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Percival Wilde.
Die gefallenen Engel

1887 – 1953

 

I

Die Atmosphäre in dem kleinen Raum war elektrisch geladen. Die Explosion, die bald erfolgen mußte, lastete auf aller Sinnen.

Von der Straße, tief von drunten, tönte gelegentlich das Schnurren einer verspäteten Autodroschke herauf. Von der Decke floß strahlender Glanz starker Birnen. Die Glocke auf dem Kaminsims und die überfüllten Aschenbecher deuteten auf zwei Uhr morgens. Noch immer spielten die Leute, die um den Bridgetisch im Himalaja-Club herumsaßen und beim Ende jedes Rubbers mechanisch abhoben, mit einer gespannten Aufmerksamkeit, die anscheinend für nichts anderes Augen hatte.

Straker, – dies behauptete er wenigstens nachher, – war schon seit Mitternacht einem Schlaganfall nahe gewesen. Billings umkrampfte seine Karten mit nervöser Hand und wartete ungeduldig auf den Moment, wo die Beschuldigung fallen würde. Chisholm, der sonst mit der größten Ruhe den Papierstreifen am Kurs-Telegraphen beobachten konnte mit den Schwankungen, die Tausende für ihn bedeuten konnten, biß sich von Zeit zu Zeit auf die Spitzen seines struppigen Schnurrbarts und hoffte, daß sein Äußeres nichts von seiner Aufregung verrate. Chisholm hatte absolutes Vertrauen auf Anthony P. Claghorn, genau wie die anderen. Seine Freunde nannten diesen Claghorn »Tony«. Nach seinem eigenen bescheidenen Eingeständnis war er Sachverständiger bei jedem Hazardspiel. Aber Chisholms Besorgnis wuchs an, als diesmal die Minuten sich zu Stunden dehnten und Tony, ohne ein Fältchen in der hohen Stirn zu zeigen, sich lediglich darauf beschränkte, die besten Zigarren des Himalaja-Clubs zu rauchen (soweit seine Gastgeber sie nicht selbst beisteuerten).

Chisholm konnte Tony nicht beschuldigen, interesselos dabeigesessen zu sein. Pünktlich um neun hatte das Spiel angefangen. Pünktlich um neun hatte Tony auch den bequemsten Stuhl herangeangelt und Anker darin geworfen. Die Rubber waren jeweils halbstündig zu Ende gegangen, und die sechs Spieler, während sie abhoben, um das Arrangement der folgenden Spiele zu bestimmen, hatten die Plätze gewechselt. Und jede halbe Stunde hatte Tony, ohne sich zu rühren, eine frische Zigarre verlangt.

Um zehn hatte Chisholm fragend zu Tony hinübergeblickt. Die Antwort Tonys bestand darin, daß er voll Unschuld zurückstarrte. Und in Pausen von da ab bis Mitternacht hatten Straker, Billings, Hotchkiss und Bell fragend nach dem schweigsamen jungen Mann hinübergeblickt. Er hatte diese Blicke treuherzig erwidert, aber es hatte sie nicht befriedigt. Dabei hatte er den ganzen vorangehenden Nachmittag über höchst beredt darüber gesprochen, wie leicht es sein würde, das Rätsel zu lösen.

Dies Rätsel war ganz gewiß Tonys eigenstes Fabrikat. Roy Terriss, der Verdächtige, war bisher nicht als Rätsel betrachtet worden, bis zu dem Zeitpunkt, wo Tony mit einigen wohlgesetzten Worten die Aufmerksamkeit seiner Clubfreunde auf die Tatsache lenkte, daß Roys Gewinne bemerkenswert dauerhaft blieben. Zuvor hatte man nur zugeben wollen, daß Roy im allgemeinen beim Bridge Erfolg hatte, ferner, daß er gerne hoch spielte, ohne daß das Spiel für ihn selber teuer wurde. Tony war es auch, der die Feststellung machte, daß Roys Gewinne während eines Winters gut und gern fünfstellig waren, und es war auch Tony, der ohne offen ausgesprochene Anklage seine Augenbrauen bedeutungsvoll emporgezogen hatte in Augenblicken, in denen eine solche Miene dem guten Ruf Roys nicht gerade förderlich war.

Nachdem er also das Rätsel in die Welt gesetzt, lud man ihn auch ein, es zu lösen. Mit Bescheidenheit, die ihm gut stand, hatte er sich der Aufgabe unterzogen und nach einer feierlichen Sitzung, die er fünf Stunden hindurch ausgehalten, den Wunsch ausgesprochen, einer zweiten Sitzung beizuwohnen. Nach Erfüllung dieses Wunsches hatte er verkündet, er wolle noch bei einer dritten Gelegenheit dabei sein. Das Resultat war bis jetzt peinlich gewesen für seine Freunde, die in unbestimmter Erwartung irgendeiner Enthüllung jede Vorsicht hatten fahren lassen und dabei von Terriss um große Summen gerupft worden waren. Dieser, der ja keine Ahnung hatte von dem Sturm, der gegen ihn brauste, hatte eiskalt und mit tödlicher Sicherheit weitergespielt.

Noch am heutigen Nachmittag hatte Chisholm Tony die Spielfehler erklärt, die ihm selbst unterliefen. »Ich spiele nach dem Herkommen«, hatte er ernst behauptet. »Ich halte mich an das Buch. Ich kenne die Regeln und mache keinen Versuch, sie verbessern zu wollen. Ich überbiete nicht; wenn aber der andere überreizt, kontriere ich unbedingt. Aber wenn ich damit rechnen muß, daß das Spiel in jeder Minute auffliegen kann, kann ich mich nicht konzentrieren und spiele nicht wie sonst.«

»Auch nicht, wenn ein Point zu fünfundzwanzig Cents gespielt wird?«

»Was gehen mich die fünfundzwanzig Cents für einen Point an, wenn ich darauf warte, daß du Roy Terriss entlarvst. Denk nur mal, was ich gestern nacht in der Hand hatte. Das hätte für drei Stiche gelangt. Ich bot aber fünf. So was hätte ich mir sonst nicht geleistet, wie? Darauf doppelte Terriss und das hätte auch jeder andere klarköpfige und vernünftige Spieler gemacht, der seine Karten gehabt hätte. Anstatt nun den Mund zu halten und meine Medizin artig zu schlucken, muß ich Esel rekontrieren. Jetzt sag mir einmal, Tony, benimmt sich so ein normaler Mensch? Hättest du gedacht, daß ich so irrsinnig spielen würde? Dann gelang mir kein Schnitt und ich fiel achthundert Punkte herunter.«

Tony lächelte erinnerungsschwer. »Das Spiel war äußerst lehrreich«, urteilte er. »Wenn du aber seine vier gedoppelt hättest anstatt selbst hinaufzugehen …«

Chisholm schnitt ihm grollend das Wort ab. Er erklärte ihm bündig: »Schau mal, wir haben dich nicht zum Spiel zugelassen, damit du uns Lektionen im Bridge gibst. Wenn wir Lektionen haben wollten, so könnten wir sie ungefähr zehnmal so billig bekommen, als diese Vorstellung uns kostet. Du hast gesagt, irgend etwas bei dem Spiele stimmte nicht. Das sollst du uns nur beweisen, weiter nichts.«

Zehn Stunden später, um zwei Uhr, mußte Chisholm noch immer auf diese Erleuchtung warten. Billings, der viel auf Kleidung hielt und ebenso peinlich auf Etikette, war zu seiner ständigen Verlegenheit an diesem dritten Abend dabei ertappt worden, daß er nicht Farbe bekannte. Die Strafe dafür hatte er prompt, geradezu zierlich erlegt; er hatte direkt darauf gedrungen, daß sie ihm aufgebrummt würde. Aber der Blick, den er zu Tony hinüberschickte, hatte beredter als alle Worte erklärt, wie er dazu gekommen war, diesen Fehltritt zu begehen. Auch Hotchkiss, der nervös in seinen Karten umherkramte, hatte verabsäumt, ein Bild mit dem anderen zu decken und der Posten, als man ihm seine Schuld ankreidete, wuchs enorm.

