Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Gustav Falke

Geboren am 11. Januar 1853 in Lübeck. Falke wurde Buchhändler in Hamburg, später in Lübeck, Essen, Hildburghausen und Stuttgart. 1880 kehrte er nach Hamburg zurück und wurde hier Klavierlehrer. Falke starb am 8 Februar 1916 in Großborstel/Hamburg. Deutscher Schriftsteller; Lyrik und Erzählungen, auch in niederdeutscher Sprache.

Die Stadt mit den goldenen Türmen

(Zweites Buch, I. Kapitel)

Der Vater hatte mich nach Hamburg gebracht. Am Bahnhof empfing uns eine alte, verstaubte Chaise, auf deren Bock ein bäurischer Kutscher saß; er hatte einen dicken Wollschal um den Hals und große, wollene Fausthandschuhe an den Händen. Aus dem tiefen, dunklen Raum des Wagens schälte sich ein alter Mann mit hohem, grauen Zylinder, schälte sich aus einem Wust von Wolldecken heraus und stieg steifbeinig auf das Straßenpflaster, wobei der Vater ihm behilflich war.

Das war mein Onkel Theodor. Wir Kinder hatten selten von ihm gehört, und ein Verkehr zwischen den Eltern und ihm hatte auch kaum stattgefunden. Der Vater hatte mir nichts von ihm gesagt, und ich war erstaunt, ihn zu sehen. Er sah mich mit guten Augen an, reichte mir freundlich die Hand, und ich setzte mich gern zu ihm in seinen Wagen.

Da es regnete, blieben die Fenster der alten, klapprigen Chaise geschlossen; sie beschlugen schnell, und ich konnte den Weg, den wir nahmen, nur undeutlich erkennen. Der Vater und der Onkel schrien gegeneinander an, denn das alte Gefährt machte auf dem Straßenpfiaster einen großen Lärm.

Wir fuhren nun durch viele breite und helle Straßen, bogen in eine Seitengasse ein, ratterten zwischen hohen Häusern hin und hielten endlich vor der Buchhandlung.

Ein paar Straßenjungen standen still und spotteten über die alte Kutsche und den Johann im dicken Wollschal, der gewiß keinen sehr herrschaftlichen Eindruck machte.

Ich ließ meinen Blick schnell über die bunte Bücherauslage des Schaufensters schweifen, wunderte mich über die schmale Ladentür und fühlte plötzlich mein letztes bißchen Mut entschwinden. Die beiden Alten schoben mich vor sich her in den Laden, die Tür schloß sich mit einem schrillen Klingeln hinter uns, und da stand ich nun auf dem Boden meiner nächsten Zukunft.

Ganz hinten in dem langen, schmalen Raum löste sich eine Gestalt von einem hochbeinigen Sessel und kam mit vielen Verbeugungen eines kundenfrohen Geschäftsmannes auf uns zu. Als der Vater uns vorstellte, schien der Überhöfliche ein wenig enttäuscht, gab sich als der Chef zu erkennen und reichte mir mit einer gemachten Freundlichkeit die Hand.

»Gehen Sie nur gleich nach hinten,« sagte er und rief den Hausknecht, mich zu geleiten.

Dieses schnelle Verfügen über mich, bevor ich mich noch von meinen Begleitern verabschiedet hatte, war nicht geeignet, meinen Mut zu heben. Ich sah mich unsicher nach dem Vater um und wollte ihm schon die Hand zum Abschied reichen, als er bat, der Prinzipal möchte mich noch für zwei Stunden freigeben. Das kam dem so unerwartet wie mir. Ich erschrak freudig und fürchtete, er würde nein sagen. Er schien auch einiges Bedenken zu haben, denn er zog die Uhr und wiederholte langsam: »Zwei Stunden?«

»In zwei Stunden bring' ich ihn wieder,« sagte der Vater mit dem Ton eines Mannes, der nicht gewohnt ist, Widerspruch zu finden.

»Gewiß, gewiß, selbstverständlich,« stieß der Chef hastig heraus, schien aber doch ein solches Verlangen unerhört zu finden.

