« Und dann würde sie sich der Familie Müller, die sie als Haushälterin haben wollte, in dem Landstädtchen an der Weser vorstellen müssen. »Wenn Sie uns persönlich gefallen, behalten wir Sie gern längere Zeit,« so hatte Frau Müller verheißungsvoll geschrieben. Wie lange würde wohl diese längere Zeit dauern? Und was würde es geben, wenn sie persönlich nicht gefiel?

Bertha war so tief in ihre peinlichen Gedanken versunken, daß sie ganz erstaunt aufblickte, als das gleichmäßige Stampfen des Bahnzugs, in dem sie saß, aufhörte, und sie die Station vor sich liegen sah, an welcher sie umsteigen mußte. Eilig verließ sie den Wagen, um ja den Anschluß nicht zu versäumen, und mäßigte ihren Schritt erst dann ein wenig, als ein Schaffner ihr beruhigend zugerufen hatte: »Ihr Zug fährt erst in 20 Minuten; gehen Sie nur so lange in den Wartesaal.«

Aber der saß voll von Landwirten, die zu irgend einem Kreistage wollten, und die Luft darin war undurchsichtig und schwer von Tabakrauch und Biergeruch. Bertha warf nur einen Blick in den ungemütlichen Raum, dann kehrte sie wieder auf den Bahnsteig zurück. Da war doch reine Luft und Sonnenschein. Wie dieser sie so freundlich umgab, und sie gewahr wurde, aus einem wie wundervollen, tiefblauen Himmel er herabkam, vergaß sie plötzlich alle ihre Sorgen.

Ihr blasses Gesicht hellte sich auf, und ein heiteres Lächeln schwebte um ihren Mund. Wie hatte sie nur ihren schönen, tröstlichen Konfirmations-Spruch: »Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir,« so aus dem Sinne verlieren können, wie die Liedzeile vergessen, die ihr immer so besonders Wohlgefallen hatte: »Überall weht Gottes Hauch!«

Ihre Blicke folgten dem glänzenden Schienenstrange, auf dem sie in einer Viertelstunde nach der Stadt fahren wollte. Konnte es nicht sein, daß er für sie ein Weg zum Glück wurde?

Da klang ein rascher Schritt hinter ihr, und ehe sie sich noch umwenden konnte, sagte eine laute, freudig bewegte Stimme: »Guten Morgen, Fräulein Grote. O wie gut ist es, daß ich Sie schon hier finde!« Und sie sah mit ihren von den blitzenden Schienen und der strahlenden Wintersonne halb geblendeten Augen in das treuherzige Gesicht Heinrich Steffens.

Und wie stattlich war der geworden, seitdem sie ihn nicht gesehen hatte! Wie gut stand ihm der Vollbart, der jetzt sein Gesicht umgab! Wären nicht die nachdenklichen Augen gewesen, die bei aller sichtlichen Freude ihren alten Ausdruck zeigten, und hätte sich nicht immer noch über die rechte Braue die alte Narbe hingezogen, von welcher er ihr einst erzählt hatte, daß er sie beim Holzspalten bekommen habe, sie hätte glauben können, es wäre einer der reichen Gutsbesitzer der Nachbarschaft, der sich einen schlechten Scherz mit ihr mache. Aber sie kannte ihn nur zu gut, und als er ihr in seiner gewohnten, halb scheuen, halb zutraulichen Weise die Rechte entgegenstreckte, legte sie ohne Zögern ihre Hand hinein und sagte so recht von Herzen: »Was ist das für eine Freude, Herr Steffen! Wo kommen Sie denn her, und wo wollen Sie jetzt hin?«

Er lächelte verlegener, als es sich für einen Grundbesitzer des freien Amerikas schickt. »Ich bin gestern in Bremerhaven an Land gestiegen und will heute – und wollte heute – ich bin am Ziele,« schloß er unvermittelt, und der Händedruck, mit dem er seine Worte begleitete, sagte Bertha deutlicher, als die lakonische Wendung, daß sie sein Reiseziel sei. Sie wurde rot, aber sie entzog ihm ihre Hände nicht. »Wenn Sie wirklich zu mir wollen,« sagte sie dann leise, »so müssen Sie jetzt mit mir nach Olbendorf fahren. Ich habe heute meine Stelle in Hohenmoor für immer verlassen und reise soeben auf acht bis vierzehn Tage zu meiner Mutter.«

