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Portrait: Ludwig Frahm

Larissa Reissner

Geboren am 1. Mai 1895 in Lublin, gestorben am 9. Febraur 1926 in Moskau. Reissner ist eine sowjetische Schriftstellerin, die vorwiegend in deutscher Sprache schrieb. Sie war bürgerlicher Herkunft, studierte in Frankreich und Deutschland und gab 1914 mit ihrem Vater eine antimilitaristische Zeitschrift heraus, die erste revolutionäre Gedichte, Artikel und Satiren Larissa Reissners brachte.

Während der revolutionären Krise in Deutschland (1923) hielt sie sich in Hamburg und Berlin auf. Ergebnis dieser gesellschaftskritischen Studien war der Reportageband Hamburg auf den Barrikaden der auf fesselnde Weise Hintergründe,Verlauf und Ausgang des Hamburger Aufstandes schildert.

Weitere literarische Pläne (eine Romantrilogie über die historische Entwicklung des Proletariats im Ural; Studien über die Vorläufer des wissenschaftlichen Sozialismus) konnte die mit einunddreißig Jahren aus dem Leben gerissene Schriftstellerin und Sozialistin nicht mehr verwirklichen.

Hamburger Oktober 1923

Die Barrikade

In großen Städten vergeht ein Aufstand spurlos. Eine Revolution muß groß und sieghaft sein, wenn die Spuren der Zerstörungen, ihre heroischen Wunden, die weißen Trichter der Kugeln an den Mauern, die mit den Pockennarben des Maschinengewehrfeuers bedeckt sind, sich einige Jahre lang erhalten sollen.

Nach zwei, drei Tagen, nach zwei, drei Wochen verschwindet zusammen mit den von schmutzigen Regengüssen umspülten, mit einer Bajonettspitze von der Mauer abgerissenen Fetzen der Plakate – die kurze Erinnerung an den Straßenkampf, an das aufgewühlte Pflaster, an die Bäume, die, Brücken gleich, über die Flüsse der Straßen und die Bäche der Gassen hinübergeworfen waren. Hinter den Schuldigen schlagen die Gefängnistore zu; aus den Fabriken hinausgeworfen, sind die Teilnehmer an einem Aufstande gezwungen, in einer anderen Stadt, in einem entfernten Viertel Arbeit zu suchen; nach der Niederlage verkriechen sich die Arbeitslosen in fernen namenlosen Winkeln, die Frauen schweigen, die Kinder leugnen, in ewiger Furcht vor den allzufreundlichen Fragen eines Spitzels, und die Legende über die Tage des Aufstandes verweht, wird vergessen, übertönt von dem Lärm des wiederhergestellten Verkehrs, der wiederaufgenommenen Arbeit. Die neue Arbeiterschicht in den Fabriken tritt an die verlassenen Werkbänke, raunt sich eine Weile einige Namen und einige besonders geglückte Schüsse zu, aber auch das vergeht.

Der Arbeiter hat in den Grenzen eines bürgerlichen Staates keine Geschichte; die Liste seiner Helden führen das Standgericht und der Fabrikportier aus dem reformistischen Gewerkschafts-Verband. Nachdem sie mit Waffen gesiegt hat, sucht die Bourgeoisie das verhaßte Andenken an die kürzlich erlebte Gefahr mit Vergessenheit zu ersticken.

Seit dem Hamburger Aufstand ist bereits über ein Jahr vergangen. Aber seltsam genug – sein Andenken will nicht weichen, obwohl die Spuren der Barrikaden sorgsam beseitigt sind und die Züge friedlich über die Dämme und Viadukte laufen, die der Verteidigung oder dem Angriff dienten; Möwen ruhen auf ihnen.

