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Detlev Freiherr von Liliencron

Geboren am 3. Juni 1844 in Kiel als Sohn eines Zollverwalters und einer Generalstochter. Nach preußischem Militärdienst wurde er 1863 Offizier in Mainz. 1875 mußte er wegen Verschuldung aus dem Militärdienst ausscheiden und arbeitete ohne Erfolg in verschiedenen Berufen in Amerika (Sprachlehrer, Pianist, Stallmeister).

Nach seiner Rückkehr arbeitete er als Gesangslehrer in Hamburg.

1882 bekam er eine Anstellung als Landesvogt auf der nordfriesischen Insel Pellworm und mußte das Amt wegen Schulden aufgeben. Danach freier Schriftsteller in München (dort Kontakt mit Bierbaum), Berlin und Altona. Von 1889-1899 lebte er in Ottensen bei Hamburg (Kontakt mit Dehmel, Falke, Spiero).

Liliencron starb am 22. Juli 1909 in Alt-Rahlstedt, heute ein Stadtteil von Hamburg.

Der Blanke Hans

»De Blanke Hans« ward und wird noch heute die Nordsee von den deutschen Küstenbewohnern genannt. Mit der bösen Nordsee haben sie gerungen und ringen sie noch. Viele Sturmfluten haben Unendliches geraubt und vernichtet an Menschen und Tieren und Land. Die großen Fluten wurden und werden erst ganz außer sich, wenn der Ozean mehr Wasser als gewöhnlich nach Norden geschickt hat mit dem Südwestwind, und wenn dann, sobald diese Wasser »oben« sind, der Sturm plötzlich nach Nordost dreht. Dann drängt mit furchtbarer Gewalt die Strömung gegen die Deiche, von Holland bis nach Jütland. Erst im vorigen Jahrhundert sind die großen Winterdeiche (die See- und Außendeiche) mit außerordentlichen Kosten und Steuerlasten errichtet worden, »mathematisch« errichtet. Und seit dieser Zeit haben wir nicht mehr von solchen Überschwemmungen und Deichbrüchen gehört. wie sie sonst gang und gäbe waren in früheren Zeiten. Die letzte große Flut, die viele Menschenleben vernichtet und viel Schaden angestiftet hat, war achtzehnhundertfünfundzwanzig. Kurz vor dieser, einige Monate vorher, brach nur eine Deichstelle durch. Während alle dabei waren, sie auszubessern, kam die große Flut von achtzehnhundertfünfundzwanzig.

In der Nacht dieser »Vorflut«, wie man sie wohl nennen könnte, wenn man sie zu der großen Flut, die einige Monate später einsetzte und alles überschwemmte, rechnen will, in dieser Nacht war eine Gesellschaft bei dem Hofbesitzer Bendix Clausen. Seine Werft, nördlich von der Elbe, lag dicht hinterm Außendeich. Bendix Clausen hatte zu einer Kindstaufe geladen. Als der Sturm gegen Abend einsetzte und von Viertelstunde zu Viertelstunde wuchs, gingen die Eingeladenen nach Hause. Alle suchten so rasch wie möglich zu ihren Familien zu kommen. Aber kaum waren sie unterwegs, als der Deich gerade vor Bendix Clausens Werft brach. Alle, die jetzt noch miteinander unterwegs waren, flüchteten sich zum Hofbesitzer Harro Harrsen, dessen Haus just am nächsten lag.

Hier mußten alle, da das Wasser mit schneller Gewalt gekommen war, die ganze Nacht mit dem Besitzer und den Seinen auf dem Boden bleiben. Auch der Pastor, der mit der Gesellschaft geflüchtet war, befand sich unter ihnen.

In der vom Halbmond beschienenen Gegend konnten sie nur die wüsten Wogen sehen, die Harro Harrsens Werft umtobten. Endlich kam der Morgen, und die Geängstigten sahen, daß hie und da in der Nachbarschaft einige Häuser eingerissen waren. Als es immer heller wurde, ließ sich erst erkennen, wer und was sich alles auf dem Boden aufhielt. Es sah wild aus: Ein Durcheinander von Möbeln und Hausgerät, einige Ziegen und Schafe, ein Papagei in seinem Bauer, eine Wiege mit einem schreienden Kinde. Und alles durchdrängt von den Menschen.

Frerk Frerksen und die Tochter Harrsens, Merf Harrsen, standen bei Harro Harrsen an der Luke und schauten ihn ängstlich an. Harro Harrsen bog sich aus der Luke, mit der einen Hand die ihn Umdrängenden zurückhaltend, und rief hinunter, indem er ein Tau warf: »Fangt das Tau, Herr Landvogt!« Als er sieht, daß der Landvogt das Tau in der Hand hat, dreht er sich um und brüllt in den Raum: »Ist der große Feuerhaken hier oben?« Alle sehen sich um und suchen. Harro hält das Tauende fest, das hin und her schwankt, als wenn sich unten einer im stürmisch bewegten Boot festklammert. Harro schreit: »Den Haken her, den Haken her!« Und sich dann wieder aus der Luke beugend, ruft er nach draußen: »Haltet fest, Herr Landvogt!« Der Landvogt antwortet: »Schnell! Es geht nicht mehr. Meine Kräfte verlassen mich.« Harrsen wendet sich wieder zu den Menschen auf dem Boden: »Den Haken! Den Haken!« In diesem Augenblick wird er gefunden und an Harro gegeben, der wieder hinunterschreit: »Der Haken kommt, Herr Landvogt, paßt auf! Nun! Tau los!« Der Haken fliegt hinab. Es ist totenstill im Kreise geworden.