Und um zwei Uhr saßen sie alle da und warteten, warteten.

Der große, der so heiß herbeigesehnte Augenblick kam, als man sich dessen am wenigsten versah. Um zwei Uhr fünfzehn hatten die Männer das Spiel als hoffnungslos abgebrochen. Chisholm rechnete die Schulden zusammen. Seine Mitverschworenen hatten bereits ihre Scheckbücher geöffnet und Terriss wartete mit verschränkten Armen darauf, daß man ihm die genaue Summe nenne, die er gewonnen hatte.

Jetzt knipste Tony die Asche von seiner Zigarre und sprach: »Mr. Terriss ist wieder einmal der einzige, der gewinnt«, murmelte er wie zu sich selbst. »Ich bin eigentlich neugierig, was er zu der Behauptung sagen würde, seine Gewinnkarten seien markiert.«

In einem Nu war Terriss aufgestanden. »Was haben Sie da gesagt, Claghorn? – Was haben Sie gesagt?«

Tony stand massiv auf dem Boden seines Ausspruchs. »Ich machte die Feststellung«, erklärte er, »daß Sie mit markierten Karten gewonnen haben.« Er nahm die zwei Päckchen auf, die in dem Bridgespiel gebraucht worden waren und hielt sie in den Händen. »Diese Feststellung wiederhole ich.«

»Was, Sie …!!« schrie Terriss und sprang auf ihn zu.

Chisholm drängte sich mit seiner mächtigen Figur dazwischen.

»Immer mit Ruhe, Terriss«, schlug er vor. »Wir wissen alle, was hier los ist. Mr. Claghorn hat die Angelegenheit in unserem Auftrag untersucht.«

Terriss blickte sich die Gesichter rundherum an. »Was heißt das? Eine Verschwörung?« fragte er.

Chisholm schüttelte den Kopf. »Terriss, dazu kennen Sie uns doch wohl gut genug. Bell, Hotchkiss, Straker, Billings – sie alle können ihren Ruf nicht aufs Spiel setzen, gar nicht von mir zu reden. Wir haben Mr. Claghorn gebeten zur Untersuchung. Weiter nichts.«

»Und inwiefern ist Mr. Claghorn qualifiziert, in einer solchen Angelegenheit ein Urteil abzugeben? Welches Recht hat er, mich zu beschuldigen?«

Sie antworteten ihm alle auf einmal: Straker war einmal dabei gewesen, als Tony einen gewissen Schwarz bloßgestellt hatte. Billings, ein anderer Zeuge dieser Leistung, steuerte Einzelheiten bei, wie Tony in Palmbeach einen Kartenzinker erwischt hatte. Als dritter Zeuge hatte Chisholm an jedem Finger noch eine Geschichte. Durch solche vereinte Zeugenschaft trat klar zutage, daß Tonys Karriere bisher eine lange Kette von Triumphen gewesen war. Wo er gearbeitet, lag das Schlachtfeld voll entmutigter Betrüger, Taschenspieler und Hochstapler. Hatte man ihn einmal mit der Nase auf die Spur gesetzt, so hatte er unfehlbar jedesmal sein Opfer zur Strecke gebracht.

Mit geziemender Bescheidenheit hielt Tony seinen Kopf geneigt, während seine Freunde sich über seine Triumphe verbreiteten. Eigentlich nämlich mußte man jeden Sieg gänzlich einem gewissen Bill Parmelee zuschreiben, einem weiter nicht in den Vordergrund tretenden Landmann, dessen Bekanntschaft Tony während eines Sommers gemacht hatte. Tony hatte nicht nur einmal, sondern dutzendemal auseinandergesetzt, daß er selbst nur das Geringste beigetragen habe zu den verschiedenen Episoden, die inzwischen historisch geworden. Aber Tonys Erklärungen ermangelten augenscheinlich der Überzeugungskraft, denn seine Freunde fuhren fort, in alle vier Winde sein Lob auszutrompeten.

Daß sie den ruhigen jungen Mann, der die eigentliche Hauptrolle gespielt, vergaßen, ergab sich ganz natürlich. Es lag Parmelee, einem Ökonomen und bekehrten Spieler, nicht sonderlich viel an Reklame, und so hielt er sich lieber außer Sicht. Seine Lorbeeren sanken fast automatisch um das Haupt Tonys, der trotz seiner Proteste diese auferzwungene Hervorhebung durchaus nicht unangenehm empfand. Als Tony darauf aufmerksam wurde, mit welcher Eintönigkeit Terriss beim Bridge gewann und gewann, hatte er versucht, Parmelee für die Angelegenheit zu interessieren. Darin hatte er kein Glück. Parmelee, der Cincinnatus unter den Spielern, kümmerte sich mehr um sein Rassevieh als um neue Lorbeeren. Auch hatte er sich den Schlußfolgerungen Tonys nicht völlig angeschlossen.

»Wenn ein Mann immer gewinnt, Tony, so folgt noch lange nicht daraus, daß er beschummelt«, bedeutete er ihm.

»Nein; aber in diesem Fall …«

»In jedem Fall«, fiel ihm Parmelee ins Wort, »mußt du dir klar sein, daß auf jeden Dollar, den man mit unehrlichem Spiel gewinnt, wahrscheinlich tausend ehrlich gewonnene kommen.«

»Das glaubst du doch wohl selber nicht!«

»Ich weiß nicht. Aber es paßt mir ganz gut, daran zu glauben.«

Der Enthusiasmus Tonys wurde dadurch gedämpft, nicht aber gelöscht. Nachdem er die Sache überschlafen, blieb er bei der Überzeugung, er selbst sei durchaus sachverständig und Bills Vertrauen auf die menschliche Natur sei zum mindesten übertrieben. Deshalb hatte Tony sich selbst tapfer in die Bresche geworfen.

Über den Tisch hinüber lächelte er Terriss an, hatte er doch den Erfolg in der Tasche, und Erfolg schmeckt süß.

»Markierte Karten, Mr. Terriss«, wiederholte er, »markierte Karten!«

Terriss schaute sich die unbeweglichen Gesichter in der Runde an und seine Zuversicht schwand sichtbar dahin. Er gab nach und sagte: »Ich vermute, es würde ziemlich nutzlos sein für mich, zu behaupten, ich hätte nichts von der Markierung der Karten gewußt.«

»Absolut nutzlos«, sagte Tony.