Drei standrechtliche Fleischmaschinen stecken die Teilnehmer der Straßenkämpfe in aller Eile in die Gefängnisse; Ärzte und Gefängnisaufseher haben schon längst die durch die Mißhandlungen bis zur Unkenntlichkeit entstellten Leichname an die Verwandten abgeliefert. Aber die Erinnerung an den tollkühnen Oktober will trotzdem nicht dem Alltag weichen. Es gibt in der alten Hansestadt Hamburg keine Kneipe, keine Arbeiterversammlung, keine proletarische Familie, wo die Namen der Teilnehmer nicht mit Stolz genannt, wo nicht wenigstens von Beobachtern mit unwillkürlicher Achtung von den erstaunlichen Szenen in den Straßen der Vorstädte gesprochen wird.

Die Erklärung für diese Hartnäckigkeit, mit der das Proletariat der Wasserkante die lebendige Erinnerung an die Oktobertage wachhält, liegt darin, daß der Hamburger Aufstand weder in militärischer noch politischer noch moralischer Hinsicht besiegt war. Es ist in den Massen nicht die tiefe Bitterkeit einer Niederlage geblieben.

Der anhaltende revolutionäre Prozeß, der sie im Oktober auf die Barrikaden warf, nahm am 24. kein Ende, als die gesamte Polizei und ausgewählte Schwarzhundert-Garden der Marine-Division und der Reichswehr mobilisiert wurden, und auch nicht am 26., als kompakte Massen der Polizei, tausendköpfige Abteilungen der Kavallerie und Infanterie, eine Menge von Panzerwagen endlich in die revolutionären Vorstädte einbrachen, die schon einige Stunden vorher von den Arbeiter-Hundertschaften freiwillig verlassen wurden. Im Gegenteil, die Bewegung, die in den Oktobertagen zum Durchbruch kam, die sechzig Stunden über der Stadt herrschte, die den Gegner an allen Punkten schlug, wo er es wagte, zum Angriff gegen die geschickt angelegten Barrikaden überzugehen; eine Bewegung, die den Arbeitern nur zehn Tote und der Polizei und den Truppen Dutzende von Toten und Verwundeten kostete – diese Bewegung hat ihre Kämpfer in aller Ruhe und Ordnung zurückgezogen, ihre Waffen gerettet und verborgen, die Verwundeten in eine sichere Unterkunft geschafft, kurz, sie hat sich planmäßig zurückgezogen, sich in illegale Schlupfwinkel verkrochen, um sich bei dem ersten Ruf der gesamtdeutschen Revolution wieder zu erheben.

Der Anfang der revolutionären Bewegung beginnt nicht im Oktober, sondern im August des Vorjahres, als Hamburg zu einer Arena von hartnäckigen und erbitterten Kämpfen für den Arbeitslohn, für den achtstündigen Arbeitstag, für die Entlohnung in Goldwährung, für eine ganze Reihe nicht nur ökonomischer, sondern auch rein politischer Forderungen wurde: Arbeiterregierung, Produktionskontrolle und so weiter. Diese gewerkschaftlichen Kämpfe waren begleitet von Streikausbrüchen und stürmischen Eruptionen des anwachsenden revolutionären Hasses: von der Demolierung von Lebensmittelläden, von der Verprügelung der Polizisten und Streikbrecher. Die Hamburger Arbeiterinnen haben sich in diesen Monaten besonders ausgezeichnet; im allgemeinen sind die Frauen einer großen Hafenstadt weitaus selbständiger und politisch gereifter, als ihre Genossinnen in den meisten Industriezentren Deutschlands. Sie waren es, die im August des Vorjahres ihre Männer hinderten, die Arbeit in den streikenden Werften wiederaufzunehmen. Ihre lebendige Kette vermochten weder Polizeibajonette, noch kleinmütige Arbeiterhaufen, die bereit waren, jede Bedingung der Arbeitgeber anzunehmen, von dem Elbtunnel zu verdrängen und zu durchbrechen. Einer dieser Zusammenstöße endete mit der Entwaffnung und Verprügelung einer Polizeiabteilung, zumal ihres Leutnants, der sie leitete und dafür im schmutzigen, kalten Elbwasser ein Bad nehmen mußte.