Hinnerk hatte ihr aufmerksam zugehört. »Wie glücklich sich das alles trifft!« meinte er sinnend. »Sie wollten mich in Bremen überreden, erst mit dem folgenden Zuge zu fahren, weil der hier schneller Anschluß hat; aber ich dachte, ich wollte lieber hier eine Stunde länger warten, als drei Stunden später in Hohenmoor ankommen. Wenn ich dem Rate der Herren gefolgt wäre, wieviel umständlicher wäre die Reise zu Ihnen geworden! Darf ich denn nun aber auch wirklich mit Ihnen nach Olbendorf fahren?«

Sie nickte. »Holen Sie sich nur rasch Ihre Fahrkarte, der Zug muß gleich kommen.«

Mit einem frohen Aufleuchten seiner nachdenklichen Augen folgte er ihrem Geheiß.

Bertha sah ihm tief atmend nach. »So schnell, so schnell!« murmelte sie dann für sich; aber der Ausdruck ihres noch immer rosig angehauchten Gesichts zeigte, daß sie die unerwartete Wendung, welche nun ihr Leben zu nehmen schien, nicht für schlimm hielt.

Die etwa zwei Stunden dauernde Fahrt nach Olbendorf, welche die beiden, da der Zug schwach besetzt war, ganz ungestört von dritten, zurücklegten, war besonders für Bertha viel wert; gewann sie doch während der Zeit aus Hinnerks schlichten Erzählungen einen klaren Einblick in die Redlichkeit seines Charakters, in seine ernste, fromme Lebensanschauung, in die Tiefe seiner Neigung zu dem Oldorfer Pfarrfräulein.

»Wer immer mit feinen Leuten umgeht,« erzählte er treuherzig, »der wird gar nicht begreifen können, wie viel Sie mir immer gegolten haben, erst in Oldorf und hernach in Amerika; dort noch viel mehr; denn wenn ich in Missouri auch deutsche Nachbarn genug habe, die ich bei meinen Arbeiten um Rat fragen kann, für mancherlei ist doch eine kluge und gute Frau das beste Vorbild. Und so habe ich denn auch tausendmal, wenn ich mir nicht recht zu helfen wußte, an Sie und Ihr immer so richtiges Benehmen gedacht und mich gefragt, wie Sie es in meiner Lage wohl machen würden, und das hat mich oft auf den rechten Weg gebracht. Manchmal freilich nützte mir das An-Sie-denken nichts, und ich konnte mir nur wünschen, daß Sie bei mir wären.« Er stockte und sah Bertha ernst an. »Es war ein rechter Schlag für mich, als Sie mir schrieben, Sie wollten mich nicht,« fuhr er fort; »zwei Monate lang habe ich damit zu schaffen gehabt. Da kam der Christian Jürgens aus Elsfleth, mit dem ich zusammen gedient habe, zu mir nach Springfield – so heißt meine Farm –, und weil er immer ein braver Kamerad war und bald merkte, daß mir etwas fehlte, zeigte ich ihm Ihren Brief. Und er sagte,« – hier machte Hinnerk abermals eine Pause – »Sie schrieben ja eigentlich recht freundlich, und ich hätte gar nicht nötig, den Mut sinken zu lassen. Das gefiel mir natürlich sehr, und als er mir den Rat gab, ihm, wenn die dringendste Arbeit getan wäre, die Verwaltung der Farm für zwei Monate zu überlassen – denn Christian bleibt bei mir in Springfield – und zu Ihnen herüberzufahren, da besann ich mich nur eine Nacht und reiste ab, sobald es ging. Wollen Sie nun – können Sie nun« – der Blick des jungen Mannes war immer besorgter geworden.

Bertha machte seiner Unruhe ein rasches Ende. »Ja, Herr Steffen,« sagte sie einfach, »ich kann und ich will mit Ihnen gehen. Nur, weil ich Ihr Bestes wünschte, riet ich Ihnen damals, eine jüngere zu wählen. Wenn Sie aber den Altersunterschied zwischen uns nicht für ein Hindernis ansehen, so kommen Sie heute nachmittag zu uns, und meine Mutter, der ich doch erst von Ihnen erzählen muß, erlaubt es dann gewiß, daß wir uns verloben.« Sie war während der letzten Worte, so überlegt sie auch sprach, doch recht verlegen geworden, und die zarte Röte, die ihr Gesicht bedeckte, als sie zu Ende war, stand ihr so gut, daß Hinnerk ihr für sein Leben gern gesagt hätte, er fände sie viel schöner und jünger aussehend, als alle Mädchen der Welt. Aber er wagte das nicht; wie leicht konnte eine solche Kühnheit die Hoffnung zerstören, die ihm das Fräulein gegeben, und die ihn so glücklich machte!

