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R. Ellis Roberts
Der enge Pfad

1879 – 1953

 

I

Als er konfirmiert wurde, hatte er den Bischof von London (zu jener Zeit war es Frederick Temple) dadurch irritiert, daß er darauf bestand, zum Überfluß noch die Namen »Alfonso Maria Alexander« annehmen zu wollen. Als ihn der Bischof nach dem Ursprung der Sitte, bei der Konfirmation neue Namen anzunehmen, fragte, antwortete er mit einer Entschlossenheit, die diesen verblüffte. Geradezu geärgert hatte er ihn mit der Erklärung, er wolle sich Alexander nennen, zum Andenken an jenen großen Papst, Seine Heiligkeit Alexander VI., der die ganze Christenheit sich verpflichtet habe durch die Entdeckung der »Andacht des Angelus«.

»Wie Ew. Hochwürden zweifellos bekannt ist«, murmelte der Knabe – (und der Bischof traute seinen Ohren kaum) – »ist diese Andacht von Ewigkeit her das Vorrecht der heiligen Engel gewesen, und wurde der Menschheit erst anvertraut, als die entsetzlichen Ketzereien der deutschen Reformation den Beistand der Heiligen Maria nötig machten zum Schutz ihres Sohnes.

Der Kaplan des Bischofs hatte versucht, diese Taktlosigkeit Frank Lascelles' zu verhindern; aber eine entschlossene Geste Temple's hatte dem Kaplan Schweigen geboten. Als Lascelles mit seiner Erklärung fertig war, starrte der Bischof ihn eine Minute stumm an.

»Nun, ich hoffe, das Leben wird Sie schon von dieser Marotte heilen. Aber da Sie sich über Ihre Ansprüche im klaren sind, will ich sie auch befriedigen.«

Denn wie seine alten Feinde schon Jahre zuvor hatten entdecken müssen, war Temple von überragender Gerechtigkeit.

Mehr als zwanzig Jahre waren seit der Konfirmation verflossen. Frank Alfonso Maria Alexander Lascelles war nach Oxford gegangen und nach Aly, und ihm war ein kleines Kirchspiel auf dem Lande in jener Diözese zugefallen. Nachdem er diesen Posten zwei Jahre lang verwaltet, kam er durch die Bemühungen eines unüberlegten Laien in die Kirchspiele St. Uny und St. Petroc im Norden von Cornwall. Er war jetzt schon neunzehn Jahre lang dort. Als er dort ankam, fand er die ihm zugedachte Kirche leer; jetzt war sie gefüllt, voll von Kindern und jungen Leuten. Bisweilen kamen auch einige Mütter, dann auch der Dorf-Trunkenbold, wenn er gerade einmal nüchtern war, und zur Messe stellte sich sogar bei reumütiger Verfassung das einzige käufliche Mädchen aus der nächsten größeren Stadt ein. Aber in der Regel bestand die Gemeinde der Kirche von St. Uny, drunten beim Strand, aus Kindern und jungen Leuten.

Es hatte lange gedauert, bis Frank Lascelles dieses Resultat erzielte. Die Pfarrei war hauptsächlich methodistisch. Als er ankam, fand er eine Gemeinde von nur drei Personen vor: den Zolleinnehmer, den Hotelwirt und eine alte Jungfer, die die Glocken läutete und sich den schönen Namen »Kirchenstuhl-Pförtnerin« zugelegt hatte. Lascelles versetzte ziemlich bald der Würde des Zolleinnehmers wie auch dem Protestantismus des Hotelwirts einen Schock: aber das alte Mädchen hielt treu zu ihm. Sie protestierte nicht im mindesten, als er den dreifachen Vorhang herunterschneiden und einen neuen Altar im östlichen Ende errichten ließ. Die großen Standbilder, die Lascelles in seine Kirche stellte, »Die Mutter Gottes von der unbefleckten Empfängnis«, »Das heilige Herz«, »St. Joseph und St. Antonius« schienen ihr sehr willkommen. Es war ihr einerlei, ob er die Messe auf lateinisch oder auf englisch las. Weder Weihrauch noch Weihwasser störten sie im geringsten. Aber im Dorf herrschte eine andere Auffassung. Obwohl die Methodisten der Kirche fernblieben, außer bei einer Hochzeit oder einem Begräbnis, hielten sie's für ihr gutes Recht, den Gottesdienst und den Priester scharf zu beobachten. Der Kirchenvorsteher war Protestant, und so gab es zu Ostern stürmische Gemeindeversammlungen. Eines schrecklichen Tages stürmten die Fischer die Kirche, nahmen die Standbilder heraus und warfen sie über die Klippe hinunter: in der nächsten Woche schon standen neue auf ihren Plätzen. Außer wenigen Leuten, die der öffentlichen Meinung trotzen wollten, erklärte die ganze Gemeinde ihren Priester in Acht und Bann; in seiner ironisch-gemütvollen Art stellte ihn sogar sein Bischof außerhalb des Gesetzes; aber er hielt sich grimmig an seine Aufgabe, fuhr fort, in der leeren Kirche seine Predigten zu halten und sang die Messe vor dem dürftigen Publikum, das aus der »Kirchenstuhl-Pförtnerin« und einem zuweilen hereingeschneiten Gläubigen bestand. Dann – nach fünf Jahren – trat ein Wandel ein.

Dieser Wandel war ungewöhnlich. Denn in der Regel sind Priester vom Glauben Lascelles' Männer, brennend vor Eifer, die die Feuerköpfe in der Gemeinde bald zu sich hinüberziehen und aus ihnen gläubige Heilssucher machen auf dem abenteuervollen Weg des Christentums. Aber wiewohl schon erwachsen, blieb Lascelles noch immer der Junge, der Liguori und Alexander zu seinen Schutzheiligen ernannt. Er war besessen von der Vorstellung, daß es eine Geisterwelt wirklich gäbe, daß Gut und Böse Tatsachen seien. Sein Kissen war von den Tränen feucht, die er vergoß um der Sünden seiner Gemeinde willen. Die Sünden der Welt entsetzten ihn ehrlich, und doch fühlte er sich außerstande, aus seiner Veranlagung heraus ihnen tatkräftig entgegenzutreten. Nur einer einzigen menschlichen Liebe war er unterworfen – und das war seine große Liebe zu Kindern.