Begonnen im August, konnte diese Bewegung nicht mit einem Zusammenbruch enden – wie es die Bourgeoisie ausposaunt hat – und auch nicht mit der «glänzenden» militärischen Demonstration der Reichswehrkräfte vom 23. bis 26. Oktober. Diese Bewegung konnte nur mit einem Sieg oder mit einer Niederlage der gesamten Arbeiterklasse Deutschlands enden. In dieser Kontinuierlichkeit, in diesem steten und anhaltenden Wachstum, das die Hamburger Genossen auszeichnet, liegt der grundlegende Unterschied des bewaffneten Aufstandes von dem sogenannten politischen «Putsch».

Der «Putsch» hat weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft; er ist entweder ein endgültiger Sieg oder eine ebensolche nicht wieder gutzumachende hoffnungslose Niederlage. Wenn eine Revolution stark ist und von einer starken, kampffähigen Partei geleitet wird, dann kann sie sich zurückziehen, ihre Federn wieder spannen, sich auch nach dem verzweifeltsten Durchbruchsversuch wieder zusammenrollen. Wenn das Proletariat schwach, politisch nicht trainiert, nicht gestählt ist, dann lebt es in der Hoffnung auf einen kurzen Stoß, auf einen blutigen, scharfen Ausbruch, aber zu einer anhaltenden Spannung ist es nicht fähig. Mag dieser kurze Stoß die größte Anspannung, die ungeheuerlichsten Opfer kosten – die schlecht zusammengefügten lockeren Massen werden zu allem bereit sein, wenn eine starke Hoffnung auf einen vollen, endgültigen Sieg besteht. Wenn aber einem solchen Versuch, die Macht zu erobern, aus diesem oder jenem Grunde ein Mißerfolg folgt, dann zerfallen diese Massen, lösen sich aus jeder Organisation heraus, verstärken ihre Niederlage durch eine wütende Selbstkritik. Die regulären Stammtruppen der politisch gereiften Massen dagegen kehren nach einem Sturmangriff zu ihren alten Schützengräben zurück, sie sind fähig, die langweilige, langsame Belagerungsarbeit, die Minierarbeit des illegalen Kampfes und die alltäglichen kleinen Scharmützel wiederaufzunehmen. Der Hamburger Aufstand bietet – sowohl nach dem anhaltenden ihm vorangegangenen politischen Prozeß, als auch, und das ganz besonders, nach der glänzenden Arbeit, die in den Tagen und Wochen nach seiner Liquidation geleistet wurde – ein klassisches Beispiel für einen echten revolutionären Aufstand, der die interessanteste Strategie der Straßenkämpfe und eines einzigartigen, idealen Rückzugs ausgearbeitet und in den Massen das Gefühl einer zweifellosen Überlegenheit über den Feind, das Bewußtsein des moralischen Sieges zurückgelassen hat.

Die Ergebnisse dieser Arbeit sind nicht zu übersehen. Noch nie hat der Zerfall der alten Gewerkschaftsorganisationen ein so gewaltiges Ausmaß erreicht wie gerade nach den Oktobertagen. Vom 25. Oktober 1923 bis 1. Januar 1924 sind aus den Reihen der reformistischen Gewerkschaftsverbände mehr als 30 000 alte, langjährige Mitglieder ausgetreten.

Wir werden weiter unten die traurige Rolle näher beleuchten, die die Gewerkschaftsbürokratie und ihr rechter Flügel in den Oktobertagen gespielt haben. Als Leibgarde des Reformismus haben die Verbände «Vereinigung Republik» und «Vaterländische Verteidigung» offen die Funktionen der Polizei in den ruhigeren Stadtgebieten übernommen und es ihr auf diese Weise ermöglicht, ihre Kräfte auf die Unterdrückung von Hamm und Schiffbek zu konzentrieren. Davon wird weiter unten noch die Rede sein; wir wollen hier nur bemerken, daß alle diese kriegerischen Taten der rechten Führer der Sozialdemokratie dazu geführt haben, daß vor den Türen ihrer Registrationsbüros sich Haufen von zerrissenen Mitgliedsbüchern bildeten.