Harro biegt sich hinaus. Dann, sich aufrichtend, ruft er den Versammelten zu: »Gerettet! Das war die höchste Zeit.« Im linken Arm hält der Landvogt Cile (Cäcilie) Bollmann, eine junge Witwe, die wie eine Tote den Kopf hintenübersenkt. Mit letzter Anstrengung schlug der Landvogt den Haken – die Rechte packte ihn im Fallen – ins Fensterkreuz. »Wer ist bei ihm? Ich sah helfende Arme«. Einer antwortet: »Tadema Frerksen.« Merf Harrsen sagt: »Tadema? Tadema ist unten? Ich will zu ihm.« Sie drängt nach der Treppe. Aber einige verlegen ihr den Weg: »Bleib doch! Geh nicht! Was willst du unten? Du kannst doch nicht helfen.« Merf beruhigt sich: »Gut. gut! Ich bleibe ja.« Sie geht abseits und steht in Gedanken. Harro wendet sich in den Raum und fragt: »Wer? Tadema ist unten?« Ein Greis erwidert ihm: »Sahst du ihn nicht? Seit einer halben Stunde schon kam der Tollkühne in einer Tonne hier an und blieb unten. Wir schrien ihm doch alle zu.«

»Ach so. Der Sturm blies wohl die Erinnerung aus. Aber was will er hier? Frerksens Haus steht ja noch.«

»Frerk Frerksen ist unten jetzt bei seinem Sohn. Er ging hinab, als du den Haken warfst. Da kommt er.«

Auf der obersten Treppenstufe lärmt Frerk: »Bringt Betten her und Decken.«

Harro: »Das schwimmt ja noch alles unten. Bringt doch die Cile herauf.«

»Sie liegt in tiefer Ohnmacht. Der Landvogt will, daß sie deshalb eine kurze Zeit unten bleibt. Gebt nur Betten her. Die Flut spült schon von der Haustür zurück. Wir können bald die Boote unten aus den Fenstern lassen. In den Zimmern ist kein Wasser mehr.«

»Gut, dann gebt an Frerk Betten und Decken und Tücher.«

Alles wird Frerksen aufgepackt. Mit ihm gehn einige die Treppe hinunter.

Harro bleibt an der Luke stehen und schaut hinaus. Dann sagt er: »Die Flut sinkt zurück. Bei Tannwarft, seht, zeigt sich schon wieder die Krone des Deichs. Da muß der Durchbruch sein. Der große spanische Dreimaster brennt noch. Er sitzt quer durch Mumme Mummsens Haus.«

Harro wendet sich an den Pastor und bittet ihn um ein Gebet. Der Pastor faltet die Hände und sieht nach oben. Alle knien um ihn. Der Pastor betet: »Herr, wir glauben, hilf unserm Unglauben. Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster über der Tiefe; der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern, und die sei ein Unterschied zwischen den Wassern. Und deine Wasser, großer Gott, hast du wieder gesandt, und die Feste hast du genommen. Und vieles hast du uns genommen, unser Land, unser Vieh, unser Geschirr. Vielen nahmst du das Haus. Und vielen nahmst du den Ernährer, manchem sein Weib, seine Kinder, die von der Flut ertränkt sind und nun im weiten Ozean treiben. Du hast es gegeben, du hast es genommen. Dein Name sei gepriesen.«

Der Pastor hält etwas inne, dann spricht er weiter, wie in Verwunderung, leise, zag: »Herr, wenn wir nun auf unsere Werften kommen und finden unsere Häuser nicht mehr, unsere Weiber, unsere Kinder, beuge demütig unser Haupt und halte unsere Zunge, daß wir nicht in Versuchung kommen, dich, den Gerechten, zu lästern.«

Und noch einmal hält der Pastor eine Minute inne, dann spricht er mit glänzenden, freudigen Augen: »Und nun, Herr, gib neue Kraft zur Arbeit, zum Aufbauen. Gib uns deinen Segen. Dein Name sei gepriesen in Ewigkeit. Amen.«

In diesem Augenblick traf durch die Luke ein schräger Sonnenstrahl, als wenn er sich einen Weg durch die Wolken gesucht hätte. Er blieb nur einige Sekunden. Alle hatten ihn gemerkt; alle hat er getröstet.

Der Pastor rief wie ein Hellseher: »Die Sonne, die Sonne! Gottes Auge hat uns gesehen!« Und die Anwesenden schrieen: »Die Sonne, die Sonne! Gott will uns helfen!«

Nun gingen alle die Treppe hinunter. Nur Frerk Frerksen und Harro Harrsen blieben oben. Frerk, der an der Treppe steht, ruft: »Harro!« Harro, der noch an der Luke ist und hinaussieht, antwortet, sich zu Frerk wendend: »Frerk, du bist noch hier? Was willst du?« Frerk sieht finster vor sich hin und spricht: »Ich bin nicht dein Gast. Nur die Flut trieb mich in dein Haus, als ich gestern Abend mit den andern bei dir vorbeikam; ich konnte meine Werft nicht mehr erreichen.«

»Hab ich dir meine Schwelle verweigert, Frerk? Hab ich dich ins Wasser gestoßen?«

»Harro!«

»Was willst du noch, Frerk? Die Wege sind frei. Die Boote schaukeln schon an der Tür; was steigst du nicht ein?«

Frerk geht auf Harro zu: »Deine Hand will ich, Harro.« Er streckt ihm seine Hand entgegen, die Harro nicht nimmt. Frerk spricht wie zu sich: »Dein Weib ist längst begraben . . .« Harro schreit wütend: »Was erinnerst du mich!« Er geht auf Frerk zu, als wenn er ihn packen will.

Frerk: »Gib mir deine Hand, Harro.«

Harro: »Ich will nicht!« Ihn anschauend: »Und unsre Felder? Unser streitiger Grenzgraben, den du . . .«

Frerk leise: »Den hat Gott diese Nacht zerstört. Diese Stunde ist heilig, Harro. Gott hat es so gefügt. Gib mir deine Hand.«

Harro hält, wieder hinaussehend, seine rechte Hand wie abwehrend und doch gebend nach rückwärts: »Frerk!« Frerk ergreift sie und sagt voller Herzlichkeit: »Ich halte sie fest.«

Harro wendet sich zu ihm: »Die Flut hats abgewaschen, die Flut hat alles weggetragen. Wir wollen vergessen, Frerk.« Die beiden Männer stehn sich Auge in Auge gegenüber. Frerk sagt gerührt: »Vergessen . . . vergessen . . .« Harro antwortet hart: »Keine Tränen, der Friese weint nicht.« Aber Frerk antwortet: »Der Friese ist ein Mensch wie alle andern. Neunzehn Jahre sinds, daß wir wieder die ersten Worte miteinander wechseln. Hier wollen wirs gleich besprechen. Unten sind sie noch nicht fertig mit dem Einsteigen in die Boote. Laß Tadema und Merf ein Paar werden. Sie gehören zusammen. Der alte Streit wäre aus, wenn unsre Kinder . . .« Harro meint: »Merf liebt deinen Tadema, ich habs gemerkt.«