Zunächst fand er dafür kein Echo. Seine seltsame Gestalt, sein schlürfender Gang, seine gebeugte Haltung und seine Wutausbrüche machten ihn lächerlich und unheimlich und brachten ihm keine Zuneigung ein. Dann fand eines der Kinder heraus, wie groß sein Herz war, dann folgte ein anderes, dann ein drittes. Endlich hatte er die Kinder erobert. Aber dies hätte ihm noch wenig genützt, wäre nicht Hochwürden Paul Trengrowse in St. Uny angekommen. Herr Trengrowse kam etwa drei Jahre nach der Berufung Lascelles dorthin, und zwar als Geistlicher der Gemeinde der »Primitiven«. Er war jung, eifrig und aufrichtig. Er war noch nicht lange im Dorfe, als ihm die führenden Gemeindemitglieder schon von den Sünden des Pfarrers und von den schrecklichen Dingen erzählten, die in der Kirche vor sich gingen. Trengrowse betete um Erleuchtung. Es war ihm zuwider, sich in die Angelegenheiten einer fremden Kirche zu mischen; wenn aber die Hälfte von dem, was er über Lascelles hörte, wirklich stimmte, so mußte er diesen bekämpfen. So besuchte er denn die stets offene Kirche und empfand beim Anblick der »Götzenbilder«, die er dort gewahren mußte, aufrichtigen Kummer.

Als er sich gerade das affektierte Lächeln des Heiligen Antonius betrachtete, hörte er Schritte. Es war Lascelles, der von der Sakristei zum Altar ging. Glücklicherweise erblickte Lascelles, bevor er die Messe begann, im Hintergrund der Kirche eine »Gemeinde«. So sprach er die Messe auf englisch.

Trengrowse war kein Durchschnittsgeistlicher. Seine Person strahlte Heiligkeit aus und wahre Andacht; alles, was sein Geist an Ehrlichkeit und mystischem Empfinden barg, erkannte in diesem Scheinpapisten, der dort die Messe murmelte, eine verwandte Seele. Die restlose Vertiefung von Lascelles in sein Werk, seine ernsthafte, aber doch von Freude getragene Feierlichkeit, sein eindringliches Mitempfinden der andern Welt machten auf Trengrowse einen ganz gewaltigen Eindruck. Die Messe nahm ihren Fortgang, und als Trengrowse hörte: »… und um dessentwillen verweilst du mit Engeln und Erzengeln in himmlischer Gemeinschaft …« – da fühlte er, daß ihm auf sein Gebet Erfüllung zuteilgeworden sei. Dieser Mann war, man konnte sagen was man wollte, ein richtiger Christ, wenn er auch in einzelnen Punkten irre ging.

So sahen sich am nächsten Sonntag die Primitiven, die auf eine kräftige Abfertigung der »großen römischen Babylon« gehofft hatten, unangenehm enttäuscht.

»Herr Lascelles mag auf dem falschen Wege sein. In manchem irrt er und ich muß darob klagen; – aber unseren Herrn liebt er wirklich und seine Andacht zu Ihm ist echt. Denkt daran, meine Brüder, daß niemand Jesum nennet den Herrn, wenn er nicht erleuchtet ist vom Heiligen Geist. Lasset uns beten für Herrn Lascelles und für die Gemeinde von St. Uny; auf daß wir geführt werden den engen Pfad zum Ewigen Leben.«

Hätte Trengrowse weniger persönliche Macht besessen, als er zeigte, seine Verteidigung von Lascelles wäre wohl fruchtlos gewesen. Aber er war ein annehmbarer Prediger und dazu ein Mann, dem man unmöglich die Hingebung für seine Religion absprechen konnte. So folgten denn die Dörfler von St. Uny seiner Führung, zuerst murrend, später aber mit bereitwilliger Anpassung.

Das Resultat war seltsam. Lascelles wurde mehr und mehr ein Magnet für die Kinder; sie strömten zum Gottesdienst. Dies beunruhigte Trengrowse ziemlich stark; aber wenn jemand aus der Gemeinde aufgebracht meinte: »Diese läppischen Laufereien nach der Kirche passen eben nur für unmündige Kinder«, so blickte er ihn ernst an und erwiderte: »Ah! Eli, aber die Schrift sagt: ›Wenn ihr nicht werdet wie die kleinen Kinder …‹« Dieses stopfte Eli den Mund, aber es brachte keine Beruhigung für Trengrowses eigenes Herz. Wie ging es nur zu, daß Lascelles alles bei den Kindern erreichte, ziemlich viel sogar noch bei Knaben bis zu fünfzehn Jahren, gar nichts aber bei Männern oder Frauen und blutwenig bei Mädchen? Die Erklärung, die Lascelles selber gab, war einfach: Trengrowses Bischof, sagte er, konfirmiere die Kinder nicht, ehe sie dreizehn seien. Er, Lascelles, firme sie aber schon mit sechs oder sieben. Er gefiel sich in einer tollen Predigt über die drei großen Helfer, die der Teufel im Kirchspiel von St. Uny habe, und diese drei Höhepunkte seiner Predigt hießen: »Geilheit«, »Heuchelei« und »Erzbischof«. Die achtbaren Vertreter der benachbarten Klerisei waren wütend, aber der Bischof, als schlichter, demütiger Mann, lehnte es ab, von diesem Angriff irgendwelche Notiz zu nehmen. Darin war er grundverschieden von dem ehemaligen Schulrektor, der Lascelles hier eingeführt hatte. Aber der Bischof lehnte es gleicherweise ab, sich vom Konfirmationsalter das Geringste abhandeln zu lassen. Das oberste Dekanat teilte Lascelles mit, daß sein Kirchspiel der Schandfleck der Diözese sei, und Lascelles hielt dagegen, daß dort, wo nur Gebresten seien, jedes Zeichen von Gesundung natürlich dem Gewohnten zuwiderlaufe und scheinbar Unheil künde. Obwohl er so den Nörglern die starke Front zeigte, wurmte ihn doch das Versagen bei seiner Gemeinde. Es hätte ihn nicht weiter gestört, wenn sie ihre Feindschaft in die Tat umgesetzt hätten. Aber die Angriffe hatten längst aufgehört. Sie mochten jetzt ihren Priester ganz gern. Daß er so im Mittelpunkt aufregender Gerüchte stand, kam auch ihnen zupaß. Sie hielten ihm gegen die Behörden die Stange, und wenn ein boshafter Protestant von London versuchte, einen kleinen Aufruhr wider Lascelles in Szene zu setzen, so stellte man ihn prompt kalt; und Trengrowse verfaßte eine Bittschrift an den Bischof, worin er die Zuneigung schilderte, die »wir alle, ob wir nun kirchlich sind oder Methodisten, für Herrn Lascelles empfinden«.