Bergeweise lagen sie neben der Schwelle, und Hunderte von Arbeitern, die riskierten, verhaftet oder von patrouillierender Reichswehr erschossen zu werden, stürzten zum Gewerkschaftshaus, um ihre Mitgliedsbücher den Bürokraten in das Verrätergesicht zu werfen. Eine Reihe der größten Gewerkschaften der Wasserkante wie der «Vereinigte Verband der Bauarbeiter» kracht nach dem Oktoberaufstand in allen Fugen. Ihre Mitglieder sind faktisch nicht daran zu hindern, demonstrativ in Massen aus dem Verband auszutreten.

Ich hatte Gelegenheit, an einer Versammlung eines der Zweige des Bauarbeiter-Verbandes teilzunehmen, der beschlossen hatte, in einer Stärke von achthundert Mann aus dem Verband auszutreten und seine eigene Vereinigung zu gründen. Unter den Anwesenden waren ältere, teils parteilose Arbeiter, Meister ihres Fachs, die keinerlei Not litten, die ihre Mitgliedsbeiträge seit Jahrzehnten regelmäßig zahlten.

In dieser Versammlung forderten alte Leute mit wuterstickter Stimme einen sofortigen und vollständigen Bruch mit den «Bonzen». Kein Kommunist hätte die alte Partei mehr hassen, ihren Zusammenbruch stärker empfinden können. Vergeblich versuchten Mitglieder der KPD, die Versammelten von der Absicht abzubringen, einen «eigenen Laden» aufzumachen, bestanden darauf, die Gewerkschaften von innen heraus, durch eine starke, ihren Einfluß ständig verbreiternde Opposition zu revolutionieren. Die Arbeiter verabscheuen die Gewerkschaft als etwas, das nicht einen einzigen Arbeitergroschen, der in ihre Kasse gezahlt wird, wert ist.

Die Kommunistische Partei und die hinter ihr stehenden Massen haben sich nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich unendlich gefestigt. Ihre Aktivität ist nicht geschwächt, trotz der zahlreichen Verhaftungen (übrigens wurden die meisten nicht während des Aufstandes, sondern nachher, auf Grund von freiwilligen Denunziationen seitens der Kleinbürger vorgenommen). Im Gegenteil: alle Mauern von Hamburg sind mit unauslöschlichen Aufschriften bedeckt. An jeder Straßenkreuzung, an jedem öffentlichen Gebäude liest man die Aufschrift: «Die Kommunistische Partei lebt. Sie kann nicht verboten werden!» Mag der Reichstag für das «Ermächtigungsgesetz» gestimmt haben; mag Seeckt die Fülle der Macht in seinen Händen haben, mag die weiße Diktatur die letzten Reste, die letzten kleinen Freiheiten der Arbeitergesetzgebung vernichten – dennoch sind alle Wände der Barakken, wo die Arbeiter registriert werden, von oben bis unten wie mit Tapeten frisch mit den kleinen kommunistischen Plakaten beklebt. Wie Schneeflocken wirbeln sie in alle Versammlungen der SPD, fallen von den Galerien, kleben an den Wänden der Kneipen, an den Scheiben der Straßen- und Untergrundbahnen. Die Frauen der entfernten Viertel, deren ganze männliche Bevölkerung «unterwegs», das heißt geflohen ist, oder in Gefängnissen sitzt, fordern die Zusendung von Plakaten und Flugblättern. Und wenn sie sich über etwas beklagen, so doch nur über das Fehlen einer billigen kommunistischen Zeitung. Alles das ist einer Niederlage so wenig ähnlich, daß die Richter der Kriegsgerichte, unter dem Druck der drohenden schweigsamen Massen, die Urteile zu mildern versuchen. Die Verurteilten gehen in die Festung oder in das Zuchthaus mit dem Stolz und der Ruhe von Siegern, mit der unerschütterlichen Gewißheit, daß die Revolution den Ablauf ihrer fünf, sieben oder zehn Strafjahre unbedingt unterbrechen wird; sie gehen mit einem herablassenden Spott für die Gesetze des bürgerlichen Staates, die feige Brutalität seiner Polizei und die Festigkeit seiner Gefängnismauern. Dieser Glaube kann nicht täuschen.