Der Wagen wurde nun weggeschickt, und wir gingen eine kurze Strecke zu Fuß. Ich war voller Erwartung, wohin? Man gab mir keine Erklärungen, und ich bewegte mich wie in einem Märchen. Der Onkel in seinem altmodischen, langen, blauen Rock, den grauen Zylinderhut auf dem weißen Kopf, machte den Führer. Er blieb bald vor einem Eckhause stehen, sah den Vater lächelnd an und lud uns mit einer Handbewegung ein, die wenigen Stufen, die in einen Austernkeller führten, hinabzusteigen. Es war Cöllns Keller, der sich schon damals eines vorzüglichen Rufes erfreute.

So saß ich denn schon eine Stunde nach meinem Einzug in Hamburg vor einem Schlemmerfrühstück.

»Willst du auch Austern?« fragte der Vater.

Bescheiden, wie ich es zu Hause gewohnt war, sagte ich: »Wenn ich bitten darf?«

»Natürlich darfst du.«

War das der Vater? War das ich? Beseligend kam es über mich: ›Du giltst jetzt auch etwas, bist gleichberechtigt, kein Kind mehr.‹ Tapfer sah ich mich um, setzte mich auf dem Stuhl in Positur und genoß das erhebende Bewußtsein, in Hamburg eine andere Rolle zu spielen als in Lübeck.

Und dann kam die köstliche Platte.

Wie geschickt der Kellner sie auf den Tisch schob.

Drei Dutzend Austern auf Eis, die gelben Zitronenscheiben daneben.

Der Vater legte mir zwei Schalen auf den Teller. Ich nahm erst verlegen einen Schluck Wein, denn ich wußte mit dem wunderlichen Gericht nichts anzufangen, und sah zu, wie die beiden Alten die schleimigen Seetiere mit wollüstigem Geräusch und geschlossenen Augen aus der Schale schlürften; dann führte auch ich zitternd die erste Auster zum Munde.

Brrrr! Schmeckte das! Nach Seewasser!

Tapfer kaute ich den ungewohnten Bissen, war aber nicht imstande, ihn herunter zu schlucken. Der Onkel lachte.

»Nun, will's nicht?« fragte der Vater.

Ich schämte mich, nein zu sagen, zwang's hinab und machte mich schaudernd an die zweite Auster.

»Quäl' dich nicht, Junge,« sagte der Onkel.

Ich lächelte süßsauer.

Da bestellte der Vater ein Beefsteak für mich, das schmeckte mir besser. Es stiegen aber Bedenken in mir auf, ob es mit den anderen Hamburger Herrlichkeiten etwa auch so beschaffen sein könnte, wie mit den Austern. Und ich schluckte den letzten Bissen Fleisch schon mit dem beklemmenden Bewußtsein, daß die Stunde meines Eintritts ins arbeitende Leben nun nahe sei.

Erstaunt war ich, als nicht der Onkel, sondern der Vater bezahlte. Meine Augen weiteten sich, als er das Goldstück auf den Tisch legte, und weiteten sich noch mehr, als er dem Kellner einen ganzen Taler als Trinkgeld zuschob. ›Donnerwetter!‹ dachte ich und fand es ganz in der Ordnung, daß der Kellner ihm seinen Pelz mit größter Dienstbeflissenheit umhing.

Der alte Onkel wurde um einen Grad weniger höflich behandelt. Ich darf nicht sagen, daß er auch in meiner Achtung sank, aber ich war doch enttäuscht: ich hatte ihn für sehr reich gehalten. Eigenes Fuhrwerk, Hof und Garten – ich war der festen Meinung gewesen, er würde hier den Wirt machen. Doch es schmeichelte mir wieder, daß es der Vater war, der so nobel auftrat. Der Kellner begleitete uns mit vielen Kratzfüßen bis an die Tür; ich erwiderte sie höflich, und der Pikkolo lachte über mich.

Draußen war es kalt, und obgleich der Rheinwein mir einen heißen Kopf gemacht hatte, fror mich. Trotzdem wünschte ich, die Buchhandlung läge am Ende der Stadt, aber nach zehn Schritten um die nächste Ecke ertönte wieder das schrille Läuten der Ladenglocke, und löste sich wieder in dem dämmrigen Hintergrund die Gestalt des Chefs von seinem Pult. Er rieb sich die Hände, ließ einen verständnisvollen Blick über unsere weingeröteten Gesichter gleiten und zeigte deutlich, daß er bei einer offenbar dringenden Arbeit gestört worden war.