»Ich habe ehrlich und fair gewonnen und das Spiel nach den Regeln gespielt.«

»Was hat es für einen Sinn, darüber zu debattieren?« erkundigte Straker sich eisig.

Hilflos wanderten die Blicke von Terriss umher. »Nein«, gab er zu. »Eine Debatte hat keinen Zweck, wenn Sie alle gegen mich sind. Was erwarten Sie jetzt von mir?«

»Den Schaden gutmachen.«

»Wie denn?«

»Zurückgeben, was Sie gewonnen.«

Terriss schnob durch die Nase. »Verdammt will ich sein, wenn ich das tue«, erklärte er.

»Wenn Sie das nicht tun«, sagte Chisholm, »gehen Sie Ihrer Mitgliedschaft in diesem Club verlustig.«

»Und wenn ich's tue«, forderte Terriss heraus. »Bleib ich dann Mitglied? Würden Sie ein solches Mitglied länger unter sich dulden wollen? Wenn ich wirklich meinen Gewinn zurückgebe: macht das überhaupt einen Unterschied? Bin nicht ich dann der einzig Leidtragende? Man hat mich beim Mogeln erwischt, nicht wahr? Das allein stempelt mich schon zum unerwünschten Mitglied. Selbstverständlich behaupte ich, ich habe ehrlich gespielt: Sie erwarten ja auch, daß ich das sage. Aber selbst wenn ich meinen Gewinn zurückgeben würde, glauben würden Sie es mir nicht.«

»Das wäre aber doch das Korrekte, Terriss«, sagte Straker ruhig.

»Was geht jemanden, der beim Mogeln ertappt ist, überhaupt noch Korrektheit an? Nein; wenn ich mich schon hängen lasse, so lasse ich mich schon lieber als Wolf hängen wie als Lamm.« Er nahm die Aufstellung zur Hand und verglich die Endsummen. »Meine Herren, Sie schulden mir Geld. Schreiben Sie Ihre Schecks.«

»Was?« Chisholm schnappte nach Luft.

»Sie haben verloren. Zahlen Sie.«

»Und die markierten Karten?«

»Und wenn schon. Wenn es markierte Karten gibt, dann haben Sie vielleicht schon selber davon profitiert. Beweisen Sie mir das Gegenteil.«

»Aber ich hab doch verloren!« stotterte Chisholm hervor.

»Nun, und? Wenn die Karten nicht markiert wären, so hätten Sie vielleicht noch mehr verloren. Das trifft auf uns alle zu.« Geschwellt von Selbstbewußtsein schenkte er den Spielern ein strahlendes Lächeln und wiederholte sanft seine Aufforderung: »Zahlen Sie mir! Wenn nicht, so verklage ich jeden einzelnen von Ihnen. Sie verstehen doch, ich hab nichts mehr dabei zu verlieren, ich hätte keinen Schaden davon, vor Gericht zu kommen. Aber wenn Sie meinen, Öffentlichkeit bedeutet eitel Spaß für Sie, und wenn Sie sich danach sehnen, Ihre Namen herzugeben als Schmuck und fette Schlagzeilen für die ersten Zeitungsseiten, so brauchen Sie nur zu probieren, sich um Ihre Schuld zu drücken.«

Hilflos wandten sich die Verschwörer an Tony. »Was rätst du uns zu tun?« war die einzige Frage.

Tony zuckte mit den Schultern. »Dies gehört nicht in meine Branche«, meinte er bescheiden.

Straker schickte einen scharfen Blick umher. »Möglicherweise blufft Terriss«, äußerte er munter.

Terriss grinste. »Wenn Sie das meinen, warum decken Sie dann meinen Bluff nicht auf?«

Eine Pause entstand. Dann ergriff Billings seinen Füllfederhalter und kritzelte einen Scheck. »Da«, sagte er ungnädig. »Ich hab 'ne Frau und zwei Töchter. Ich kann es mir nicht leisten, in einen Skandal hineingezogen zu werden.«

»Sehen Sie?« sagte Terriss. »Ich wußte doch, ich brauch es Ihnen nur zu erklären, dann würden Sie schon merken, worauf es ankommt.«

Nacheinander schrieben die Männer ihre Schecks aus und gaben sie dem einzigen Gewinner. Er steckte sie sorgfältig ein, erhob sich und besah sich noch einmal die dasitzenden Verschwörer. »Meine Herren«, murmelte er, »ich verlasse Sie jetzt und kehre zu meiner einfachen, aber ehrlichen Wohnstätte zurück. Eine letzte Bitte habe ich aber noch an Sie: Erzählen Sie keinem Menschen, was heute nacht in diesem Zimmer passiert ist. Lassen Sie sich auch Ihren besten Freunden gegenüber kein Wörtchen entschlüpfen.«

Hier lachte Straker laut heraus. »Was nicht gar!« meckerte er. »Sieh mal an! Ich werde es mir zur Aufgabe machen, dafür zu sorgen, daß in diesem Club jeder Mensch innerhalb von vierundzwanzig Stunden haargenau erfährt, was vor sich gegangen ist!«

Terriss lächelte bedeutungsvoll. »Wenn das der Fall ist, Straker«, warnte er ihn, »dann stellen Sie sich nicht überrascht, wenn ich Sie wegen übler Nachrede verklage.«

»Was?«

»Jeden einzelnen von Ihnen.« An der Schwelle hielt er an. »Ich kann Sie zwar nicht verhindern, meinen Ruf zwischen Ihnen selbst durch den Dreck zu ziehen. Sie haben das ja sowieso schon ganz nett besorgt. Aber wenn ich höre, daß einer von Ihnen auch nur ein Wort außerhalb dieses Zimmers gegen mich geäußert hat, schlag ich zurück. Das tu ich, bei Gott. Und ich schlag hart zurück. Markierte Karten! Wer hat sie denn in das Spiel hereingebracht? Wer hat denn davon profitiert? Oder wer hat nicht davon profitiert?« Ein spöttisches Lächeln kräuselte seine Lippen, während er die Tür öffnete. »Denken Sie darüber nach, meine Herren! Bevor Sie irgend was unternehmen, bedenken Sie das … Und dann tun Sie es nicht!«

Die Klinke schnappte ein, und er war weg.

Billings brach zuerst das peinliche Schweigen mit einem Monolog: »Wenn wir noch einen solchen Sieg gewinnen, sind wir alle pleite. Was sollen wir jetzt machen, Claghorn?«

Aber dieser Ehrenmann, der sich nur noch aufhielt, um eine frische Zigarre anzustecken, zog sich vorsichtig auf die Schwelle zurück.

»Was machen wir jetzt, Claghorn?« echote Hotchkiss.

Tony zuckte die Schultern. »Das schlägt nicht in meine Branche«, sagte er noch einmal bescheiden.

Noch lange, lange, nachdem er sie verlassen, saßen die Verschwörer um den Tisch, verglichen ihre Notizen, gaben sich Ratschläge und trösteten einander über ihr Pech. Aber mag das auch an sich interessant sein, mit unserer Geschichte hat das nichts mehr zu tun.