Aber warum hat das ganze Land den Hamburger Aufstand nicht unterstützt?

Ganz Deutschland war in den Oktobertagen in zwei einander gegenüberstehende Lager gespalten, die auf das Angriffssignal warteten. Doch Sachsen war schon mit der Polizei und der Reichswehr überfüllt. Somit hörte einer der wichtigsten Sammelplätze der Revolution auf zu existieren. Zahlreiche Gruppen von Arbeitslosen füllten noch die nächtlichen Straßen von Dresden, aber hinter ihnen, neben und vor ihnen stolzierten bewaffnete, herausfordernde und freche Reichswehrtruppen.

In diesem Augenblick wäre ein Signal zum Kampf, in Sachsen gegeben, sicherlich das Signal zum Massenterror gegen die sächsischen Arbeiter gewesen.

Zur selben Zeit forderte in Hamburg eine Konferenz von Arbeitern der ungeheuren Werften von Hamburg, Lübeck, Stettin, Bremen und Wilhelmshaven die sofortige Ausrufung des Generalstreiks; es gelang ihren Leitern nur mit großer Mühe, einen Aufschub des Generalstreiks auf einige Tage zu erzwingen; die Arbeiterkonferenz in Chemnitz lehnte infolge des rechtssozialistischen Einflusses den Generalstreik ab. Sachsen war schon erdrosselt, und das von den linken Sozialdemokraten im letzten Augenblick verratene Proletariat wich instinktiv einem Zusammenstoß aus, der für die Revolution ungünstig, vielleicht sogar verhängnisvoll sein konnte.

Berlin! Wer Berlin in den Oktobertagen gesehen hat, der erinnert sich gewiß an das merkwürdige Gefühl der Zwiespältigkeit, die den Grundzug seiner revolutionären Spannung bildete. Frauen und Arbeitslose prägten das Gesicht der Straßen. Aufgeweckte Jungen trieben sich vor den Schlangen an den Bäcker- und Fleischerläden herum, drängten sich durch die Gruppen verzweifelter Frauen und pfiffen die «Internationale». Der Sturz der Mark, die lächerlich geringen Unterstützungsgelder der Arbeitslosen, Kriegsinvaliden und Kriegerwitwen, die wucherische Ausbeutung der Arbeit, die unerschwinglichen Preise für alle Artikel des täglichen Bedarfs, der Ruin der Kleinbourgeoisie, das schamlose Verhalten der «großen Koalition», der Aderlaß an der Ruhr, die Repressalien der Franzosen, die Manipulation der deutschen Kapitalisten, die die Presse ans Tageslicht gebracht hat, und die ein blutiges, staubbedecktes Gespenst an der Ruhr heraufbeschworen – das alles waren sichere Anzeichen der nahenden Revolution. Die Wagen der Reichen mieden schon die Vorstädte, die Polizei war schon soweit, daß sie gegen die Plünderer der Brotläden nicht mehr allzu scharf vorging;

draußen, vor der Stadt dröhnte schon die Artillerie, die man den streikenden Betrieben näher brachte; der Lärm der Lastautos, voll beladen mit Polizei, mäßigte nicht den Zorn der Menge, die die Märkte und Schaukästen der Zeitungen belagerte, sondern hetzte sie noch mehr auf.