Die philosophische Einstellung Lascelles' hinderte ihn daran, in seinem Versagen etwa den Beweis zu sehen, er sei für sein Wirken ungeeignet. Er besaß die stolze Demut des vollkommenen Priesters. Indem er sich selbst als bloße Zuleitungsmöglichkeit für die göttliche Gnade empfand, vergaß er die Tatsache, daß seine Persönlichkeit so markant war, daß sie auch den Weg zur Gemeinde beeinflußte, den die göttliche Gnade wählte. Einst hatte ein guter Freund versucht, es ihm klarzumachen; die Absicht aber war gescheitert.

»Lieber Freund«, sagte Lascelles, »ich versteh Sie nicht recht. Was die Leute wollen, ist nur das Evangelium. Und das gebe ich ihnen. Ich lese Messe für sie. Ich werde ihnen auch die Beichte abnehmen. Ich belehre sie. Ich leite ihre Andachten. Alles Sonstige ist Schnörkel und Menschenwerk. Zweifellos wäre jemand, der berufener wäre, ihnen angenehmer; – was aber könnte er schließlich mehr tun als sie das Evangelium zu lehren?«

II

Am Allerseelentag 1912 fühlte Lascelles sich niedergeschlagen. Am frühen Morgen war er auf dem Friedhof gewesen und hatte in der kleinen Kapelle ein Requiem gebetet. Darauf war die Frühmesse um halb neun Uhr gefolgt bei voller Kirche. Nicht nur waren all' die Kinder zugegen, sondern auch ziemlich viel Elternpaare; rührten doch die Andachten am Tage der Toten so tiefe menschliche Empfindungen auf, und taten dieses mit solcher Macht, daß nicht einmal Lascelles diese Stimmung verderben konnte. Ziemlich eigenartig hatte das DIES IRAE, auf lateinisch gesungen, von den Lippen der vorherrschend kindlichen Gemeinde geklungen, und Lascelles hatte eine kurze Predigt gehalten über die »Bedeutsamkeit des Todes«.

»Wir nehmen den Tod viel zu wichtig. Der Tod selber geht uns an, nicht aber die Toten. Für diese ist er eine Befreiung, für uns aber eine Warnung. Der Körpertod ist nur ein Gleichnis. Was wir fürchten sollen, ist der Seelentod. Wahrlich, ich sage Euch: für jeden von Euch, die Ihr in dieser Kirche weilt, würde es sich schon der Mühe lohnen zu sterben, wenn Ihr durch solches Sterben Jesus eine Seele darbringen könntet. Gott weiß, ich würde für Euch sterben, wenn ich Euch dadurch ihm darbringen könnte. Einige weilen unter Euch heute, – Du, Penberthy, und Du, Trevose –, die seit ihrer frühesten Jugend nicht mehr zur Messe gegangen sind. Faßt heute einen neuen Entschluß und bittet die heiligen Seelen um Beistand, ihn zu halten. Entsinnt Euch Eurer Pflichten und kehrt in den Schoß der Kirche zurück!«

Lascelles fühlte dabei, daß keine Überredungskraft von ihm ausging. Er wußte genau, daß nach Schluß der Messe Penberthy zu Trevose sagen würde:

»Ganz schöne Andacht, was?«

»Da hast du recht. Ein- oder zweimal lasse ich mir so was gefallen, sonst aber mag ich die Kapelle lieber. Dort kommt's mir natürlicher vor.«

»Tja, da hast nun du wieder recht. Der arme Herr Lascelles! Ich dachte mir gleich, er würde uns eins auf die Mütze geben.«

»Tja – er hat nun die Art. Lieber Gott! Mir ist es einerlei.«

Deshalb war Lascelles niedergedrückt. Er saß in seiner Bibliothek und las einen Renaissance-Traktat über den »TOD«. Er dachte ziemlich viel über den Tod nach. Bisweilen hatte er eine schreckliche Angst davor. Ihm schien, als sei der Tod der große Feind des Glaubens. Der Tod war eine Sache, die einen fürchterlich verstimmte, er war so herz- und respektlos. Zu anderen Zeiten stand in Lascelles ein Trotz auf. Nie aber gelang es ihm, sich der Todesauffassung des Hl. Franziskus zu nähern. Er war dem natürlichen Verlauf des Lebens und den Vorgängen vom rein animalischen Werden und Vergehen zu entfremdet, um im Tode den ganz gewöhnlichen Vorgang zu sehen, der um nichts ungewöhnlicher ist als ein Sonnenuntergang.