»Ich danke Ihnen viel-, vielmals,« erwiderte er nur, und seine nachdenklichen Augen strahlten. »Darf ich wohl schon um drei Uhr zu Ihrer Mutter kommen?«

Bertha nickte ihm lächelnd zu, und nicht wie ein Brautpaar, aber wie treue Kameraden saßen sie nun in lebhafter Unterhaltung noch bei einander, bis der Zug in den Bahnhof von Olbendorf einlief.

Bertha, die von Hinnerk bis an die Tür der Wohnung des Bruders begleitet worden war, hatte anfangs einige Mühe, ihrer Mutter die Bedeutung des bevorstehenden Besuchs klarzumachen. Ja die Kantorin brach sogar in heftiges Weinen aus, als ihre Tochter, die sie sich schon gar nicht mehr anders als unverheiratet denken konnte, die Absicht aussprach, nicht nur zu heiraten, sondern auch nach Amerika zu gehen, und sie klagte: »Bertha, willst du dich und mich denn rein unglücklich machen?« Diese Klage bildete eine Stunde lang fast die einzige Antwort auf alle Vorstellungen des armen Mädchens.

Aber die Auffassung der Sachlage gestaltete sich schon erheblich anders, als Bruder Wilhelm aus der Schule kam. Der verstand sich eben, nachdem ihm ein kurzes Kreuzverhör mit seiner Schwester den nötigen Einblick in die Angelegenheit verschafft hatte, viel besser als Bertha auf eine schlagende Beweisführung. Mit überlegener Ruhe entkräftete er einen der weinerlichen Einwürfe der Kantorin nach dem andern, und wenn er einmal nicht sogleich einen recht gewichtigen Gegentrumpf auszuspielen hatte, so leistete ihm eine scharfe Frage: »Wie meinst du denn das, Mutter?« oder ein lächelnder Ausruf: »Aber, liebe Mutter, sei doch nicht so unlogisch!« einstweilen die besten Dienste.

Bertha, hatte noch selten Gelegenheit gehabt, ihrem Bruder dankbar zu sein; als es ihm aber während des Mittagessens gelungen war, die Mutter in ihren Vorurteilen wankend zu machen, und als er dann dem pünktlich um drei Uhr eintretenden Hinnerk mit aufrichtiger Freundlichkeit entgegenkam, da quoll ein lange nicht empfundenes Gefühl schwesterlichen Stolzes in ihr auf, und es war keine bloße Förmlichkeit, als sie ihm nach der Verlobung herzlich die Hand drückte und sagte: »Es freut mich, lieber Wilhelm, daß du mit mir so einig bist.«

Um jedoch jedem die ihm zukommende Ehre zu geben, auch bei dem strengen Pädagogen war es mehr als leere Redensart, als er, die Schwester in die Arme schließend, was er noch nie getan hatte, ihr liebevoll ins Ohr flüsterte: »Über einen solchen Bewerber läßt sich gut einig sein; ich wünsche mir gar keinen bessern Schwager.«

Hinnerks biederm, treuherzigem Wesen war freilich auch schwer zu widerstehen. Das empfand nicht nur der junge Lehrer, das merkte auch die alte Kantorin. Unter dem Einflusse der bescheidenen, teilnehmenden Worte des stattlichen Mannes mit den ehrlichen Kinderaugen schwanden ihr allmählich alle Sorgen um Berthas Zukunft. Noch ehe die gleichfalls sehr erwärmte Schwiegertochter den Verlobungspunsch auf den Tisch brachte, nannte sie den neuen Sohn Heinrich und du und lächelte ihm freundlich zu, als er ihr ganz genau sein geliebtes Springfield beschrieb und mit dem schlichten Bekenntnisse schloß: »Die Farm ist so schön, daß ich mit Gottes Hilfe wohl auch allein dort weiterleben könnte, aber ich glaube, wenn ich sie nun mit Bertha zusammen bewirtschafte, kommt sie mir doch noch tausendmal schöner vor.«

*

Es war drei Tage nach diesem ereignisreichen 15. Dezember, da trat um die Abendzeit der Oldorfer Pastor sichtlich erregt in das Wohnzimmer, wo seine Frau dichtend vor der braunen Schreibmappe saß.