»Und Tadema deine Merf.«

»Halt! Das ist vorüber. Die junge Witwe, Cile, hats ihm angetan.«

»Daß sie nie wieder unsre Landschaft betreten hätte.«

»Daß die Flut sie diese Nacht mitgeschleppt hätte.«

»Aber früher doch, ich weiß es sicher, sahn sich Tadema und Merf heimlich; sie hatten sich gern.«

Auf der Treppe, heraufsteigend, erscheint Merf. Sie geht mit ringenden Händen an die Luke. Frerk und Harro haben sie sofort bemerkt. Merf spricht für sich durcheinander: »Tadema liebt sie; er hat mich verlassen. Wenn er sich über sie bog, ich sahs, ich sahs. Jedes Wimperhaar von ihm wurde für sie zum Mantel. Wie er den Landvogt anschaute, der ihr das Haupt rückte. Wie er die Stirn zog gegen alle, die Cile zurechtlegen wollten. Und mich hat er nicht einmal bemerkt. Kurz ist der Tod.« . . . Merf beugt sich aus der Luke. Frerk und Harro springen zu und halten sie zurück. Sie ringt, wie abwesend, mit ihnen: »Laßt mich, laßt mich . . .« Harro spricht auf sie ein: »Unsinnig Mädchen du. Das heißt Gott versuchen, der dich diese Nacht gerettet hat.«

In diesem Augenblick kommt Cile die Treppe herauf, vom Landvogt und von Tadema getragen. Cile ist ohnmächtig. Einige Nachdrängende haben Betten in den Armen und legen sie hin. Der Landvogt sagt: »Legt sie sanft nieder.« Tadema bittet: »Lassen Sie mich nur allein, Herr Landvogt.« Dann beugt er sich geschäftig über die bewußtlose Cile. Merf Harrsen, die von ihrem Vater und von Frerk an die Treppe geführt worden ist, reißt sich los und fliegt auf Tadema zu, ihn umklammernd. Tadema sieht sie verwundert an: »Du hier, Merf?« Sie antwortet leidenschaftlich: »Komm mit hinunter; ich bitt dich, komm.« Aber Tadema gibt ihr kalt Antwort: »Ich habe hier mit einer Ohnmächtigen zu tun; du bist gesund, Merf.« Da läßt sie ihn los und bittet ihren Vater, sich an seine Schulter lehnend: »Nimm mich mit, Vater. Ich bin hier überflüssig.« Der Landvogt spricht dem mit seiner Tochter verschwindenden Harro nach: »Ich schüttle Ihnen unten die Hand. Kopf hoch, Harrsen!« Dann wendet er sich zu Frerk Frerksen: »Das war eine Nacht, Frerksen!«

»Daß Sie hier sind, Herr Landvogt! Nun dürfen Sie uns nicht verlassen.«

»Ehe wir den Deich so fest haben, daß kein Durchbruch mehr möglich ist. Jahre wirds dauern.«

Cile erwacht. Sie redet im Fieber: »Der Balken stürzt . . . Mein Vater . . . sein Blut rieselt . . . . Die Welle frißt mich, sie hat Zähne . . . Mein Vater, mein Vater . . . .« Dann schläft sie wieder ein.

Der Landvogt sagt zu Frerksen: »Sie glauben nicht, wie furchtbar diese Nacht war. Bis gegen Morgen hielt sich das Haus. Ciles Vater, der alte Jansen, lag von einem Balken erschlagen. Es gelang mir, das Boot auszusetzen. Cile sank wie tot über ihren Vater. Ich konnte sie kaum aufheben. Als ich mit ihr vom Hause abstieß, brach alles zusammen; und die Trümmer schwammen mit uns. Ich hatte genug zu tun, daß unser Boot nicht zermalmt wurde. Neben uns, um uns Leichen von Menschen und Tieren; und tausend Sachen. Da taucht die Leiche des alten Jansen bei unserm Boot auf. Cile erwacht und sieht ihren Vater, der mit den Haaren in der Krone eines Birnbaums hängen geblieben ist. Sie ist wie wahnsinnig, will hinaus. Ich schlage ihr die Stirn, und sie fällt wie leblos neben mir im Boot hin. Ich sah Harrsens Haus, und es gelingt mir, hierher zu kommen.«

Der Landvogt fährt fort: »Ich war gestern bei der Strandauktion gewesen. Wer von uns konnte denken, daß der Sturm so plötzlich nach Nordwest drehn würde. Ich kam nur bis zu Jansens Haus, weiter ging es nicht. Ich habe nur getan, wozu mich Selbsterhaltung zwang. Daß ich Cile rettete, ist ja selbstverständlich.«

In einem gut eingerichteten Zimmer der Landvogtei saß die Frau des Landvogts Timm Jaspersen, Klothilde Jaspersen. Sie hatte die Ellbogen auf die Sessellehnen gestützt und die gespreizten Finger gegeneinander gestellt. Ihr gegenüber stand ihr Schwager Jeppe Jaspersen, Rittmeister im dänischen Kürassierregiment Baron Löwenörn, der für einige Wochen auf Urlaub eingetroffen war.