»Vielleicht –«, so las er, »gibt es mehr Tode als einen. Ist es doch klar, daß einige so verhärtet sind in Sünden, daß der Körpertod erst eintritt, wenn der Mann schon längst gestorben ist. Solche Leute sind gemeinhin vergnügt und fröhlich; denn mit dem Tod ihrer Seele ist auch alle Gottesfurcht in ihnen abgestorben, alles Unbehagen vor dem dereinstigen Gericht, alle Hoffnung auf Rettung. Reine Tiere werden aus ihnen. Um dessentwillen war es stets der Glaube der Kirche, daß solche Ketzer, wenn gegen ihre Hartnäckigkeit kein Kraut mehr gewachsen war, dem weltlichen Rächerarm überantwortet werden durften, um den körperlichen Tod zu erleiden. Daß sie vielleicht die üblichen menschlichen Tugenden zeigten, sollte uns dabei nicht stören. Solche Tüchtigkeit ist Gemeingut derer, die nie bereuen; ist nur eine Falle des Teufels, der den Menschen überreden will, Religion habe keinen Zweck. Des Teufels Kinder sind sie, und jeder gottesgläubige Fürst müßte sie die Strenge des Gesetzes fühlen lassen dürfen. Die Kirche selber tötet nicht; trotzdem aber hat der Herr Papst, da er auch ein König ist der Zeit, Macht des Schwertes und darf es schwingen.«

Lascelles legte das Buch nieder und starrte ins Kaminfeuer. Diese Worte entfesselten Gedanken in ihm, vor denen er fast Angst bekam. Aber er war Manns genug, einen Einfall zu Ende zu denken, wenn er ihn auch erschreckte. Seine Überzeugung war: daß man dem Teufel geben müsse, was des Teufels sei, und er bestand stets darauf, daß man den Versuchungen nie aus dem Wege gehen, sondern ihnen Aug' in Auge begegnen müsse. Er verließ seinen Stuhl und kniete nieder auf seinen Betschemel, versunken in den Anblick der Wunden des großen Kruzifixus, der darüber hing.

Eine halbe Stunde später erhob er sich mit dem Ausdruck der Entschlossenheit.

III

Der erste Fall der »Seuche« – Die Dörfler ließen es sich nicht nehmen, dies seltsame Verhängnis so zu betiteln, – ereignete sich kurz vor Epiphanias. Die »Seuche« überfiel Penberthy, der nie zuvor krank gewesen war; nach vier Tagen war er tot. Seine Krankheit war dem Doktor des Marktfleckens ein Rätsel, aber er verzeichnete sie als einen seltsamen Fall von Kinderlähmung. Sein Kollege von Truro, den er nach dem dritten Fall konsultierte, blieb dabei, daß die Symptome nichts andres sein könnten, als die eines Schocks im Gefolge von Status Lymphaticus. Immerhin war das Bedenkliche daran nicht, daß sie außerstande waren, eine Fachbezeichnung zu finden, sondern ihre Unfähigkeit, die seltsame Krankheit zu heilen, die in St. Uny um sich griff. Sie fanden als kümmerliches Symptom, woran sie sich halten konnten, lediglich allgemeinen Schwächezustand und Unlust zur Bewegung, außerdem ein seltsam »schlappes Gefühl in den Eingeweiden«. Nach dem zweiten Falle stellten sie eine Untersuchung an, aber die ergab überhaupt kein greifbares Resultat, und Dr. Marlowe sprach bereits davon, einen Sachverständigen aus London kommen zu lassen.

Immerhin dauerte es noch bis Februar, bis ein solcher eintraf. Durch glücklichen Zufall kam Sir Joshua Tomlinson auf Urlaub nach St. Ives. Die »Seuche« in St. Uny war in einer Londoner Zeitung erwähnt worden. Zehn Todesfälle hatte es bis jetzt gegeben, und die ersten beiden Frauen, die angesteckt waren, lagen schwerkrank. Dr. Marlowe besuchte Sir Joshua und der große Arzt versprach, herüberzukommen und sich die Patienten anzusehen. Marlowe war froh, daß der Zufall ihm einen bedeutenden Internisten in den Weg geschickt, statt etwa eines praktischen Arztes oder eines bloßen Spezialisten. Wiewohl willens jedweden Spezialisten, der sich einstelle, nach seinem jeweiligen Lieblingsfall schnüffeln zu lassen (da nun die seltsame Krankheit schon zehn Fischer umgebracht), war er doch erleichtert, daß kein Spezialist herangezogen werden sollte.

»Sehen Sie, Lascelles«, sagte er zu dem Priester, »wir leben ja schließlich nicht im fünfzehnten Jahrhundert. Was die Theologie anbelangt, so mag es ja heute noch so aussehn, wie damals, aber in der Heilkunst sind wir, verdammt noch einmal, doch weitergekommen seitdem. Diese Leute sterben wie die Wilden. Aber wenn der Wilde stirbt, so glaubt er, es sei sein Schicksal, und stirbt aus bloßer Hysterie. Diese Leute aber wollen leben bleiben. Sie gieren nach Leben.«

»Sie haben recht, Marlowe; ihr Wunsch nach Leben ist Begierde, und für einen Christenmenschen ziemt es sich schwerlich, an seinem jämmerlichen Dasein so zu kleben. Nun ja – es ist nicht meine Sache, zu richten. Wissen Sie, Marlowe, in diesem letzten Monat ist mir oft der Gedanke gekommen, diese geheimnisvolle Krankheit sei ein Gericht über St. Uny. Gott streckt seine Rächerhand aus über unser Dorf. Laßt uns beten für die, die schon tot sind, und für die Sterbenden, und besonders, großer Schöpfer, für die, denen der Tod noch erspart bleibt.«

Obschon Marlowe mit Lascelles freundschaftlich verkehrte, hatte er doch eine gewisse Furcht vor ihm. Während der schlimmen Zeit hatte der Vikar übermenschliche Arbeit geleistet. Er hatte die Kranken gepflegt, die Leidtragenden getröstet, Messen abgehalten und einen allgemeinen Bittgottesdienst. Nie zuvor noch hatte er sich so eingelebt in die Seelenängste der Gemeinde, wie jetzt; – und St. Uny war ihm dankbar dafür. Trotzdem war der kleine Doktor ziemlich beunruhigt. Lascelles hatte ein so gespreiztes und seltsames Gebaren. Seine Gebete zogen sich zu sehr in die Länge, und er versäumte darüber Essen und Schlaf.