»Weißt du, wer eben bei mir war?«

»Nein, Männchen, du weißt ja, daß die Welt für mich versinkt, sobald ich die Feder zur Hand nehme. Wer war es denn?«

»Hinnerk Steffen. Du erinnerst dich wohl noch des jungen Bauern, der vor zwei Jahren nach Amerika ging?«

»Ich glaube, ja. Schenkte ihm nicht noch unser damaliges junges Mädchen den großen Daniel zum Abschiede?«

»Ganz recht, ganz recht; dieser Umstand war mir entfallen. Er ist aber sehr bezeichnend für Bertha Grote.«

Der Pastor sprach den Namen mit solchem Nachdruck aus, daß seine Frau nicht umhin konnte, eine Bemerkung darüber zu machen. »Ei, sieh, wie gut dein Gedächtnis für Vor- und Zunamen der jungen Damen ist! Kannst du noch alle unsere verflossenen Grazien so ohne Zögern nennen?«

Er schüttelte abweisend den Kopf. »Das wäre zu viel verlangt bei dem häufigen Wechsel, der bei uns nun einmal Brauch zu sein scheint. Aber ein Mädchen wie Bertha Grote merkt man sich auch unter Hunderten. Wie hatte die alles im Zuge! Immer waren meine Zeitungen da, immer die Ellenbogen der Kinderjacken geflickt.« Er legte die Hände auf den Rücken und ging gedankenvoll in der Stube auf und nieder.

Die Pastorin spielte etwas ungeduldig mit ihrer Feder. »Ich meine, du wolltest mir von dem jungen Steffen erzählen. Statt dessen vertiefst du dich, so scheint es, vollständig in Erinnerungen an deine vielgepriesene Bertha Grote. Was wollte denn Hinnerk bei dir?«

Der zerstreute Herr sah auf. »Sagte ich es dir noch nicht? Er will sich in drei Wochen mit Bertha Grote trauen lassen und bat mich um die nötigen Papiere.«

»Nicht möglich! Wie sind denn die beiden wieder zusammengekommen?« Die Pastorin zeigte so auffallend viel Teilnahme, daß ihr Mann sich neben sie aufs Sofa setzte und ihr alles erzählte, was er von Hinnerk erfahren hatte. Die Geschichte machte tiefen Eindruck auf das empfängliche Gemüt der Dichterin.

»Wie rührend! wie poetisch!« rief sie aus, als der Pastor zu Ende war. »Sollten wir nicht dem jungen Paare etwas recht Sinniges zur Hochzeit schenken?«

Der Pastor nickte. »Ich dachte an Richters ›Vaterunser‹. Die schöne Mappe kostet zwar 6 Mark, aber so viel können wir für die beiden wohl anwenden. Meinst du nicht?«

»Natürlich. Der lyrische Stoff, den mir dies Verhältnis liefert, ist ja geradezu unbezahlbar.«

Der Hausherr sah seine Frau von der Seite an. »Du willst doch nicht etwa gar Hinnerk in deine lyrischen Blumenkränze einflechten?«

»Gewiß will ich das. Seine Treue, die über alle Fernen triumphiert hat, die in dem Weltmeere nicht untergegangen ist, die in den Wäldern des Westens ihn geführt hat –« sie unterbrach sich errötend. »Es gibt ein reizendes Gedicht, wenn ich nur ein ganz klein wenig in Ruhe gelassen werde.«

Der Pastor erhob sich. »In Ruhe will ich dich schon lassen, wenn dein Geist dich so sehr treibt, ein Loblied auf die Treue des wackern Burschen zu singen. Mich dünkt nur, Paul Flemming hat das bereits sehr schön getan.«

»Paul Flemming? so? was für ein Lied meinst du?« fragte die Dichterin zerstreut.

Lächelnd verließ ihr Mann das Zimmer. Nach einer Weile kehrte er mit einem kleinen Buche zurück, legte es aufgeschlagen auf die braune Schreibmappe und deutete mit dem Finger auf einige kurze Strophen. »Das getreue Herz« waren sie überschrieben, und als die Pastorin sie aufmerksam durchgelesen hatte, schloß sie ihre braune Schreibmappe und ließ wenigstens an diesem Abend Hinnerks Treue unbesungen. Dem Pastor aber lag noch lange im Sinne:

»Gunst, die kehrt sich nach dem Glücke,
Geld und Reichtum, das zerstäubt,
Schönheit läßt uns bald zurücke,
Ein getreues Herze bleibt.
Mir ist wohl bei höchstem Schmerz,
Denn ich weiß ein treues Herz.«


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