»Nimm es mir nicht für ungut, liebe Klothilde,« meinte der Rittmeister, »aber eure Landschaft ist fürchterlich. Wenn du und Timm nicht hier wäret, ich wüßte nicht, wie ich es aushalten sollte. Und ich bin doch erst seit gestern da. Du, Ärmste, und Timm, ihr seid nun schon über zehn Jahre auf diesem weltvergessenen Fleck.«

»Ja, über zehn lange Jahre, Jeppe.«

»Ist denn keine Möglichkeit, daß sich Timm anderswo verbessern kann?«

»Nun, nach endlosen Bitten und Überredungen hatte ich Timm so weit, daß er in Kopenhagen seine Versetzung beantragen wollte; da kam die Sturmflut, und nun will er nicht von hier weg, bis der Deich geordnet ist. Und damit können wieder Jahre hingehen.«

»Aber wie hältst du es denn aus in dieser Einsamkeit? Ihr lebt, verzeih mir die Frage, noch immer glücklich?«

»Sprechen wir von was anderm. Ich habe mich noch immer nicht erholen können von der schrecklichen Sturmflutnacht, wenn auch schon Monate vergangen sind.«

Sie erhob sich, und beide traten ans Fenster: »Hier stand ich die ganze Nacht, die Hand aufs Herz gepreßt. Timm war nicht anwesend. Ich verging in Angst um ihn. Du siehst die ganze Landschaft vor dir: Wenns auch nur ein Deichbruch gewesen ist, aber ich konnte doch während der Nacht einzelne Brände sehen, die durch die Ratlosigkeit der Bewohner entstanden sein mochten, weil sie bei dem überstürzten Flüchten in die oberen Räume nicht acht gegeben hatten auf Herd und Licht. Du siehst da das große Wrack auf dem kleinen Hügel. Da lag das Haus Mumme Mummsens. Es brannte. In dies brennende Haus sah ich ein großes Schiff mitten hineinjagen und festsitzen. Bald stand auch dies in Flammen. Es war ein spanischer Dreimaster, der durch den gebrochenen Deich hineingefahren ist. Ich sah, wie die Mannschaft auf dem Deck hin und her rannte. Am andern Mittag endlich kam Timm zurück. Wir grüßten uns; dann ging er, als wäre nichts geschehen, auf sein Büreau, um zu arbeiten.«

»Wo denn«, fragte der Rittmeister, »hat er die Nacht zugebracht?«

»Er war nachmittags zu einer Strandauktion gegangen, die dort angesetzt war, wo später der Deichbruch gewesen ist. Als er schon unterwegs nach Hause war, überfiel ihn die Flut, und er kam noch glücklich auf die Werft des alten Jansen. In der Nacht wurde dieser von einem abstürzenden Balken erschlagen. Timm rettete dann in einem Boot die Tochter des Erschlagenen, eine junge Witwe, Cäcilie Bollmann aus Berlin, die seit einem halben Jahr bei ihrem Vater lebte. Über sie wird dir Harrsen Antwort geben können.«

»Aber, liebe Klothilde, wer ist Harrsen? Es ist unmöglich, daß ich schon alle kenne in der Landschaft.«

Ein Diener trat ein und meldete, daß Herr Harrsen und seine Tochter Merf bäten, vorgelassen zu werden.

»Ich lasse bitten.«

»Quand on parle du loup«, lachte der Rittmeister. »Gut, er kann mir über die junge Witwe mitteilen. Es dämmert mir ein Abenteuer auf.«

Frau Klothilde hatte noch Zeit zu sagen: »Jeppe, nimm dich vor den Friesinnen in acht.« Da erschien schon Harro Harrsen mit seiner Tochter Merf.

Zuerst drehte sich das Gespräch um die Sturmflut, und Harrsen erzählte, daß sie nicht so schlimm gewesen sei.

Frau Jaspersen fragte, wie lange es wohl dauern würde, bis der Deich wieder in Ordnung sei.

Harrsen erwiderte: »Kein Absehen, gnädige Frau. Eine neue Sturmflut kann jeden Tag kommen. Wir sind erst sicher, wenn es keine Sommerdeiche mehr gibt; wenn die Deiche für alle Fälle schützen.«

»So werdens Jahre werden. Doch wir sind abgekommen von Ihren Wünschen, Herr Harrsen.«

»Es ist kurz gesagt: Meine Tochter Merf möchte in Kopenhagen oder in Hamburg in einer gebildeten Familie das Hauswesen lernen. Bis nun die Abmachungen getroffen sind, war es ihr sehnlichstes Verlangen, sich in der Landvogtei bei Ihnen, gnädige Frau, umsehn zu dürfen, damit sie nicht zu unvorbereitet in die Welt tritt.«

Klothilde ging mit Freuden auf Harrsens Plan ein. Harrsen fragte nach den Bedingungen.

»Ich habe nur die eine,« antwortete Frau Jaspersen: »Merf bleibt gleich hier. Ich schicke nach ihren Sachen.«

Sie erhob sich. Während sie sich mit Merf entfernte, bat sie Harrsen, ihrem Schwager die Geschichte der jungen Witwe zu erzählen.

Harro wandte sich an den Rittmeister und berichtete ihm: »Die Geschichte der jungen Witwe Cäcilie – bei uns Cile genannt – ist bald gegeben: Ihr Vater lebte in unsrer Landschaft von einem kleinen Ruhegehalt. Seine Tochter Cile verheiratete sich nach Berlin, wo sie schon nach einem halben Jahre Witwe wurde. Sie zog dann zu ihrem Vater hierher, um ihm die Wirtschaft zu führen. Sie hat es aber nicht verstanden, sich bei uns und mit uns einzuleben. Die Weiber sind eifersüchtig auf sie.«

»Da bin ich gespannt, sie zu sehen. Wie ist ihr Ruf sonst?«

»Ohne jeden Tadel.« Harrsen empfahl sich. Der Rittmeister ging ans Fenster und sah seinen Bruder. Er dachte über ihn in diesem Augenblick: Immer ernst, immer ruhig; so kenn ich ihn, so lang ich denken kann. Als Knabe zog er sich in sich zurück; und als Mann ist er so geblieben. Seine einzige Freude, seine einzige Erholung ist die Arbeit. Und seine einzigen Gedanken sind, wie er seinen Mitmenschen behilflich, ihnen nützlich sein kann.

Der Landvogt trat ein: »Da bin ich wieder.«

Der Rittmeister antwortete ihm lachend: »Und du erlaubst, daß ich mich gleich entferne. Offen gestanden, ich möchte eure geheimnisvolle junge Witwe Cile Bollmann, die du aus den Fluten rettetest, kennen lernen.«

Der Landvogt sah seinen Bruder ein wenig verdutzt an.