»Nein, Lascelles, hier bin ich nicht Ihrer Meinung. Oh! Ich bin ein guter Katholik; ich hoffe und ich weiß, daß Gott Einhalt tun könne; aber ich kann mir nicht vorstellen, warum Er 's tun sollte.«

»Freilich sehen Sie es nicht ein. Niemand kann's, Marlowe, bis Er Seinen Spruch getan, und dann müssen Sie sich Seiner Einsicht beugen.«

Am Samstag kam Sir Joshua herüber. Er sah Mrs. Pentreath und Mrs. Whichelo, und bei ihrem Anblick schüttelte er den Kopf. Er befragte sie über ihre Ernährungsweise, wie sie lebten, und Marlowe stand schweigend dabei, voller Ungeduld. Dann sprach er einige gütige und aufmunternde Worte und beließ sie in dem großen Raum, den der Vikar als Krankenhaussaal hergerichtet. Marlowe glaubte nämlich, es sei besser, wenn man die Fälle isoliere.

»Nun, – was denken Sie darüber?«

»Was für ein Mensch ist eigentlich Ihr Vikar? Er ist scheint's ganz beliebt.«

»Ja, das ist er. Er ist ein komischer Kerl, aber bei ihm ist, glaube ich, eine Schraube locker. Ein scharfer Katholik und sehr betrübt darüber, daß er beim Volk keinen rechten Anklang findet.«

»Ah! Man geht wohl nicht genug zur Kirche?«

»Nun, jetzt tun sie es. Seit diese verdammte Krankheit ausgebrochen ist. Er ist riesig gut zu ihnen gewesen, und die Kinder sind früher schon immer gekommen.«

»Es ist eigentlich sonderbar, Dr. Marlowe, daß noch kein Kind erkrankt ist.«

»Nicht wahr? Das sage ich auch dem jungen Jones von Truro. Der klebt immer an seiner Diagnose »Schock im Gefolge von Status Lymphaticus«. Ich deute aber immer darauf hin, daß die meisten Patienten Leute sind, die jede Woche in ihrem Leben, seit ihrem zwölften Jahr, mit solchen »Schocks« zu tun hatten. Von Rechts wegen müßten sie schon alle längst tot sein.

»Ja. Sicher irrt Jones hier. Aber auch ich weiß nicht, was dies für eine Krankheit ist, Dr. Marlowe. Ich habe nur meinen Verdacht.«

»Hier kommt gerade der Vikar, Sir Joshua. Soll ich vorstellen?«

»Bitte.«

Lascelles schritt rasch auf sie zu. Er sah krank aus, aber voll Eifer. Fanatische Genugtuung blitzte aus seinen Augen, eine Art heilige Hingerissenheit, die ihn fast noch größer erscheinen ließ, als er wirklich war. Er nahm die Vorstellung mit einer Verbeugung entgegen und wollte gerade weitergehen, als Sir Joshua ihn mit einer Frage anhielt.

»Kommen Sie gerade von Ihren Krankenbetten, Herr Lascelles?«

»Ja. Sie sind nicht mehr krank. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um ihnen die Beichte abzunehmen und ihnen die letzte Ölung zu geben.«

»Um Gottes willen!«

Sir Joshua war sichtlich erschüttert. »Vor kaum zehn Minuten haben wir sie erst verlassen.«

»Ist nicht das Ende immer sehr schnell gekommen, Marlowe?«

»Ja, aber diesmal besonders schnell. Was denken Sie, Sir Joshua«, (und er dämpfte seine Stimme) »von einer Autopsie?«

»Die wäre nutzlos. Zum mindesten wäre sie keine Hilfe für mich. Übrigens, Marlowe, – was haben Sie als Todesursache eingetragen?«

»Nun, – ich hab kurz entschlossen hineingeschrieben: ›Herzschwäche, Ursache unbekannt‹. Ebenso richtig hätte vielleicht geklungen: ›Es hat Gott gefallen‹.«

»Ah! Marlowe, dies letzte war's auch, was Sie hätten eintragen müssen«, unterbrach ihn Lascelles. »Es ist Gottes Hand … Gottes Hand.«

Darauf, nach einer Verbeugung vor Sir Joshua, hastete er hinweg.

»Also Ihr Vikar ist der Meinung, hier sei ›Gottes Hand‹ im Spiele. Er mag ja recht haben. Gott bedient sich menschlicher Vermittlung. Der Mann interessiert mich, Dr. Marlowe.«

»Ja, interessant ist er. Aber dieses Unheil bekümmert ihn fürchterlich. Sein Zustand macht mich selber nervös. Haben Sie sich noch keine Theorie zurechtgelegt? Sie sprachen vorhin von einem ›Verdacht‹ …«

»Gut, Dr. Marlowe, ich will Ihnen sagen, was ich denke. Ihre Patienten sind ermordet worden.«

Marlowe starrte den großen Arzt an, als fürchte er für dessen Verstand.

»Keine Angst, Dr. Marlowe, ich bin nicht verrückt, obzwar ich noch keinen Beweis habe für meine Behauptung. Alles worum ich bitte, ist ein Besuch beim nächstfolgenden Patienten, eine halbe Stunde nach Krankheitsbeginn. Kann man mir übrigens hier ein Bett aufschlagen, was meinen Sie? Wo schlafen Sie selber?«

»Im Hause des Vikars. Sicher wird er entzückt sein, Sie beherbergen zu dürfen.«

»Nein, ich glaube nicht, daß ich beim Vater Lascelles wohnen werde. Habe nicht die geringste Lust. Ich finde schon irgendwo ein Zimmer. Ich glaube, morgen abend schon werden wir einen neuen Fall haben.«

IV

An diesem Sonntagmorgen predigte Lascelles über »die Rächerhand des Gerichtes«. Die Kirche war gestopft voll. Trengrowse hielt seinen Gottesdienst um neun Uhr und brachte seine ganze Gemeinde um elf Uhr zur Messe. Augenscheinlich fühlte Lascelles sich wunderbar wohl. Seine Augen waren klarer, sein Schritt beschwingter und seine ganze Gestalt hatte etwas Flottes. Der Tonfall, in dem er seinen Predigttext verkündete, jubilierte.