»Na, denn adjö, mein Junge,« sagte der Vater, gab mir einen Kuß, was er sonst nie zu tun pflegte, und lächelte ganz glücklich, während mir keineswegs fröhlich zumute war. Der Onkel ermahnte mich noch mal, ihn und die Tante ja recht fleißig zu besuchen, und nach einem letzten Austausch von Komplimenten stand ich allein vor dem künftigen Herrn und Gebieter. Er sah mich mit schwarzen, stechenden Augen an, wie man eine Ware mustert. Seine Gesichtsfarbe war blaß und kränklich, in dem dichten Rahmen eines schwarzen Bartes fast weiß, und ich empfand etwas wie Furcht vor ihm.

Er rief wieder nach dem Hausknecht, und ein großer, junger Mensch von elefantenhaftem Bau nahm mich in Empfang.

»Wollen Sie bitte mit nach hinten kommen,« sagte er und grinste mich gutmütig an. Schwerfällig latschte er voraus.

Wir gelangten durch zwei, drei kleinere Räume in ein größeres Zimmer; in das Wohnzimmer, wie mich mein Führer belehrte. Es war geräumig genug, war aber Halbdunkel, da es nur ein Fenster hatte, das in den Hof hinaussah, und eine dumpfe, feuchte Luft herrschte darin. Dahinter lag das Schlafzimmer, das war fast dunkel, und die Luft in ihm war noch schlechter, war muffig und modrig. Undeutlich unterschied ich zwei Betten, einen Schrank, einen Waschtisch und Bücherregale, die zwei der Wände bis unter die Decke ausfüllten und mit Paketen und Büchern vollgestopft zu sein schienen. Ein einziges Fenster ging auf einen engen Hinterhof hinaus, der von hohen, verräucherten Mauern eingefaßt war. Schwer legte sich die dicke Luft mir auf die Brust.

Der Elefant erklärte mir, was zu erklären war und führte mich wieder in das Wohnzimmer, das ein Sofa, ein runder Tisch und zwei Stühle möblierten. Die Hauptwand war auch hier wieder von einem großen Bücherregal eingenommen, das aber einen schrankartigen Untersatz hatte; Hermann, so hieß der Hausknecht, öffnete ihn, und ich sah eine Butterdose und eine Zuckertüte, Kannen und Tassen und atmete eine sonderbare Luft von Fett und Kolonialwaren.

Nachdem ich mich in diesen unfreundlichen Räumen hastig eingerichtet hatte, begaben wir uns wieder zum Chef. Von ihm empfing ich denn weitere Instruktionen, wobei er indes freundlicher war als beim Empfang. Der Raum zwischen dem Laden und dem Wohnzimmer war mir zum Arbeiten angewiesen. Er war der hellste und behaglichste von allen, er hatte zwei Fenster, die nach dem Zwischenhofe hinausführten und zwischen denen mein Pult stand. Um mich herum aber waren lauter hohe Regale mit Büchern verschiedenster Größe angefüllt, die alle denselben abgenutzten, braunen Lederrücken mit einem kleinen grünen Schild darauf zeigten: die Leihbibliothek.

Der Geruch der alten, zermürbten Lederrücken gab diesem Raum seine besondere Atmosphäre. Alle diese Bücher waren abgegriffen, beschmutzt, in unzähligen Häusern mit dem widerlichen Duft von Tabak, Eau de Cologne und Schlafzimmerdünsten und Gott weiß welchen Odeurs seit Jahren getränkt.

»Die Bedienung der Leihbibliothek ist hauptsächlich Ihre Pflicht!« sagte der Chef, zeigte mir den Platz, wo der Katalog stand und meinte: »Sie werden sich schon zurecht finden.«

Währenddessen kam ein schmächtiger, netter, junger Mann herein, den er mir als den Gehilfen, Herrn Schünemann, vorstellte. Dieser gab mir freundlich die Hand, und ich sah auf den ersten Blick, daß wir gut miteinander auskommen würden. Herr Schünemann übernahm es dann weiter, mich in die Geschäfte einzuführen, und ehe eine halbe Stunde vergangen war, saß ich an meinem Pult und ordnete Fakturen nach dem Abc.