»Ja, aber was machst du denn für ein Gesicht, Timm? Da hab ich wieder meinen moralischen Bruder. Du solltest dich freuen, daß mir das Herz nach Abenteuern schlägt; ich wär hier sonst verloren. Keine Unruhe, Timm; fürchte nicht, daß ich Klothilden und dir Unannehmlichkeiten machen werde. Addio!«

Der Landvogt blieb allein. Er stand am Tisch und stützte seine Hand auf ihn. Seine Gedanken gingen ihren unruhigen Weg: Ich kanns nicht länger tragen. Und doch heißt es weiterleben. Daß ich mir Cile nicht aus dem Kopf bringen kann. Was sagt mein lieber Kaiser Marc Aurel? Behalte die Gegenwart in deiner Gewalt!

Frau Cäcilie Bollmann wurde gemeldet.

»Ich bin zu sprechen.«

Behalte die Gegenwart in deiner Gewalt!

Cäcilie Bollmann, in tiefer Trauerkleidung, trat ein.

»Guten Tag, Frau Bollmann; womit kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich komme, um Ihnen noch einmal herzlich zu danken und (das sagte sie leiser) um Lebwohl zu sagen.«

»Lebwohl zu sagen? Sie wollen die Landschaft verlassen?«

»Ich stehe jetzt ganz vereinsamt hier. Verwandte meines verstorbenen Mannes in Berlin haben mir angeboten, zu ihnen zu ziehen.«

»Und wann wollen Sie reisen, Cile?«

»Morgen.«

»Morgen schon? Wenn ich Ihnen raten darf: Warten Sie noch, bis Ihre hiesigen Angelegenheiten geordnet sind. Ich bin als Ihr Sachwalter bestellt, und da wäre doch noch manches zu besprechen.«

»Aber ich möchte weg. Es fällt mir schwer, zu bleiben.«

»Es fällt Ihnen schwer, zu bleiben? Sie haben jetzt eine hübsche Wohnung. Manches von Ihren Sachen ist aufgefischt und steht wieder in Ihren Zimmern.«

»Und wie lange hätte ich noch zu bleiben?«

»Das läßt sich nicht auf den Tag bestimmen. Einige Wochen wirds immerhin dauern.«

»Dann werde ich so lange warten.«

»Nehmen Sie meine Hand als Dank.«

»Als Dank?«

»Ja . . . sonst . . . es würde mir Weitläufigkeiten verursacht haben.«

Der Landvogt ging mit ihr ans Fenster: »Sehen Sie, wie die Landschaft von hier aus liegt. Dort stand Ihr Haus.«

Cile weint. »Oh, bitte . . . die Erinnerung . . . Vergeben Sie mir, daß ich weine.« Sie nimmt eine Hand des Landvogts, beugt sich darüber und küßt sie.

Da trat der Rittmeister ein. »Ich störe in dienstlichen Angelegenheiten, bitte um Entschuldigung.«

»Nein, nicht im geringsten, lieber Jeppe.« Der Landvogt verneigt sich vor Cile, die hinausgeht. Der Rittmeister macht ihr eine tiefe Verbeugung.

»Alle Wetter, Timm, wer war die Dame?«

»Das war Frau Bollmann.«

»Die junge Witwe? Ei tausend, da will ich hinterher. Du, Bruder, hast kein Herz für so was. Lebwohl.«

Der Landvogt bleibt allein und sagt leise vor sich hin: Kein Herz dafür. Wenn er mein Herz gesehen hätte, wie es mir bis in die Halsadern schlug. Es traf sich gut, daß Jeppe eintrat. Bei Gott, es hätte nicht viel gefehlt. Und wie schwach ich gewesen bin, statt sie in ihrem Entschluß zu bestärken, schon morgen abzureisen . . .

Draußen wurden heftig gegeneinanderredende Stimmen laut. Der Landvogt sah gespannt nach der Tür, die plötzlich aufspringt: Frerk Frerksen zerrt seinen sich sträubenden Sohn Tadema ins Zimmer. Mit einem wütenden Ruck schleudert er seinen Sohn von sich. Tadema bleibt mit nach unten gerichteten Augen stumm stehen. Frerksen lärmt, ohne den Landvogt um Entschuldigung zu bitten: »Vor die Obrigkeit sollst du, du nichtsnutziger Junge du!«

Der Landvogt wendet sich den beiden zu: »Aber Frerksen, welche Aufregung; was ist vorgefallen? Vor allen Dingen bitt ich um Ruhe.«

Frerksen spricht leidenschaftlich zum Landvogt: »Zu nichts ist er tauglich seit der Sturmflut. Er arbeitet nicht, schaut in die Wolken. Heut wars zu arg. Ich verwies ihm ernstlich seine ewige Kopfhängerei. Da ging er gegen mich an. Fast wärs zu Tätlichkeiten ausgeartet zwischen Vater und Sohn. Der Cile läuft er nach.«

»Vater!«

»Liegt nachts vor ihrem Fenster.«

»Vater, ich bitt dich!«

Der Landvogt mengte sich jetzt ein: »Das sind Sachen zwischen Vater und Sohn, in die sich die Obrigkeit nicht einmischen kann.«

»Versuchen Sie es, Herr Landvogt! Ich bitte Sie. Hat einer noch Gewalt über ihn, sind Sie es. Um Verzeihung, daß ich so eingetreten bin. Ich gehe. Sie werden meinem Sohn den rechten Weg weisen.«

Und damit ging Frerk Frerksen und ließ die beiden allein.

»Tadema!«

Aber Tadema bleibt in seiner trotzigen Haltung, auf den Boden stierend.

»Tadema!«

»Herr Landvogt?«

»Willst du nicht näher treten. Ich will dich nicht schelten. Sieh, dein junges Herz ist getroffen; schwer. Es blutet. Du liebst zum erstenmal. Du liebst Cile. Ist es nicht so?«

»Ja, Herr Landvogt.«

»Nun, Tadema, hat Cile dich gern?«

Tadema kämpft mit seinen Tränen. »Ich bin ihr gleichgültig.«

»Und nun kämpfst du den ersten harten Kampf. Es dünkt dich unerträglich. Aber du wirst nicht davon sterben. Allmählich kommst du wieder zu dir. Ein Mittel nenn ich dir: Arbeite! Es ist dazu wahrlich jetzt Gelegenheit bei uns. Hilf deinem braven Vater. Zwing dich, an die Scholle zu denken, an den Spaten, wenn du ihn in die Scholle stößt.«

Tadema schluchzt. Der Landvogt legt seinen Arm um ihn. »Und nun höre, mein junger Freund: In einigen Wochen verläßt uns Cile. Dann wirst du frei sein.«

Und für sich sagte der Landvogt: Dann sind wir beide frei.