II

Eine Sache läßt sich immer von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten. Ein wirklich neutraler Beurteiler würde z. B. vielleicht zögern, die Episode, von der wir gerade berichtet haben, als einen Triumph Tonys zu bezeichnen. Aber dieser selbst sprach davon als von einem unzweifelhaften Triumph. Er hatte sich vorgenommen, einen Falschspieler zu entlarven, und hatte Erfolg gehabt. Die enormen Kosten, mit denen seine Freunde diese Maßnahme bezahlt hatten, fielen lange nicht so sehr ins Gewicht als die Tatsache, daß er sein Ziel erreicht. Tatsächlich gebrauchte Tony keinen noch stärkeren Ausdruck als: »Triumph«, einfach weil ihm kein stärkerer einfiel.

Seiner hübschen Frau erzählte er mit Genuß von seiner Leistung. Zwar verstand sie nichts von Karten, aber Tony wollte bewundert werden, und ihre Bewunderung war immer noch besser als keine. Woran ihm aber am meisten lag, war ein Lob von Bill Parmelee, und danach sehnte Tony sich geradezu. Hatte er doch mindestens sechsmal verblüfft zusehen müssen bei den seltsamen Schachzügen, mit denen Bill die Grundlagen zu seinen vielen Siegen gelegt. Es war Tony nichts übrig geblieben, als zuzugucken, sich zu wundern und bei der Beendigung jeder sorgfältig durchdachten Operation Beifall zu spenden. Diesmal aber, fühlte Tony mit der ihm eigenen Bescheidenheit, hatten die Rollen gewechselt. Ohne daß ihm sein Freund half und ganz auf eigene Faust hatte er, Tony, seine stramme Attacke siegreich geritten. Es war nun an Bill, lauschen zu müssen, indes Tony sich zu Erklärungen herabließ. Sich das vorzustellen, war schon ein großes Vergnügen, und Tony begab sich schleunigst nach der Kleinstadt, wo Parmelee zurückgezogen lebte.

»Ich war überzeugt, irgend was stimmte nicht«, fing Tony pompös an, »schon lange, lange vorher war ich davon überzeugt.«

»So? Das warst du trotz meiner Einwendung?« erkundigte sich Bill.

»Was hattest du denn gesagt?« fragte Tony tolerant.

»Ich versuchte dich zu überzeugen, ein Mann könne gewinnen auch ohne zu mogeln.«

»O ja; ich erinnere mich.«

»Ich sagte: auf jeden Dollar, den man unehrlich gewinnt, kämen Tausende, die ehrlich gewonnen werden.«

»Auch das weiß ich noch«, gab Tony zu und steckte sich eine Zigarre an. »Aber übertreibst du nicht deinen Glauben an die Menschennatur? In diesem Fall brach der Verdächtige (seinen Namen sag ich dir lieber nicht) einfach zusammen und gestand alles.«

»Hm«, sagte Bill. »Erzähl nur weiter.«

»Ich untersuchte den Fall gründlich. Ich benutzte die Ausschaltungsmethode. Das Spiel war Bridge. Gewisse Sorten von Mogelei waren deshalb aussichtslos.«

»Sehr richtig.«

»Eine ›Volte‹ zum Beispiel hätte keinen Wert gehabt«, sagte Tony und fuhr fort, dem gleichen Mann, der ihn doch eigentlich in die Geheimnisse dieser Methode eingeführt hatte, die Natur einer solchen ›Volte‹ zu erklären. »Wenn ich sage: ›Volte‹«, erklärte er gnädigst aus freien Stücken, »meine ich die Methode, mit der man bezweckt, eine oder mehr Karten versteckt zu halten, bis der Spieler sie in seinem eigenen Blatt brauchen kann.«

Auf Bills friedlichen Zügen malte sich nicht die Spur eines Lächelns. Er murmelte: »Ich habe läuten hören, daß es solche Methoden gibt.«

»Ganz richtig. Aber wie ich dir schon erklärt habe, konnte der Verdächtige so eine Methode unmöglich anwenden. Er hätte nämlich dabei eine dreiundfünfzigste Karte in ein komplettes Pack Karten hineinschmuggeln müssen, und das hätte sofortige Entdeckung zur Folge gehabt. Verstehst du: wenn der Verdächtige sich selbst ein fünftes As zugeschanzt hätte, wäre unausweichlich das Duplikat dieses Asses bei jemand anderem aufgetaucht. Immer, wenn alle Karten ausgeteilt werden, wird eine ›Volte‹ wertlos.«

Bill starrte nachdenklich auf den Teppich. Dann schob er ein: »Doch nicht ganz wertlos.«

»Absolut wertlos«, beharrte Tony.

»Teilt man selber aus, so könnte man eine ›Volte‹ schon verwenden«, murmelte Bill wie im Selbstgespräch. »Der Verdächtige könnte alle vier Asse und vier Könige ebenso in eine ›Volte‹ hineintun, sie dann zurückhalten, wenn abgehoben wird, und sie beim Austeilen in das eigene Blatt zurückgleiten lassen.«

»Was?« keuchte Tony.

Bill fuhr voll Gemütsruhe fort: »Das wäre natürlich ziemlich primitiv. Nur ein Anfänger würde probieren, mit so etwas durchzukommen. Ein wirklich scharfer Spieler würde beim Bridge die obersten Karten ins Blatt seines Spielpartners hineinschmuggeln. Dieser Spielpartner brauchte deswegen durchaus kein Komplice zu sein. Gesetzt den Fall, er hat mehr Asse und Könige, als ihm zukommt, so wird er ein ›Ohne Trumpf‹ ansagen, nicht wahr? In aller Unschuld würde er richtig ansagen. Der Falschspieler, der ihm gegenübersitzt, brauchte ihm nur die entsprechenden Karten zukommen zu lassen.«

»Donnerwetter!« rief Tony aus. »Der Gedanke ist mir allerdings noch nie gekommen!«

»Es gibt noch andere Methoden, wie man eine ›Volte‹ ausnutzen könnte, ohne dadurch zu riskieren, daß eine von den zweiundfünfzig Karten im Spiel doppelt kommt. Aber darüber brauch ich mich jetzt nicht zu verbreiten. Erzähl weiter.«

Tony fuhr fort; stark gedämpft durch die Tatsache, daß der Wind ihm aus den Segeln genommen war: »Ob ich nun recht hatte oder nicht: ich war überzeugt, der Verdächtige manipuliere mit keiner ›Volte‹. Oder glaubst du doch, Bill?« fügte er ängstlich bei.