Das war nun keine schwere Aufgabe, sie war aber keineswegs sehr unterhaltend; doch war sie mir für den Anfang sehr lieb, denn sie ließ mir Zeit, mich mit meinen Gedanken abzufinden. Mechanisch ordnete ich: Abel, Ackermann, Bartolomäus, Benzheimer und so weiter.

»Wenn Sie fertig sind, wollen Sie bitte diese Zettel auch ordnen,« sagte der Chef und legte mir ein Päckchen kleiner und kleinster Zettelchen aufs Pult. Und wieder saß ich und fingerte zwischen den winzigen Papierchen herum: A B C D E F ...

Von meinem Pult aus konnte ich über den Hof hinüber einem Schuster in die Werkstatt sehen. Der Alte saß da mit einem Gesellen und einem Lehrling von morgens bis abends fleißig über dem Leder. Das wollte mir unterhaltsamer erscheinen als mein Abc. Aber der Tag ging hin, und ich konnte mich nicht über zu große Anstrengung beklagen. Ein paarmal war ein Leihbibliotheksbuch gefordert worden, und ich hatte von meinem Bock herunter auf die Leiter müssen. ›Was wird der nächste Tag bringen?‹ Mit diesem Gedanken legte ich mich des Abends müde ins Bett.

*

Der zweite Tag verlief wie der erste, der der Anfang von einer langen Flucht von grauen Tagen war, von denen einer dem anderen glich.

Alpha, Betha, Gamma, Delta.

Hatte ich darum griechisch gelernt?

Bücher abstauben, Pakete packen, Ballen mit der Packnadel nähen, Fakturen ordnen, Leihbibliotheksbücher nach der Nummer heraussuchen und wieder einordnen, Davidis' Kochbuch verkaufen oder Elise Polkos Dichtergrüße oder, wenn das nicht vorhanden war, sonst ein Buch »zu drei Mark, aber mit Goldschnitt« – jeder Hausknecht konnte diese Arbeit ebensogut verrichten wie ich, der nebenbei auch den Ofen heizen und mit der Scheuerbürste die Regale reinigen mußte.

Nach einem Vierteljahr war ich ganz verzagt. Würde das denn gar nicht anders werden? Der Vater hatte mich dem Prinzipal auf fünf Jahre verpflichtet. Fünf lange Jahre, während welcher ich lernen sollte, wo nichts zu lernen war, und zum Entgelt nur Kost und Logis bekam, während ich den Hausknecht jeden Sonnabend um seinen baren Wochenlohn beneidete.

Ein Brief von Freund Fritz aus Lübeck war nicht geeignet, mich meiner Niedergeschlagenheit zu entreißen.

»Wie beneide ich Dich,« schrieb er, »um Deine jetzige Existenz. Ich bin zwar auch nicht zu bedauern und bin mit meiner Lage wohl zufrieden. Freilich nimmt mich das Geschäft tagsüber stramm her, aber ich gewinne dabei Einblicke in ein großes Getriebe; der Chef läßt mich überall dabei und läßt mich lernen, was zu lernen ist. Ich habe dem Kaufmannsstand doch unrecht getan und bin meinem Vater nicht mehr gram, daß er mich, etwas gewaltsam freilich, dazu bestimmte. Mein Horizont erweitert sich, ich sehe das Tor zur großen Welt aufgetan und hoffe, in zwei Jahren, wenn ich ausgelernt habe, es zu durchschreiten; wohin dann, weiß ich noch nicht, wahrscheinlich aber wohl nach Schweden.

»Du mußt nun aber nicht glauben, daß ich unseren Idealen untreu geworden bin. Im Gegenteil, habe ich den Tag über auf dem Kontorbocke zugebracht, freue ich mich um so mehr auf die stille Abendlampe und die geliebten Bücher. Ich lese jetzt Schopenhauer, und ein Schleier nach dem anderen fällt von meinen geistigen Augen. Wie beneide ich Dich um die vielen Bücher, unter denen Du lebst und webst, und woran Du Dich nach Herzenslust bilden kannst. Hast Du Schopenhauer gelesen? Womit beschäftigst Du Dich jetzt? Laß mich doch teilnehmen an Deiner Lektüre. Wie schön war es, als wir in gemeinsamem Gedankenaustausch unsere freien Stunden verlebten. Noch habe ich keinen Ersatz für Dich gefunden, werde ihn auch wohl nie finden; doch ist ein junger Mann an unserem Kontor, der gleichfalls für alles Schöne und Edele glüht und sich mir langsam zu nähern scheint.«