Der Garten der Vogtei lag hinter einem Innendeich. Das Landhaus stand von Rieseneschen umsäumt. Auf einem Grasplatz war eine Sonnenuhr, die die Jahreszahl 1711 trug. Auf dem Zeiger stand: Una ex hisce morieris. (In einer dieser Stunden wirst du sterben.) Auf den Deich hinauf führte ein schräger Fußweg. Es war ein heißer Junitag. An einem Gartentisch saßen im Schatten Frau Jaspersen und Merf Harrsen, mit Stickereien in den Händen. Frau Klothilde sagte zu Merf: »Nur zwei- dreimal im Jahre haben wir hier einen schönen, stillen Tag wie heute. Diese paar Tage sind dann immer wie eine kleine Versöhnung für mich.«

»Ich kann es Ihnen nachfühlen, gnädige Frau. Wir, die wir hier geboren sind und die übrige Welt nicht kennen, fühlen uns wohl.«

»Wissen Sie, liebes Kind, daß es heut gerade drei Monate sind seit der schrecklichen Nacht.«

»Sie sollen nicht mehr an die Sturmflut denken, gnädige Frau.«

»Und wenn ich tausend Jahre alt würde . . . Es ist mir übrigens völlig unerklärlich, wie schnell sich alles erholt hat.«

Hinterm Deich erklang eines Mannes Stimme:

Du brichst ein dürres Ästlein,
Das ist so knospenleer,
Und reichst mir dann die Hände –
Wir sahn uns nimmermehr.

Klothilde und Merf horchten.

»Wer mag der Sänger sein?«

»Der Herr Rittmeister?«

»Aber ich bitte.«

In demselben Augenblick erschien der Rittmeister auf dem Deich und ging in den Garten zu den Damen.

Klothilde rief: »Wahrhaftig, du bist es!«

Der Rittmeister begrüßte die Damen und sprach lustig: »Ach, wenn ich das gewußt hätte.«

»Das ahnte ich allerdings nicht von dir, daß du eine so hübsche Stimme hast.«

»Und daß ich außerdem der Dichter des Liedes bin«, lachte der Rittmeister.

»Wie? Dann mußt du es gleich hersagen, als Strafe für deine Überraschung. Und wie heißt die Überschrift?«

»Ja. wie solls denn heißen; daran hab ich noch nicht gedacht. Halt, so solls heißen: »Verbotene Liebe«.

Die Nacht ist rauh und einsam,
Die Bäume stehn entlaubt.
Es ruht an meiner Schulter
Dein kummerschweres Haupt.

Von den Deichen ebben die Wasser,
In die Ferne zieht der Feind,
Gleichgültig glänzen die Sterne,
Dein schönes Auge weint.

Du brichst ein dürres Ästlein,
Das ist so knospenleer,
Und reichst mir dann die Hände –
Wir sahn uns nimmermehr.

»Aber wie kommst du zu dem Gedicht? Ich bin erstaunt.«

»Soso, lala, ich erdachts mir vorhin auf den Muscheln am Strande. Doch tu mir den einzigen Gefallen und halte mich nicht für einen Dichter. Der bin ich nicht. Aber ich habe großen Hunger. Das macht eure Seeluft.«

»Willst du hier frühstücken bei uns, dann wird Fräulein Harrsen alles herbringen.«

»Bitte, keine Umstände. Ich geh ins Haus und esse drinnen.«

»Gut, ich habe alles für dich zurechtgestellt. Du weißt ja, wo der Rüdesheimer steht.«

»Tausend Dank! Übrigens, ich bin bald wieder hier; dann müssen die Damen einen Spaziergang mit mir machen. Es ist zu schön. Aus jedem Kieselstein blitzen viele Sonnen. Wir haben bald Hochflut. Die Welle ist so liebenswürdig, heut ein Kindergeplauder zu plätschern. Also keine Teufelei dahinter.« Dann ging der Rittmeister ins Haus. In der Tür wandte er sich noch einmal und rief den Damen zu: »Die Sonnenschirme bring ich mit.«

Frau Jaspersen sagte ernst zu Merf: »Ich weiß nicht, das Gedicht hat mir das Herz beklemmt.«

»Oh, gnädige Frau, Sie sollen nicht traurig sein. Alles, alles wird noch gut werden.«

»Sie liebes Kind Sie, mit Ihrem wunden Herzen, und trösten mich noch. Hören Sie, Merf, wir wollen beim Spaziergang nachher mal bei dem Hause von Frau Bollmann vorbeigehn. Ich kenne ihre neue Wohnung noch nicht. Meinem Schwager brauchen wir unsre Absicht nicht zu verraten. Der schwärmt für sie und ist verliebt in sie; aber er nimmts auf die leichte Schulter. Was ist es eigentlich mit dieser Person? Ich höre, daß sie nach Berlin zu Verwandten ziehen will. Was hat denn mein Mann immer in ihrem Hause zu tun?«

»Er ist ihr Sachwalter und hat deshalb manches mit ihr zu besprechen.«

Jeppe erscheint wieder. Alle gehen nun den Deich hinauf, um ihren Spaziergang anzutreten.

Wie auf der Bühne im Theater wars: Kaum sind die drei verschwunden, als die junge Witwe den Garten betritt. Sie hat sie weggehn sehen und weiß, daß sie allein im Garten ist. Sie setzt sich in einen Stuhl und blättert im Buch von Frau Jaspersen, schlägt es gleich darauf wieder zu. Dann scharrt sie mit ihrem Sonnenschirm im Sande vor sich. Sie sitzt ganz in Gedanken und hat es nicht bemerkt, daß der Landvogt eben aus der Tür getreten ist. Sie erschrickt. Der Landvogt bittet sie, mit ihm auf sein Arbeitszimmer zu kommen, wo sie alles besprechen könnten. Sie gehen dorthin.