»… ›und sie durchstachen Seine Hände.‹ Die Gleichniskraft des göttlichen Körpers hat etwas seltsam Faszinierendes. Die Juden stellten sich Gott vor als ein Auge, das voller Sorge für sie im Himmel wache. Wir Christen nehmen Gott wahr – hier im Tabernakel oder in den Armen der Maria. Seine Besorgnis um uns stellen wir uns dar, indem wir Seine Hand erschaffen – die Hand, die wir durchbohrt haben. In diesem letzten Monat hat Gott wundervoll mit uns gehaust. Zwar weilt Er immer bei uns im Hl. Sakrament: aber nun ist Er uns auch zur Seite getreten im Sakrament des Todes. Seine richtende Hand hat Er über uns und unter uns gestreckt; sie hat uns ergriffen – und einige von uns hat sie nicht losgelassen.

Unsere natürliche Empfindung ist Furcht. Wir sind nicht gewöhnt daran, daß Gott so unmittelbar mit uns umspringt. Die meisten von uns haben sich bemüht, Religion in unser Leben zu bringen, nun aber wird uns der Versuch aufgezwungen, unser Leben der Religion zu opfern. Gott will, daß wir keine anderen Gedanken haben, keine anderen Worte, keine andere Hoffnung, als nur IHN. Noch ist Seine Hand mit uns. Noch manche wird sie hinwegraffen von St. Uny, bevor wir unsere Lektion gelernt haben. Laßt mich Euch helfen, diese Lektion richtig zu lernen. Laßt uns alle Sorge tragen, daß wir unseren Gottesglauben erneuern, daß wir Seine Hand erkennen, daß wir Seiner Liebe die richtige Antwort geben.«

Sir Joshua hatte der Predigt des Herrn Lascelles aufmerksam gelauscht. Irgendwie enttäuschte sie ihn anscheinend, und er zeigte nachher keine Lust, sich mit Marlowe zu unterhalten. Darüber, daß Lascelles' schicksalsmäßige Einstellung den Doktor zwar aufbrachte, den Dörflern aber hochwillkommen schien, gab es keinen Zweifel. Kindlich gläubig sogen sie die Worte dieses Mannes ein, dessen Rede auf innerste Kenntnis der Mittel und Wege des Allmächtigen schließen ließ. Nie zuvor noch erzeugte Lascelles eine so starke ehrliche Andacht bei der Gemeinde, als sie jetzt während der »Seuche« vorhanden war. Zwar war es nicht ganz so, daß sie sein Gefühl blinder Anheimgabe in den Willen Gottes teilten; aber die Tatsache, daß er ein solches Gefühl zeigte, erleichterte ihnen ihr Schicksal.

Am Sonntag abend gab es einen neuen Fall, genau wie es Sir Joshua erwartet. Die Krankheit überfiel Mrs. Bodilly, die Frau des größten Gemüsehändlers von St. Uny. Marlowe wurde sofort geholt, aber er fand Sir Joshua bereits am Bett der kranken Frau.

Sie war außer sich vor Entsetzen. Darin unterschied sich ihr Fall von den früheren, bei denen die Dulder, obschon im allgemeinen empfindlich erregt, nicht im geringsten Angst gehabt. Mrs. Bodilly hatte an diesem Morgen der Messe angewohnt. Sie war dann nach Hause gegangen und hatte das Mittagessen zubereitet. Zur Teezeit hatte sie sich sonderbar gefühlt, nach dem Tee aber besser. Dann aber, als sie sich zurechtmachte, um zu dem neu eingeschobenen Gottesdienst zu gehen, stürzte sie zu Boden und mußte von ihrem Mann und von ihren Söhnen in ihr Zimmer hinaufgetragen werden.

Im Gegensatz zu anderen Krämerfrauen war sie zwar getauft, aber sie war nie konfirmiert worden und ging selten zur Kirche. Der Anfall äußerlicher Frömmigkeit, den die Seuche in ihr hervorgerufen, kam offenbar nur von erregten Nerven. Sie fühlte, daß Gott sich Sein Teil von St. Uny unberechenbar heraushole, und sie war voll Angst, ob sie davonkommen würde.

Die Krankheit rief in ihr eine Mischung von Ärger und Furcht hervor. Entrüstet war sie deshalb, weil ihre Bemühungen, den Zorn des Himmels zu besänftigen, keinen Erfolg gehabt; entsetzt war sie, weil sie sterben mußte, und weil dieser Tod darüber hinaus sich als Strafe darstellte. Des Trostes bar, suchte sie sich an Marlowe und Sir Joshua zu klammern; keiner von beiden aber vermochte ihr mit Bestimmtheit Besserung zu prophezeien. Die Krankheit verlief genau wie bei den übrigen. Die Symptome waren wiederum ziemlich ähnlich bis auf äußerste Schwäche, erstaunliche Langsamkeit des Pulses und unregelmäßigen Herzschlag. Obwohl Sir Joshua bereits fünf Minuten nach dem Anfall zur Stelle gewesen, mußte er Marlowe gegenüber zugeben, daß er nichts entdecken konnte, was seinen Verdacht rechtfertigte.

»Ich will offen sprechen, Dr. Marlowe: ich hatte Verdacht auf Gift. Den habe ich noch. Ich glaube, all diese Leute sind vergiftet worden und zwar in äußerst raffinierter Weise durch einen Menschen, dessen Fanatismus an Wahnsinn grenzt. Aber ich kann keine Giftspur entdecken. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich in diesem Fall die Sektion vornehmen, wenn ich mir auch nicht viel davon verspreche. Wenn Sie mir darin Hilfe leisten wollen, so müssen Sie sich meiner Methode anpassen.«

»Wahrhaftig, Sir Joshua, Sie reden mehr als Detektiv, denn als Arzt.«

»Dies ist eine Detektivangelegenheit, Dr. Marlowe. Ich wünschte, es wäre nicht so.«

Bevor sie weggingen, erschien Lascelles. Auch er war von Mr. Bodilly hergerufen worden, und seine Absicht war, der Frau die Absolution zu geben. Als der Meßnerknabe mit Kerze und Glocke sich der Treppe näherte, flüsterte Sir Joshua dem Doktor zu:

»Ihr Vikar hat ja merkwürdig bestimmt auf ihren Tod gerechnet.«

Marlowe zuckte mit den Schultern. »Wir haben ja keinen einzigen Fall bisher gerettet.«

Die Sektion ergab keinen Anhaltspunkt. Abends speiste Marlowe mit Sir Joshua im Gasthof des Ortes, und nach dem Essen erzählte ihm der große Arzt Näheres über die Verdachtsmomente. Marlowe hörte ihm zunächst widerwillig zu, und dann voll ungläubigen Entsetzens.