»Nein.«

»Ich schaltete also die Möglichkeiten weiter aus. Es gibt viele Mogelmethoden, aber im Bridge lassen sich die meisten nicht verwenden. Eine ist aber sehr nützlich bei jedem Kartenspiel.« Er machte eine Pause und deutete mit seinem langen Zeigefinger auf den Freund. »Ich meine damit natürlich markierte Karten.«

»Aha!«

»Ich hatte die Karten sehr sorgfältig untersucht. Sie waren nicht markiert, aber ich riskierte es und wagte einen frechen Bluff. Das wirkte. Ich zog das Fazit aus allem, was ich argwöhnte, und schmiß es kaltschnäuzig auf den Tisch.«

»Drücke dich nicht geschwollen aus. Erzähl mir, was passierte.«

»Ich suchte mir das psychologische Moment heraus. Das habe ich von jeher gut verstanden. Mit eiserner Stirn beschuldigte ich den Verdächtigen, er brauche markierte Karten. Ich wußte dabei ganz gut, daß es nicht der Fall war. Hier« – und Tony zog die Karten eigenhändig aus seinen geräumigen Taschen – »hier sind sie. Nicht markiert. Aber ich versteh mich auf die menschliche Natur, und ich fühlte, der Mogler werde bestimmt klein beigeben, wenn ich ihn beschuldige. Ob ich nun die genaue Methode dabei zur Sprache brachte, war einerlei. Die Beschuldigung würde genügen.«

»Und hat sie genügt?«

»Absolut. Der Verdächtige schwieg, und Schweigen bedeutet Geständnis.«

Bill lächelte. »Wahrhaftig?« fragte er. »Wenn das der Fall ist, so braucht ja ein Mann nur zu schlafen, damit man sagt, er gesteht.«

»Der Verdächtige wußte, daß es aus sei.«

»Vielleicht spürte er, du hättest zu viel Waffen gegen ihn. Er glaubte vielleicht, es hätte keinen Sinn, seine Unschuld beweisen zu wollen, wenn von seiten deiner Freunde ein so dickes Vorurteil gegen ihn bestand.«

»Aber ich habe ausdrücklich dem Verdächtigen alle erdenkliche Möglichkeit gegeben zur Verteidigung.«

»Warum nennst du eigentlich seinen Namen nicht? Roy Terriss?«

»Wie hast du denn das herausgebracht?« fragte Tony verblüfft.

»Einerlei. Weiter.«

Aber Tony war immer noch zu erstaunt um fortzufahren. »Wie in aller Welt hast du das herausgebracht?«

Bill schüttelte den Kopf. »Wir wollen das im Augenblick nicht untersuchen. Beendige deine Geschichte.«

Noch immer starrte Tony seinen Freund an. Auf diesen Moment des Triumphes hatte er sich so gefreut. Aber nun blieb die Genugtuung aus, von der er sich so viel versprochen. Mit bebender Hand strich er sich über die Stirn. »Vielleicht kannst du selber die Geschichte zu Ende erzählen, Bill?«

»Vielleicht kann ich das. Terriss gestand nichts. Terriss stellte auch nichts in Abrede. Er weigerte sich, seinen Gewinn herauszurücken. Damit zeigte er Mut, und dafür bewundere ich ihn. Er wußte, er habe keine Möglichkeit, sich rein zu waschen. Er beschloß, auf eine bessere Gelegenheit zu warten.«

Tony nickte widerstrebend. »Das ist zum größten Teil richtig«, bestätigte er zögernd.

»Du hast Terriss beschuldigt, mit markierten Karten zu spielen. Er antwortete, wenn das so wäre, so hätte er keinen Nutzen davon gehabt. Er fügte noch hinzu, was schließlich eine logische Schlußfolgerung war: ›Deine Freunde hätten ja ebensogut von diesen markierten Karten profitieren können‹.«

»Das ist auf den ersten Blick schon absurd«, meinte Tony. »Die Karten sind ja nicht markiert.«

Bills Gesicht wurde streng. »Durchaus nicht absurd. Die Karten sind markiert.«

III

Gebraucht man das Wort »Überraschung«, so ist es damit oft unmöglich, einen Gemütszustand zu beschreiben. Hätte man in einigermaßen korrekten Ausdrücken schildern wollen, wie Tony nach diesem Ausspruch seines Freundes sich vorkam, so wäre es nötig gewesen, das Sprachenlexikon zu überarbeiten und wesentlich zu erweitern.

Tony starrte mit hervorquellenden Augen Bill an, öffnete zwei- oder dreimal den Mund, leckte sich die Lippen und stotterte dann: » Was hast du gesagt?«

»Ich sagte«, wiederholte Bill, »daß diese Karten markiert sind.«

»Aber das ist doch unmöglich!« explodierte nun Tony. »Begreifst du nicht? Darin beruhte ja gerade die Eleganz meines Bluffs, daß die Karten in Ordnung waren, daß ich ihn aber glauben machte, etwas an ihnen stimme nicht.«

Bill lächelte grimmig: »'s gibt manchmal einen Bluff, der gar keiner ist. Manchmal schießt ein Mann im Dunkeln und trifft das Stierauge. Manchmal sagt auch ein wohlmeinender Dummkopf wie du, Tony, die Wahrheit, wenn er es selbst am allerwenigsten für möglich hält.«

»Aber es ist unmöglich! Ich habe die Karten mit einem Vergrößerungsglas untersucht. Nicht einmal habe ich sie geprüft, sondern dutzende Male. Nichts, gar nichts habe ich gefunden!«

»Weil du noch nicht gewußt hast, wonach du eigentlich suchen müßtest.« Bill breitete ein Dutzend Karten auf einem bequemen Tisch aus. »Erstens mal haben die Karten ein ungewöhnliches Muster. Bemerkst du die zwei kleinen Engel in der Mitte? Deshalb heißen die Karten allgemein ›Engelsrücken‹!«

»Das sind aber die Karten, die der Club führt.«

»Daran zweifle ich nicht.«

»In den letzten acht Monaten hat man im Himalaja-Club keine anderen Karten benutzt.«

»Na, und diese hier?« Bill breitete von einem zweiten Päckchen ein Dutzend Karten auf dem Tisch aus.

Tony gab sich gar keine Mühe, die Karten genau zu betrachten; sie waren mit einem ganz gewöhnlichen geometrischen Muster geschmückt. »Ach, die da? Das sind zweitklassige Karten, die der Club sich als Reserve zulegte, als die besseren auszugehen begannen.«

»Mit den besseren meinst du doch die Engelsrücken?«

»Natürlich. In einer Minute wirst du das begreifen.«

Bill schloß seine Augen und gab sich der Erinnerung hin.

»Als ich anfing, vom Spiel zu leben und gerade das Drum und Dran lernte, kamen die Engelsrücken ziemlich häufig vor. Es waren gute Karten, zwar teuer, aber sie waren's wert. Allmählich kam man von ihrem Gebrauch ab und benutzte stattdessen billigere Karten. Heutzutage ist die Qualität einerlei, nur auf den Preis kommt es an; tatsächlich ist dies Päckchen Engelsrücken das erste, das ich seit einigen Jahren zu Gesicht bekomme. Ich stand unter dem Eindruck, sie würden nicht mehr fabriziert.«

Tony konnte seine Ungeduld kaum mehr bezwingen.