»Was verschafft mir die Freude? Ich ahne, daß Sie mich fragen wollen wegen des Verkaufs Ihres Hauses. Nun, die Verhandlung ist angesetzt.«

»Ich wollte allerdings . . .«

»Und so steht es bei Ihnen fest, daß Sie uns für immer verlassen wollen?«

»Ja«

»Aber dann, wenn ich Sie nicht mehr sehe? Es muß sein, Cile? Kein Ausweg mehr? Machen Sie mir den Abschied nicht zu schwer. Nein, nein, noch kein Abschied.«

Die junge Witwe weint.

»Fassen Sie sich . . . Wann reisen Sie?«

»Morgen bestimmt.«

»Und alles um uns her steht mitten im schönsten Sommertag.« Der Landvogt nimmt ihre Hände und sagt leise: »Ich liebe dich«.

Durchs offene Fenster klang des Rittmeisters Stimme:

Du brichst ein dürres Ästlein,
Das ist so blütenleer,
Und reichst mir dann die Hände –
Wir sahn uns nimmermehr.

Beide haben den Vers gehört. Sie halten sich umschlungen. Dann rafft sich der Landvogt zusammen: »Ich werde alles in Ordnung bringen, daß Sie morgen reisen können.«

»Ich danke, danke Ihnen.«

Sie geht weg. Der Landvogt zittert am ganzen Körper.

Im Garten trifft der Rittmeister Tadema Frerksen und fragt ihn: »He, wohin?«

»Ich wollte zum Herrn Landvogt. Ich will mir einen Auslandspaß auf dem Büreau geben lassen und dem Herrn Landvogt Lebwohl sagen.«

»Ich weiß nicht, ob er zu sprechen ist. Wohin wollen Sie denn reisen?«

»In Hamburg will ich Matrose werden.«

»Recht so! Immer hinaus in die Welt. Bitte, sagen Sie mir: Ihr habt wohl selten so heiße Tage wie heute?«

»Ja, solche heiße Tage haben wir selten. Bald wird ein Gewitter heraufziehn. Vielleicht ist es schon da in einer Stunde. Das wäre nicht gut: diese Nacht haben wir Springflut. In kurzem setzt der Westwind ein. Der Tütvogel ist unruhig. Das kenn ich. Bringt das Gewitter Sturm und schlechtes Wetter und dreht der Sturm dann nach Nordwest, fürcht ich für unsre Landschaft; die Durchbruchsstelle von der letzten Sturmflut ist noch nicht dicht.«

»Zum Kuckuck, ich habe keine Lust, hier eine Überschwemmung mitzumachen.«

Es donnert schwach, dumpf vergrollend.

Beide horchen. Tadema sagt: »Da ist es schon.«

»Kommen Sie nur mit mir hinein zu meinem Bruder.«

Es donnert wieder.

Frau Klothilde steht allein in ihrem Zimmer der Landvogtei, das im Dämmerlicht des Gewitterhimmels liegt. Der Diener tritt ein.

»Sind im ganzen Haus Türen und Fenster geschlossen, Johann?«

»Es ist alles besorgt, gnädige Frau.«

»Aber wie ist es denn möglich, daß das Gewitter so rasch aufkommen konnte? Vor zwei Stunden saß ich noch im Garten. Haben wir Südwestwind?«

»Westsüdwest; und es scheint, als wenn er nach Süden drehen will.«

»Bitten Sie den Herrn Landvogt, ich möchte ihn hier sprechen.«

»Der Herr Landvogt ist ausgegangen.«

»Ausgegangen?«

»Nur auf den Deich, wie ich hörte, um nach dem Wetter zu sehn.«

»Dann bitten Sie den Herrn Rittmeister und Fräulein Harrsen.«

Es blitzt und donnert schwach.

Klothilde geht unruhig hin und her.

»Ich weiß nicht, welche Angst mich überfällt. Es wird dunkler und dunkler. Allmächtiger, nur nicht Nordost jetzt, dann sind wir verloren. Welche Wassermassen uns schon die Flut gebracht hat. Das Wasser will nicht zurück. Springflut. Wenn doch Timm käme.«

Der Rittmeister tritt ein. »Da bin ich, liebe Klothilde. Der Wind will mir oben mein Turmzimmer abreißen.«

Klothilde zeigt mit dem Finger hinaus. »Du siehst die Mühle dort?«

»Ja. Die Flügel laufen wie rasend hintereinander. Wie Kinder, die sich haschen.«

»Südwestwind!«

»Ihr mit euern ewigen Wettergesprächen. Weckt mich morgens Johann, so brüllt er mir Westsüdwest in die Ohren, oder wie immer die Richtung ist.«

»Drehn sich heute die Flügel nach Nordwest, seh ich unsern Untergang voraus.«

»Also sind die Windmühlflügel unsere Schicksalskünder.«

»Wo Timm bleibt. Ich bitte dich, Jeppe, sieh nach ihm. Er steht hinterm Garten auf dem Deich. Sag ihm, daß ich mich schwer ängstige; und bring ihn mit.«

»Ich gehe ihn holen.«

Merf Harrsen tritt ein.

»Sie haben verweinte Augen, liebe Merf.«

»Ich bin betrübt und froh zugleich. Johann sagte mir eben, daß Tadema eben auf dem Büreau seinen Paß empfangen und vom Herrn Landvogt Abschied genommen habe.«

»Armes Kind! und doch kann ich Ihnen nur Glück wünschen, daß Sie von der Pein erlöst sind. In einem Jahre, und werdens mehrere, ist Tadema wieder hier und trägt dann seine erste Liebe auf Händen. Und alles ist vergeben und vergessen.«

»Wie Sie immer Trost für andere haben, gnädige Frau.«

»Also das war die junge Witwe, der wir vorhin begegneten, als wir zurückkehrten. Ich hätte sie gern ganz nah gesehn. Sie blieb stehen und schaute uns nach, so kams mir vor. Die ruhige, schlanke, schwarze Gestalt, ich weiß nicht, kam mir vor wie ein schlechter Engel, der die Flügel zusammengeschlagen hat, um sich dann wieder unhörbar in die Wolken zu heben, aus seinen Händen Tod und Unglück streuend auf unsere Landschaft.«

»Auch Frau Bollmann wird nun bald von hier abreisen.«

Es blitzt und donnert stärker. Die Damen schrecken zusammen.

»Wo Timm und Jeppe bleiben! Mein Mann ist ja nur auf den Deich hinter unserm Garten gegangen.«

Ins Zimmer treten Timm und Jeppe.