»Aber das ist doch unmöglich! Der Mann opfert sich auf für sein Kirchspiel. Glauben Sie's mir! Er würde sogar dafür sterben!«

»Ich glaube gern, daß er sogar das täte, und er würde es sicher tun, wenn meine Untersuchung erfolgreich gewesen wäre.«

»Aber wir haben ja nicht einmal die schwächste Spur eines Giftes gefunden, das der Wissenschaft bekannt ist. Rein gar nichts haben wir gefunden.«

»Stimmt. Ich hatte erwartet, man würde … aber lassen wir das. Ich habe ziemlich viel Erfahrung, Dr. Marlowe, und ich bin überzeugt davon, daß Ihr Vikar seine Gemeindemitglieder ermordet hat, und noch heute will ich es ihm ins Gesicht sagen. Ich will Sie noch nach Hause begleiten. Sie können sich inzwischen überlegen, ob Sie dabei sein wollen oder nicht.«

V

Lascelles schenkte ihnen einen etwas müden Blick, als Sir Joshua seine Rede beendet hatte.

»Und sonst? –«

Hier sprang Marlowe ein.

»Schauen Sie mal, alter Freund, … Ich kam bloß her, weil … (Verzeihen Sie, Sir Joshua) – weil ich nicht wollte, daß Sie sich diese ungeheuerliche, phantastische Beschuldigung von Sir Joshua allein aufbürden lassen sollen. Es ist nur nötig, daß Sie ihm widersprechen; dann gehen wir.«

Lascelles blickte seinen Freund dankbar an:

»Ich danke Ihnen, Marlowe. Aber Sir Joshua hat ja recht, wenn er mich über seinen Verdacht aufklärt. Sie haben zu Ende gesprochen, Sir Joshua?«

»Ja. Ich wünsche nun Ihre Erklärung zu hören, wenn Sie eine zu geben haben; oder daß Sie meine Beschuldigung zugeben und mir versprechen, daß diese … diese ›Seuche‹ aufhören soll.«

»Für einen Mann, Herr, der nicht beweisen kann, was er sagt, führen Sie eine eigenartige Sprache.«

»Wahrhaftig«, stieß Marlowe hervor, »bei Gott, das ist wahr, das tun Sie …«

»Einen Moment, Marlowe. – Sie werden sich nicht damit zufrieden geben, Sir Joshua, daß Sie Ihr Gewissen erleichtert haben durch Aussprechen des Verdachtes. Sie werden jedenfalls wollen, daß ich mich verantworte?«

»Das will ich nicht nur, das verlange ich.«

»Sie wissen, Herr, große Ärzte wie Sie haben einen Punkt, wo sie versagen. Diesen Punkt haben auch die Priester. Sie können nicht anders: Sie müssen eine Sprache mit mir führen, als ob ich Ihr Patient, und als ob ich gemüts- oder nervenkrank wäre. Ihre Überzeugung ist zwangsläufig die, daß Ihr bestimmter Tonfall, Ihre beinahe (darf ich das sagen?) unhöfliche Art, Eindruck auf mich machen müßte. Nun also: Sie machen mir keinen Eindruck.«

In Sir Joshua wallte es heiß auf. Lascelles hatte mit seinen Worten den Nagel auf den Kopf getroffen, was Sir Joshuas Methode anlangte. Er ärgerte sich darüber, daß ein Mann, den er zum mindesten als Halbirren betrachtete, ihn so leicht durchschaute.

»Ich bitte um Entschuldigung. Es hat Berechtigung, was Sie da sagen. Für alle Berufe gibt es gewisse … hm … Tricks.«

»Na also.«

Lascelles erhob sich und stand dann am Kamin, wobei er auf seinen Besucher herabblickte. Im letzten Monat hatte er sich verändert. Er erschien größer und männlicher, – als laste jetzt persönliche Verantwortung schwerer auf ihm als früher. Er sah weniger wie ein Beamter aus, und mehr wie ein richtiger Mann. Er sprach ziemlich langsam.

»Sie haben mich des Mordes beschuldigt, Sir Joshua. Sie bitten mich, meine Verbrechen zuzugeben und Umkehr zu geloben. Gut, ich hatte Ihren Besuch erwartet. Ihr Traktat über die ›Toxikologie der Renaissance‹ ist mir schon lange wohlbekannt; er ist so erschöpfend wie jedes andere öffentliche Buch, und ich bin froh, daß Sie und Marlowe heute abend kamen. Ich habe meine Antwort für Sie fertig: Ich gebe nichts zu und ich verspreche nichts.«

Mit einer verblüfften Miene betrachtete Sir Joshua den Priester. Für einen Augenblick kam es ihm selbst vor, als sei seine Anschuldigung ungeheuerlich, dann aber meldete sich wieder der gesunde Menschenverstand bei ihm.