»Komm wieder zum eigentlichen Thema zurück, Bill«, bat er. »Du sagtest, die Karten wären markiert. Welches Päckchen, und wie sind sie denn markiert?«

»Ich rede natürlich von den Engelsrücken. Schau dir die Engel mal ganz genau an.«

»Ich kann nichts sehen.«

Bill lächelte. »Dieser Engel zum Beispiel muß im Schmutz marschiert sein. Sein rechter Fuß ist nicht ganz so sauber, wie er es sein könnte.«

»Was hat das schon zu sagen?«

»Dieser andere Engel hat offenbar seine rechte Hand in den Schmutz gesteckt. Du siehst, sie ist schmutzig. Dieser dritte hat darin gekniet: da ist was an seinem Knie, und dieser vierte muß einen Purzelbaum geschlagen haben; seine Gesichtsfarbe, sieh mal her, ist zweifellos etwas südlich ausgefallen.«

»Großer Gott!« rief Tony aus.

»Wenn du das Päckchen Karte für Karte untersuchst«, schlug Bill vor, »wirst du finden, daß kein einziger Engel drin ist, der nicht ein Bad nötig hätte. Du wirst finden (zweifellos schierer Zufall, was?), daß die Könige an der rechten Schulter bezeichnet sind, die Königinnen an der linken, die Buben an der Hüfte, und so im ganzen Päckchen. Die Engel sind klein; die Markierungen deshalb noch winziger; wenn du aber Bescheid weißt, springen sie dir ganz hübsch ins Auge.«

Wortlos zückte Tony sein Vergrößerungsglas und beugte sich über die Karten. »Du hast recht!« sagte er aufgeregt. »Du hast recht. Das bedeutet aber in meinem Fall einen wunderbaren Beweis.«

»Was meinst du damit?«

»Terriss benutzte markierte Karten. Also hab ich mit meinem Alarmschuß doch ins Schwarze getroffen. Terriss markierte die Karten, während das Spiel lief.«

»So feinfingerig und genau soll er sie beim Spiel markieren? Tony, das glaubst du selber nicht!«

»Aber man kann, während das Spiel vor sich geht, die Karten markieren.«

»Jawohl: mit einem Nadelstich oder mit einem Farbfleckchen. Aber kann man sie so markieren, wie in diesem Fall? Einen winzigen Punkt auf jeder Rückenseite heraussuchen und ihn so sauber betupfen, wie diese hier betupft sind? Dazu braucht man Zeit, Geschicklichkeit und Ungestörtheit. Der Mann, der diese Karten markiert hat, tat das auf seinem Zimmer.«

»Du meinst also, Terriss hat das markierte Päckchen mit sich gebracht und es mit dem ausgetauscht, das wir gerade benutzen?«

»Das ist unwahrscheinlich.«

»Warum? Möglich wäre das gewesen.«

»Sehr unwahrscheinlich. Du siehst hier ja, daß jede einzelne Karte im Päckchen markiert ist und nicht nur die hohen Karten.«

»Was willst du damit sagen?«

»Was wäre beim Bridge zum Beispiel der Zweck? Die rassigsten Spieler rechnen höchstens bis zu den Siebenern und Achtern hinunter. Aber gegen einen Dreier zum Beispiel schneiden zu wollen, damit hat sich noch niemand abgegeben. Auch nicht mit Vierern oder Fünfern. Nur ein Verrückter würde sich die Mühe machen und das Risiko auf sich nehmen, so niedere Karten zu markieren.«

Tony zog seine Brauen zusammen. »Vielleicht«, riet er, »war der Mann darauf aus, die Sache gründlich zu machen. Nachdem er einmal beim Markieren war, hat er gleich auch alles markiert.«

Bill schüttelte mit Entschiedenheit den Kopf. »Falsch, falsch, Tony. Ganz falsch. Ein Anfänger hätte das vielleicht getan (beim ersten Versuch hättest auch du das gemacht), aber der Mann, den wir erwischen wollen, ist vom Fach – wenn ich überhaupt was vom Spiel und Spielern weiß! Sieh dir doch diese schöne Arbeit an! Wie prachtvoll seine Schattierung sich mit der Farbe der Rückseite deckt! Bedenke auch, er hat seinen guten Grund gehabt, wenn er auch die Zweier und Dreier markierte.«

Tony zuckte die Schultern. »Was er auch für einen Grund hatte, ich kann die Wichtigkeit von dieser Gründlichkeit nicht einsehen.«

Aber Bill hatte das Kursbuch bereits aufgeschlagen. »Der nächste Stadtzug geht in vierzig Minuten«, ließ er fallen. »Ich packe jetzt meinen Koffer.«

Tony glotzte ihn erstaunt an. »Fährst du in die Stadt, nur weil die Zweier und Dreier markiert sind? Da muß ich wirklich sagen, du übertreibst die Wichtigkeit ein wenig.«

»Dies kann man gar nicht wichtig genug nehmen«, sagte Bill. Er erhob sich und sah seinem Freund scharf ins Auge. »Vor allem beweist es, daß Roy Terriss unschuldig ist.«

»Wieso denn?«

»Man hat mir erzählt, daß er ausschließlich nur Bridge spielt.«

»Das stimmt.«

»Gut, der Mann, der diese Karten markiert hat, hatte sich gar nicht vorgenommen, Bridge zu spielen. Hier kommt Punkt zwei, Tony. Dieser Mann hat die Kleinen nicht vernachlässigt, weil er einen ganz gesunden Grund dafür hatte.«

»Und was für einen Grund?« forschte Tony aufgebracht.

Bill öffnete seinen Handkoffer und begann Kleidungsstücke hineinzustopfen. Mehrmals lächelte er, öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Endlich ließ er sich zur Erklärung herbei. »Ist dir diese Idee überhaupt noch nicht gekommen, Tony? Der Mann, der diese Karten markiert hat, hatte sich vorgenommen, Poker zu spielen!«

IV

Bei jeder früheren Gelegenheit, wo Parmelee ihn zur Stadt begleitet, war Tony voll erwartungsvoller Freude gewesen. Unterschiedslos hatte das bedeutet, daß es ernst wurde mit der Menschenjagd; daß eine Verfolgung stattfand, die unfehlbar mit der Bloßstellung des Schuldigen endete. Früher hatte Tony immer eine freudevolle Sensation nach der anderen erlebt. Als bevorzugter Zuschauer wußte er genug von dem Vorgang, um seine Neugier aufs äußerste anzuspannen; und ganz am Schluß kam dann die Überraschung, weil er Bill doch nicht bis zum letzten Ende durchschauen konnte. Dutzende von Malen durfte er Parmelee beobachten, wie dieser wie ein gutgezogener Bluthund die Spur aufnahm, wie diese folgerichtig abrollte wie ein Garn, unter Hilfeleistung der anderen, und wie er ihr dann folgte, bis die Entlarvung geschah. Tony hatte voll neugieriger Bewunderung dabei gesessen; hier war wirklich was los, und heiß vom Rost wurde ihm das Drama in appetitanregendster Aufmachung serviert. Der Clubmann, dessen hauptsächlichstes Vergnügen in früheren Tagen darin bestanden hatte, die sensationellen Artikelüberschriften von Zeitungen zu genießen, war dahinter gekommen, daß ein Nervenkitzel aus erster Hand Dutzende von denen wert war, die man nur in Druckerschwärze erlebt. Das hatte man früher alles recht genossen. Bei dieser jetzigen Gelegenheit hatte Tony aber keine solchen angenehmen Empfindungen.