Mit welchen Gefühlen legte ich diesen Brief beiseite! Bitterkeit und Scham erfüllten mich. Fritz las Schopenhauer und glaubte mich gleichfalls in so hohen Welten heimisch, ja beneidete mich um die herrliche Bildungsmöglichkeit, die ich vor ihm voraushatte. Ach, wenn er wüßte, welches Hausknechtsdasein ich hier lebte! Er würde mich schon jetzt dem neuen Freunde opfern.

Ja, an Büchern fehlte es mir nicht! Bücher! Bücher! Bücher! Um mich, über mir, unter mir! Nichts als Bücher! Aber nur als Ware! Wann sollte ich vom Inhalt Kenntnis nehmen? Ich lernte nur Titel und Preise kennen!

War ich von morgens sieben bis abends zehn Uhr auf den Beinen gewesen, fielen mir die Augen fast von selbst zu. Nach und nach gewöhnte ich mich freilich und griff auch nach einem Buch. Aber ach, beschämt merkte ich, daß mein Geist für schwere Lektüre nicht mehr wach genug war und begnügte mich mit einem Roman von Spielhagen oder Auerbach und verzehrte dabei mein Abendbrot. Ich bekam Schwarzbrot und Butter von der Prinzipalin geliefert und konnte mir dazu Kaffee oder Tee kochen. Ich zog den Kaffee vor, der mich anregte und mich wach hielt, und trank viel schwarzen Kaffee und aß, da die Butter oft ranzig war, mein trockenes Schwarzbrot dazu. Doch ich war nicht verwöhnt und war am Ende des Tages jedesmal ehrlich hungrig.

Der Sonntag brachte mir ein bißchen Freiheit. In den Vormittagsstunden hatte ich, gleich dem Hausknecht, Journale auszutragen; nachmittags ging ich gewöhnlich zum Onkel nach der Uhlenhorst.

Ich fand immer freundliche Aufnahme hier. Doch es waren alte Leute, sie saßen nach dem Kaffee am großen Tisch und legten Grabuge; die Tante hustend und krächzend, der Onkel beständig mit seinem roten Taschentuch beschäftigt. Ich saß artig daneben und mischte ihnen die Karten. Geduldig harrte ich, bis die Stunde des Abendessens kam, das gegen meinen Schwarzbrotimbiß fürstlich zu nennen war und mich jedesmal mit der Langeweile der vorhergehenden Stunden wieder aussöhnte.

In der Woche kam ich kaum anders auf die Straße als auf dem kurzen Weg zum Mittagstisch, oder mit dem »Suchbuch«, wenn es galt, eiligst bei einer benachbarten Buchhandlung ein Buch zu suchen, das in unserem Laden gefordert wurde, aber nicht vorrätig war. Da wäre ich denn freilich oft gerne länger unterwegs geblieben, und es machte mir Vergnügen, im Strudel des Menschenstromes dahin zu treiben. Herrgott, wo kamen alle die Menschen her? Und jeder hatte ein anderes Gesicht und war wert, einen Augenblick angestaunt zu werden, ein Geschöpf für sich! Aber dazu war keine Zeit. Ein andermal wieder beängstigten, bedrückten mich die Menge Menschen. Ich versank rettungslos in dem gewaltigen Strom, der mich umbrandete, bekam mitten im dichten Hasten und Hetzen Heimweh nach den stillen Straßen meiner Vaterstadt und fühlte mich unglücklich an einem Platze, wo mir alles so fremd und kalt und fast drohend gegenüberstand.

*

Ein Jahr war vergangen. Ich verhockte und vermuffte in meinem Bücherkäfig. Immer das gleiche Einerlei von morgens bis abends. Ich hielt das nicht länger aus. Was sollte ich hier noch lernen? Was war das große Geheimnis dieses Geschäftsbetriebes, um dessentwillen ich fünf Jahre meines jungen Lebens daran geben mußte? Diese öde Kramerei, wie haßte ich sie!