»Hier bring ich dir, liebe Klothilde, den Weggelaufenen. Ich fand ihn richtig auf dem Deich. Die Arme hatte er ausgebreitet, als wolle er das Meer beschwören.«

Der Landvogt lacht. »Nur schade, daß sich die Wellen nicht an meine Zaubersprüche kehren. Das Wetter wird mit jeder Minute schlimmer. Sind Boten für mich eingetroffen?«

»Bis jetzt ist keiner gemeldet. Timm, du willst doch nicht an die Deiche? Du kannst uns doch jetzt nicht allein lassen?«

»Die Pflicht ruft mich. Ihr werd ich treu sein bis zum Ende.«

»Die Pflicht ruft dich, Timm?«

»Die Pflicht befiehlt mir einzig und allein. Das Leben Tausender habe ich zu verantworten.«

»Und mich . . .«

»Ich überlasse dich dem Schutze meines Bruders und der Hausbewohner.«

Der Diener öffnet die Tür und ruft: »Nordwest! Die Herren Harrsen und Frerksen sind eben eingetroffen.«

Die beiden treten stürmisch ein. Frerksen sagt: »Der Sturm nimmt heftig zu; er hat nach Nordwest gedreht. Gefahr am Königskoogdeich!«

»Sind die sechshundert Mann, die ich für den Fall bestimmt habe, an Ort und Stelle?«

»Alles in Ordnung, Herr Landvogt.«

Harrsen meldet: »Aus der Durchbruchstelle am Tetenbüllerdeich hat die See die Ausbesserungen fast schon wieder weggerissen. Die für diesen Fall bestimmten achthundert Mann arbeiten mit aller Kraft daran, die Stelle noch auszufüllen.«

»Gut, meine Herren. Gehn Sie voran. Ich werde gleich nachkommen.«

Alles geht aus dem Zimmer, nur Klothilde und der Landvogt bleiben.

»Wenn je ein Funke Liebe dein Herz für mich bewegt hat, Timm, so warte heute mit mir!«

»Es geht nicht, Klothilde. Die Pflicht über alles!«

»Bleib, o bleib! Ein Furchtbares wird geschehen . . . Sonst sehn wir uns nicht wieder.«

»Lebe wohl, Klothilde.«

Der Landvogt geht aus der Tür. Frau Jaspersen sinkt zusammen. Der Rittmeister und Merf finden sie und bemühen sich um sie. Sie tragen sie in einen Lehnsessel.

Frau Jaspersen erwacht und fragt schwach: »Ist er wirklich weggegangen?«

Jeppe entgegnet ihr liebevoll: »Das mußte er; er ist Beamter. Alle Augen sehn jetzt auf ihn.«

Klothilde fragt noch einmal gedehnt: »Ist er wirklich weggegangen?«

»Du mußt dich an diesen Gedanken gewöhnen, liebe Klothilde. Auch dieser Tag wird vorübergehn.«

Frau Jaspersen erhebt sich und geht langsam ans Fenster: »Es wird ganz dunkel, aber die Sterne scheinen nicht. Jetzt steht er am Deich. Die Welle will wie ein wütendes Tier ins Haus, wo die Lämmer sind. Die Lämmer hören das Gebrüll des Löwen . . . Die wilde See tobt gierig über alles hin. Nur die Woge sieht die Woge; zischend spritzt sie an den Himmel, um alles zornig zu löschen . . .«

Sie zeigt mit der Rechten in die Landschaft; mit der Linken streicht sie sich das Haar nach rückwärts. Plötzlich streckt sie sich ganz hoch und schreit: »Da, da, das Haus von Cile, umzingelt und umzüngelt von den Wogen . . . Timm legt seine Arme um ihren Nacken . . .«

Klothilde fällt dem Rittmeister und Merf ohnmächtig in die Arme. Das Fenster reißt sich auf von einem scharfen Sturmstoß. Es blitzt und donnert in einem fort.

Gleich, nachdem Frau Bollmann heimgekehrt war, brach das Unwetter los. Sie konnte aus ihrem Fenster die Gegend gut übersehen. Sie bemerkte, wie die Menschen hin und her liefen, wie groß und nah die Gefahr der Deichbrüche sein müsse. Das Gewitter hatte endlich nachgelassen, aber der Sturm wütete immer noch wie unsinnig und rüttelte und schüttelte mit den Wellen an den Deichen.

Als die Nacht hereinbrach, stand sie wieder am Fenster und schaute in die Dämmerung. Noch immer waren die Deiche fest geblieben. Sie dachte ohne Bewegung: Wie der Sturm mich beruhigt . . . Wie die Wellen tanzen und neugierig in die Insel sehn. Wie das Wasser über die Deiche spritzt, als könnt es die Zeit nicht erwarten vor Ungeduld, den neuen Besitz in sich aufzunehmen . . . Was laufen die Männer durcheinander? Der Deich ist, wer weiß an wie vielen Stellen, durchgebrochen. Jeder eilt nach seiner Werft . . . Das Grab in den Wogen ist kein schlimmer Gedanke für mich, ich kenne seit meinen ersten Tagen das Meer . . . Wenn ich mit Timm sterben könnte, an seiner Brust . . . Wenn er mir letzte Worte, Trostworte, Liebesworte . . . Das Wasser schwillt, es dehnt sich aus . . . Komm, Bruder Tod, und küsse mir das Herz still . . .

Cile dreht sich um und sieht den Landvogt, der eben eingetreten ist, vor sich stehen. Er breitet die Arme aus. Cile fliegt mit einem Schrei auf ihn zu. Der Landvogt legt ihr Haupt an seine Brust und sagt: »Das Leben hat uns nicht vereint, nun will es der Tod . . .«

Das Wasser dringt herein, alles schwankt und wankt und geht unter.

Es ist völlig dunkel geworden. Nur die wilde See ist sichtbar, die weißen Kämme. Sonst ist nichts zu unterscheiden: kein Schiff, keine Möve, keine Leiche, keine Trümmer. Nur das Urmeer. Aus einem Wolkenspalt glitzert ein einziger, böse funkelnder Flammenstern.

 

Aus: »Letzte Ernte«, Novellen.Erschienen 1909

 

 


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