Im Zug starrte er melancholisch aus dem Fenster und gab sich traurigen Grübeleien hin. Die Karten waren markiert gewesen; und Terriss war nicht der Schuldige. Tony mußte zugeben, daß diese beiden Tatsachen klar waren wie Kristall. Und wie die Nacht dem Tage folgt, so folgte daraus, daß der Delinquent einer von seinen speziellen Freundchen sein mußte: Chisholm, Billings, Hotchkiss, Bell oder Straker. Während die Räder vorwärts stampften, nahm er sich in Gedanken einen nach dem anderen vor. Zwar, mußte er denken, war Menschenjagd der höchste Sport; sie wurde aber unschmackhaft, wenn das voraussichtliche Opfer sich unter den nächsten Freunden befand.

Nach einer halben Stunde wandte er sich endlich zu dem stillen Landmann an seiner Seite. »Bill«? wagte er tastend zu fragen, »ich vermute, wenn du nach der Stadt kommst, wirst du zum Himalajaclub gehen wollen.«

»Du vermutest richtig.«

»Das ist aber nicht nötig, weißt du.«

»Warum nicht?«

»Um offen zu sein: ich habe dich nicht gebeten, die Untersuchung selber zu führen.«

»Alles in Ordnung, alter Junge«, erwiderte Bill herzlichen Tones; »ich hab auch nicht darauf gewartet, daß du mich bittest.«

Die Stimme Tonys enthielt sanften Vorwurf: »Glaubst du nicht, es wäre besser, du wartest, bis man dich bittet?«

Bill lachte. »Du willst vermutlich damit sagen, daß ich mich hier unberufen hineinmische …«

»Das will ich nicht gerade damit sagen.«

»Es ist aber deine eigentliche Meinung.« Er sah ihn schlau an. »Tony, alter Junge, du hast im Dunkeln geschossen und den falschen Mann dabei getroffen. Du hast Roy Terriss als schuftigen Falschspieler gebrandmarkt, als Mogler, als Dieb, als jemanden, der nicht in anständige Gesellschaft gehört. Und unter diesem Verdacht willst du ihn nun ruhig sitzen lassen.«

»Nein, nein, auf keinen Fall«, begann Tony geschwätzig loszulegen, »das will ich durchaus nicht damit sagen …«

»Selbstverständlich; du bist ja auch zu anständig und denkst zu billig, um irgend was Derartiges zu dulden. Dein Wunsch geht natürlich dahin, daß Terriss seinen guten Ruf im Triumph wieder zurückerstattet bekommt. Nur hast du ziemliche Angst davor, daß ich einem deiner besten Freunde den Vorwurf anhängen werde. Stimmt das?«

Tony nickte, Bill grinste. »Das könnte zweifellos passieren. Ich stell es nicht in Abrede. Wenn ich weiter nichts vorhätte, als einen Mann hereinzulegen, und es wäre mir einerlei, wie ich's machte, so könnte ich wohl jeden von deinen Freunden beschuldigen … oder auch, was das anlangt, sogar dich selber!«

»Was? Mich?« schnappte Tony.

»Das wäre möglich. Wie bist du in den Besitz dieser markierten Karten gekommen?«

»Nun, ich hab sie eben vom Tisch genommen.«

»Wie kamen sie aber dorthin? Was weiß ich? Vielleicht hast du sie selbst markiert? Vielleicht hast du dich mit deinen Freunden verabredet, Terriss auszuplündern?«

Es war nun an Tony zu grinsen. »Dabei haben wir verloren.«

»An Terriss, das kann sein. Aber in der vorhergehenden Nacht hat dieselbe Gesellschaft ziemlich hoch gewonnen, und da war jemand anders das Opfer, nicht wahr?«

»Woher weißt du denn das schon wieder?«

»Macht nichts. Ich weiß es eben. Ich will dir nur damit zeigen, wie leicht es wäre, eins von euren Opfern ausfindig zu machen, wenn ich nicht ganz andere Absichten hätte. Du mit deinen Freunden habt Dreck angerührt, und ihr könnt keinen Dreck anrühren, ohne euch zu besudeln.«

In Tonys Kopf ging alles durcheinander. »Dann meinst du also wirklich, der Schuldige säße unter uns, oder ich sei es vielleicht gar selber?«

Bill lachte. »Ich will dich beruhigen, denn es wird dich doch beruhigen, wenn ich dir ein Geheimnis enthülle und dir mitteile, daß ich keinen von euch in Verdacht habe. Auch dich nicht.«

Tony fühlte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. »Das ist also wirklich deine Ansicht!« schrie er.

»Du mußt bedenken, wir sind hinter einem professionellen Falschspieler her. An diese Tatsache mußt du dich anklammern. Es bleibt dir nichts anderes übrig; sonst gerätst du selbst auf die Rutschbahn des Verdachtes. Du hast solche Besorgnis wegen deiner Freunde geäußert, daß du ganz und gar dabei übersehen hast, welchen Verdacht jemand anderes erregen könnte.«

»Wer denn?«

Bill lächelte über die Bestürzung seines Freundes. »Tony Claghorn ist soviel in meiner Gesellschaft gewesen, daß er über Schummelmethoden alles aus erster Hand erfahren hat. Wie kann man denn wissen, ob er diese Kenntnis nicht selbst verwertet hat? Wie kann man's denn wissen, ob er nicht versucht hat, Theorie in Praxis umzusetzen? Das könnte ganz profitabel für ihn sein und möglicherweise käme er auch gut dabei weg. Nein, Tony«, schloß Bill, »was Terriss anlangt, so ist er zuverlässig. Wir müssen uns jetzt ein bißchen um Tony Claghorn selber kümmern. Und wenn ich in die Stadt fahre, so tu ich's nur, weil ich eine Möglichkeit sehe, seine Haut zu retten.«

Tony war so völlig vom Donner gerührt, daß er für den Rest der Fahrt schweigsam blieb.

V

Als die beiden im Himalajaclub eintraten, war es in den Zwischenstunden. Die regelmäßigen Besucher, die täglich in der Speisehalle ihr Mittagessen zu sich nahmen, waren schon weggegangen, und die noch pünktlicheren Mitglieder, die vom späten Nachmittag bis zum frühen Morgen im Spielzimmer sich Lektionen in Hazard erteilten, waren noch nicht da.

»Gehen wir jetzt lieber und kommen erst später«, sagte Tony.

Bill setzte sich an einen Tisch. »Warum sollen wir nicht hier warten? Hättest du nicht Lust, Tony, zwischendurch ein Spielchen zu machen?«

Tony blickte seinen Freund argwöhnisch an. »Wie hoch?«

»Wozu um einen Einsatz? Wir wollen einmal um nichts spielen, nur so zum Spaß.«

Tony erklärte sich zögernd einverstanden; sonst war er höchst vertrauensvoll seinen Freunden gegenüber eingestellt, aber sein Erlebnis in der Bahn hatte sein Gleichgewicht bedenklich erschüttert. War er doch selber unter Verdacht. Was Bill nun tat, konnte ihm stets gefährlich werden. In der harmlosesten Form konnte das Unheil hereinbrechen über ihn, ohne daß er es rechtzeitig begriff. Auffallend wenig begeistert von dem Vorschlag, setzte auch er sich an den Tisch und klingelte nach Karten.