Ein wütender Drang nach Freiheit erfaßte mich. Ich war nahe daran wegzulaufen. Da kam mir Hilfe von einer Seite, von der ich sie am wenigsten erwartet hätte.

Ich machte in einer Singhalle die Bekanntschaft einer kleinen blonden Sängerin. Eines Abends war ich, ich weiß nicht wie, in diese dicke, dumpfe Atmosphäre von Bier, Tabaksqualm, Stumpfsinn und Gemeinheit hineingeraten. Die kleine Sängerin saß ganz vorn auf dem Podium. Sie mochte achtzehn, neunzehn Jahre alt sein, ein Gemisch von Unschuld und Verdorbenheit. Mit quäkender Stimme sang sie Abend für Abend dasselbe Lied. Sie hatte es nicht schwer, in dieser Gesellschaft verlebter und verblühter Schönheiten die Hübscheste zu sein; in meinen Augen wenigstens war sie es. Und ich mochte sie mehr als nötig angestaunt haben, denn sie nickte mir freundlich zu. Ich wurde rot, und sie lachte, amüsierte sich über mich. Aber in der Pause kam sie zu mir, setzte sich an meinen Tisch und fragte, ob es mir recht sei. Mir dummen Jungen schmeichelte das; vor allem Publikum setzte sich die jüngste und hübscheste der Damen zu mir. So fing unsere Bekanntschaft an. Bald saßen Nelly und ich Abend für Abend zusammen; sie trank mein Bier, aß mein Butterbrot, rauchte meine Zigaretten. Sie war lustig, kindlich, harmlos, so schien es mir; ich war kein Menschenkenner. Ich gewann sie lieb und begann, mich für sie zu ruinieren; dazu gehörte nicht viel, denn ich bekam nur monatliche einen Taler Taschengeld von zu Hause.

Aber man kam mir auf die Spur. Der Chef erfuhr von meinen häufigen Variétébesuchen und hielt mir eine Moralpredigt. Er sprach in verächtlichen Worten von »dieser Sorte Mädchen«.

»Ich hätte Ihnen einen besseren Geschmack zugetraut,« sagte er. »Sie hat ja einen unreinen Teint.«

Das traf meine Eitelkeit. Ich schämte mich und war unglücklich.

»Diese Sorte Mädchen!« wie er das sagte; so wie man etwas Übelschmeckendes ausspuckt. Das empörte mich doch wieder. Kannte er sie denn? Sie war rein, unschuldig, nur die Not zwang sie zu diesem Gewerbe; ich wußte es aus ihrem eigenen Munde.

Ihr Teint war nicht ganz rein, das war wahr; aber woher wußte er es? Er kannte sie also auch? Vielleicht war es gar Eifersucht, was ihn aufbrachte. Ich hatte wirklich diesen albernen Gedanken und vertrotzte mich, der Nelly nun erst recht treu zu bleiben. Aber der Prinzipal mochte eingesehen haben, daß es mich weiter den Gefahren der nächtigen Großstadt aussetzen hieß, wenn er mich länger allein wohnen ließ, und ich mußte in sein Haus übersiedeln.

Als empfänden sie, daß sie sich bisher gar zu wenig um mich bekümmert hatten, suchten er und seine Frau mir eine gewisse Häuslichkeit zu schaffen, indem ich abends nach dem Tee, den ich mit ihnen zusammen einnahm, noch ein halbes Stündchen im Zimmer verweilen durfte. Ich las dann ein Buch, während der Prinzipal sich in die Zeitung vertiefte und die Frau sich mit einer Handarbeit beschäftigte. War die halbe Stunde aber abgelaufen, wurde ich ins Bett geschickt. Ich sah ein, daß die Eheleute ein Recht darauf hatten, ihren Abend unter sich zu verbringen.

Sie war noch eine junge, hübsche, blutfrische Frau von stattlichem Wuchs, deren ruhiges, gelassenes Wesen mir sehr gefiel. Sie war immer gleich freundlich zu mir, und ich durfte annehmen, daß der behagliche Friede, der die kurze Abendstunde so angenehm machte, in der Hauptsache von ihr ausging.

 

Aus: »Die Stadt mit den goldenen Türmen«, Die Geschichte meines Lebens. Zuerst erschienen: 1912

 

 


 << zurück weiter >>