Und daneben – vollkommen passive Arbeitermassen, breite Schichten des verbürgerlichten Proletariats, die sich zurückhalten, sich an ihr Stück Brot, an ihr gemütliches Heim, an ein Pfund Margarine klammern – auch wenn sie für diese Margarine noch so viele Stunden arbeiten müssen.

Menschen, die bei sich zu Hause, bei einer Tasse schlechten Kaffees und mit dem «Vorwärts» in der Hand ein paar Tage in aller Ruhe abwarten wollen – bis die Schießerei in den Straßen aufhört, bis man die Toten und Verwundeten fortschafft, die Barrikaden weggeräumt hat, bis der Sieger, wer es auch sei, ein Bolschewik, ein Ludendorff oder ein Seeckt, die Besiegten in die Gefängnisse gesteckt und den Platz der gesetzmäßigen Regierung eingenommen hat.

In Berlin wie in Hamburg (Ausnahmen bilden nur einige ausschließlich von Arbeitern bewohnte Stadtviertel) hätte das revolutionäre Proletariat der Polizei und den Truppen des Generals Seeckt vollständig isoliert, ohne jede aktive Hilfe seitens der breiten Massen, ohne Hoffnung auf Unterstützung in den schwersten Augenblicken und vielleicht, ebenso wie in Hamburg, fast waffenlos entgegentreten müssen.

Nichtsdestoweniger führte der in Hamburg unter den gleichen oder fast den gleichen ungünstigen Umständen unternommene Aufstand nicht nur zu keiner Niederlage; seine Ergebnisse waren im Gegenteil geradezu verblüffend. Es ist wahr, hinter seinem Rücken stand das ganze Arbeiterdeutschland, das von der Gegenrevolution im offenen Kampfe nicht geschlagen war und daher den heroischen Rückzug seines Hamburger Schrittmachers materiell und moralisch decken konnte.

Auf jeden Fall besteht die Arbeit einer sieghaften Partei nicht allein im fieberhaften Auflauern der sogenannten zwölften Stunde der Bourgeoisie, des historischen Augenblicks, wenn der Zeiger der Zeit nach einem kurzen Augenblick des Schwankens die ersten Sekunden der kommunistischen Aera mechanisch auslöst.

Es gibt ein altes deutsches Märchen von einem tapferen Ritter, der sein ganzes Leben in einer verzauberten Höhle in der Erwartung zugebracht hat, daß der langsam anschwellende, am Tropfstein sich bildende Wassertropfen ihm endlich in den Mund fällt. Und immer hinderte ihn im letzten Augenblick irgendeine Bagatelle, irgendein dummer Zwischenfall daran, den so sehnsüchtig erwarteten Tropfen aufzufangen, der dann zwecklos in den Sand fiel. Das Furchtbarste ist natürlich nicht der Augenblick des Mißerfolges selbst, sondern die tote, leere Pause der enttäuschten Erwartung zwischen der einen Flut und der nächsten.

In Hamburg wartete man nicht mit offenem Munde auf das Himmelsnaß. Das, was man hierzulande so wundervoll und kurz Aktion zu nennen pflegt, ist in eine starke Kette fortwährender Kämpfe eingeschmiedet, mit den vorhergehenden Gliedern verbunden und auf die Zukunft gestützt, deren jeder Tag – ob des Erfolges oder der Niederlage – unter dem Zeichen des Sieges steht, das die Welt, wie die Faust eines Dampfhammers, zerbricht.

Und außerdem ereignete sich der Aufstand nicht in der Provinz Brandenburg, nicht in Preußen, nicht im Berlin des Parlaments, der Siegesallee und des Generals Seeckt, sondern an der Wasserkante.

 

Aus: »Hamburger Oktober 1923«. Zuerst erschienen: 1925

 

 


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