»Ihre Antwort befriedigt mich nicht, Vater Lascelles. Ich muß andere Schritte tun.«

»Die werden zu nichts führen, Sir Joshua. Wenn Sie keinen Beweis finden, kann's auch niemand anderer. Sie behaupten, daß meine armen Schäflein vergiftet wurden. Gut also, so finden Sie das Gift. Ah! Sie wissen, das können Sie nicht. Es ist Narretei, mir zu drohen. Aber ich will Ihnen sagen, was ich Marlowe heute nacht mitzuteilen beschlossen hatte. Erstens: ich erwarte nicht, daß für längere Zeit weitere Todesfälle durch diese Seuche erfolgen werden; zweitens: ich muß ein Bekenntnis ablegen. Am letzten Allerheiligentag fühlte ich mich sehr niedergedrückt. Meine Wirksamkeit hier machte nicht die Fortschritte, die ich erhoffte. Zwar kamen die Kinder zu mir, nicht aber ihre Eltern. Ich dachte viel über den Tod nach und die Verblichenen, an jener Stunde aller Toten – und zu guter Letzt betete ich zu Gott, ER möge den Tod senden, wenn nichts anderes mehr imstande sei, an diese steinernen Gemüter zu rühren. Tod solle ER senden, geheimnisvoll und als rächender Richter. Da kam der Tod, und mein Volk hat sein Teil daraus gelernt. Alle jene, die er traf, wurden vor ihrem Hingang mit der hl. Kirche versöhnt. Von denen, die am Leben blieben, haben nun alle den Weg in den Schoß der Kirche zurückgefunden. Heute nachmittag kam Herr Trengrowse und bat, eingeschult zu werden für die Firmung …«

»Trengrowse, der Pfarrer selbst …« fuhr es Marlowe heraus.

»Und heute abend ließ man mich wissen, daß alle, die zugelassen werden können, nächsten Sonntag an der Kommunion teilnehmen wollen. Dieses Kirchspiel ist für Gott zurückgewonnen worden, Sir Joshua, auf Kosten von dreizehn Todesfällen. Ist dieser herrliche Erfolg es nicht wert?«

»Vater Lascelles, ich kann Sie nicht als einen Menschen von normalem Verstand betrachten. Denn nicht nur geben Sie schlechterdings Ihr Verbrechen zu, sondern Sie entschleiern sogar Ihre Gründe dafür.«

»Verzeihung! Ich gebe gar nichts zu! Was ich zugab, war mein Gebet zu Gott, dieses Volk hier heimzusuchen, und zwar durch geheimnisvollen Tod, wenn es nicht anders gehe. Das ist kein Verbrechen. Nächsten Sonntag werde ich meiner Gemeinde dasselbe mitteilen.«

»Und nun haben Sie gebetet«, meinte Sir Joshua ironisch, »daß die Todesfälle aufhören sollten?«

»Als Sie hier eintraten, tat ich das«, erwiderte Lascelles leise.

»Großer Gott, Mann, Ihre Heuchelei macht mir übel. Sie salbadern davon, daß Gott sich hier einmische, und die ganze Zeit über haben Sie einen Menschen nach dem anderen umgebracht durch irgendein ekelhaftes Gift, das Ihr eigenes Geheimnis ist.«

»Sir Joshua – glauben Sie etwa, daß Gott keine menschliche Hilfe nötig hat, wenn Er etwas erreichen will?«

»Bah! Das ist Sophisterei.«

»Also verdammen Sie auch den großen Apparat der Justiz, den Krieg, und unser menschliches Aushilfsmittel: Strick und Guillotine?«

»Sicherlich, Marlowe«, rief Sir Joshua aus, »bringen auch Sie es nicht mehr fertig, hier ruhig zu sitzen und sich diesen greulichen Unsinn mit anzuhören?«

Marlowe war dagesessen wie vor den Kopf geschlagen und blickte auf Lascelles, als ob dieser ihn hypnotisiert habe. Er erwiderte mit ganz schwebender Betonung:

»Ich weiß nicht, ich wundere mich nur«, – er lachte nervös – »was Lascelles eigentlich ist, ob Heiliger oder Teufel.«

Lascelles ließ sich durchaus nicht aus der Ruhe bringen. Er fuhr fort:

»Da haben Sie nichts zu erwidern. Was? Warum sollten Sie auch glauben, ich, als gesalbter Priester, eigne mich weniger zum Türhüter des Todes als der Lord Oberrichter Ommaney? Das einzige vielleicht, was mich unterscheidet: ich folge nicht dem starren Buchstaben des Gesetzes. Ich klebe in meinen Handlungen nicht sklavisch an früheren Mustern. Ich kenne mein Volk. Einzeln kenne ich sie. Als Einzelmenschen liebe ich sie, und so auch halte ich Gericht über sie.«

Die hohe Gestalt des Mannes schien zu erglühen. Sein Gesicht schien durchleuchtet von übernatürlicher Schönheit, als er so dastand und auf seine zwei Besucher herabblickte; als er sie so herausforderte, ihn zur Verantwortung zu ziehen.

Sir Joshua erhob sich. Sein Aussehen: das eines Richters, der respektheischend seine Anklage hinschmettert, hatte sich verändert. In seinem innersten menschlichen Gefühl war er getroffen, und er sprach mit einer eindringlichen Bedeutsamkeit, die viel eindrucksvoller war als sein früherer befehlshaberischer Ton:

»Vater Lascelles, ich habe hier nichts mehr zu sagen. Ich glaube, Sie haben eine sehr verabscheuenswerte und sehr tückische Tat getan. Ich habe nun von Ihnen vernommen, wie Ihre Verteidigung aussähe für den Fall, man brächte Sie für dieses Verbrechen vor Gericht. Wie Ihnen wohl klar ist, hat Ihre Verteidigung im Sinne des Gesetzes keine Beweiskraft. Auch sittlichen Rückhalt hat sie keinen. Sie unterliegen einer seltsamen Selbsttäuschung. Eines Tages werden Sie eine große Herzenseinsamkeit spüren. Es wird Ihnen dann dämmern, was für eine furchtbare Verantwortung Sie auf sich geladen haben. Allein, auf sich gestellt, ohne daß die Gesellschaft Sie sanktioniert, ohne die Zustimmung Ihrer Kirche, haben Sie eigenmächtig über das Schicksal Ihrer Mitmenschen entschieden. Ich spüre Mitleid mit Ihnen. Gute Nacht.«

Das strahlende Licht erlosch im Antlitz Lascelles. Plötzlich sah er krank aus, von Gram gebeugt. Dann aber, mit einem Schwung hoher, alle Bedenken niedermähender Begeisterung streckte er den Arm nach dem Kruzifixus, und sprach feierlich:

»Selbst ER – – – selbst ER unterlag der Sünde.«


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