Bill guckte die Hülle an, aber er machte sie nicht auf. »Für diese Karten habe ich nichts übrig«, verkündete er. »Können wir nicht einige Engelsrücken haben?«

»Ich will mal nachsehen, Herr«, sagte der Clubdiener.

Tonys Verdacht regte sich doppelt stark. »Was hast du denn gegen diese Karten?«

»Ich hab lieber eine bessere Qualität«, behauptete der Landmann. Seine Augen glänzten, als der Kellner mit einem Päckchen zurückkam, das das gewünschte Muster trug. Er erbrach das Siegel, öffnete die Hülle und spreizte die Karten gedankenvoll auseinander. Tony fragte: »Du magst also diese lieber?«

»Sehr viel lieber. Sehr viel lieber.« Bill teilte die Karten verdeckt aus, mit erstaunlicher Fixigkeit. »Herzkönig. Caro zwei. Herz acht. Pique As. Treff drei. Pique sieben. Herz zehn. Treff sieben. Herz fünf. Herz sieben.«

»Nanu?« fragte Tony: »Taschenspielerei?«

Bill zuckte die Schultern. »Nenne es, wie du willst, aber wenn du unter deine Karten guckst, so wirst du finden, daß du einen Flush in vier Herzen hast. Beim Kaufen bekommst du noch mehr dazu. Die oberste Karte ist noch ein Herz.«

Tony schnappte nach Luft. »Und was liegt bei dir?«

»Nur ›Triplets‹; nichts wie ›Triplets‹«, lächelte Bill; »drei Siebener.«

»Und beim Kaufen werden es vier von einer Sorte?«

»Das wär denn doch zu einfach, alter Junge. Man brauchte ja nur eine ›Full‹. Das sticht deinen Flush.«

Tony brach in lärmendes Gelächter aus. »Jetzt begreif ich's«, schrie er. »Natürlich begreif ich's jetzt.«

»Was begreifst du?«

»Du hast die Karten zusammengesteckt!«

»Das liegt so ziemlich auf der Hand.«

»Und das Einordnen war gar nicht so schwierig, weil du das markierte Päckchen, was ich dir mitgebracht hatte, ausgetauscht hast gegen das, was der Kellner dir gerade gebracht hat!«

»Wirklich?« forderte ihn Bill heraus.

»Diese Karten sind ja markiert!«

»Gebe ich zu.«

»Dann müssen sie doch aber das gleiche Päckchen sein, wenn nicht …«

»Sag es nur heraus.«

Tonys Stimme sank und kalter Schweiß brach plötzlich aus seiner Stirn hervor. »… Wenn nicht jedes Päckchen mit Engelsrücken im Club markiert ist!«

Bill lächelte. »Das will ich ja gerade herausfinden. Vielleicht sind sie alle (sollen wir sie so nennen?) ›Gefallene Engel‹.«

Wortlos klingelte Tony dem Kellner. »Wir wollen noch ein oder zwei Päckchen mehr von Engelsrücken haben«, schnappte er.

Der Kellner schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Herr, das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Die Engelsrücken sind uns schon so ziemlich ausgegangen; die Mitglieder ziehen sie allen anderen Karten vor. Die Qualität ist auch besser. Der Aufseher wies mich an, einer einzelnen Spielergruppe nicht mehr als ein Päckchen herauszugeben.«

Tony zog eine Banknote aus der Tasche. »Ich will zwei Päckchen Engelsrücken, verstehen Sie?«

»Ich will mein Möglichstes tun«, sagte der Kellner. In ein paar Minuten war er zurück mit einem einzelnen Päckchen. »Ich konnte Ihnen keine zwei verschaffen«, entschuldigte er sich. »Es sind keine zwölf Dutzend mehr vorhanden. Ich halte mich schon hiermit nicht an meine Order, Herr.«

Schweigend überreichte Tony das uneröffnete Päckchen seinem Freund. »Mach es auf, Bill.«

Parmelee legte die Hände auf den Rücken. »Mach es selber auf, sonst sagst du vielleicht wieder, ich hätte es ausgetauscht.«

Wortlos brach Tony das Siegel, stellte die Hülle auf den Kopf und ließ die Karten auf den Tisch gleiten.

»Nun?« fragte Bill.

»Markiert! Jede einzelne verdammte Karte!«

»Gefallene Engel!« murmelte Parmelee. »Glaubst du nicht, Tony, wir könnten uns einmal mit dem Aufseher unterhalten?«

Tony ballte die Fäuste. »Wenn er der Mann ist, der sie markiert hat, so sorg ich dafür, daß er in zehn Minuten hinausgeschmissen wird.«

»Warum regst du dich so auf«, beruhigte ihn Bill. »Was würde denn der Aufseher durch so eine raffinierte Sache schon profitieren? Er ist wirklich nicht der Mann, den wir wollen; du kannst dich darauf verlassen.«

Während sein temperamentvoller Freund den Aufseher rufen ließ und ihm die Angelegenheit erklärte, hörte Bill ruhig zu. Der Mann untersuchte die Karten, erbleichte und biß sich auf die Lippen. »In der Tat, Herr«, stammelte er, »dies ist höchst überraschend, höchst überraschend …«

»Das ist es wahrhaftig!« rieb Tony ihm hin.

»Ich würd es nicht glauben, wenn ich es nicht mit eigenen Augen sähe. Es ist unglaublich, es ist ungeheuerlich!«

»Wie erklären Sie sich das?«

»Gar nicht.«

»Woraus sollen wir schließen, daß Sie nicht selbst der Schuldige sind?«

»Aber Herr, ich bin nun schon achtundzwanzig Jahre in diesem Club angestellt! Es wäre ein bißchen verspätet für mich, wollte ich jetzt umschwenken und ein gewöhnlicher Betrüger werden. Sie glauben doch wirklich nicht, Herr, daß ich zu so etwas fähig wäre?«

Bill unterbrach die Unterhaltung. »Wieviel Päckchen Engelsrücken haben Sie noch?«

»Weniger als zwölf Dutzend.«

»Warum haben Sie nicht mehr bestellt?«

»Tat ich doch, aber der Agent konnte die Bestellung nicht ausführen.«

Bill schloß halb die Augen. »Wann haben Sie zum erstenmal Engelsrücken gekauft?«

»Vielleicht vor einem Jahr, Herr. Soll ich Ihnen davon erzählen?«

»Aber bitte.«

Ein Musterpäckchen wurde uns von einem Versandhaus geschickt. Es nannte sich Internationale Lieferungsgesellschaft.«

»Wie war seine Adresse?«

»Ein Postfach der Times Square Station, New York City.«

»Weiter.«

»Musterpäckchen wurden uns häufig geschickt, aber dieses Muster war ungewöhnlich gut.«

»Das sollte ich meinen, Engelsrücken!«

»Nicht bloß das, sondern die Karten waren auch bemerkenswert billig; so billig in der Tat, daß der Club sie zum selben Preis wie minderwertige Karten hätte verkaufen und immer noch Geld daran verdienen können.«

»Hat Sie das nicht argwöhnisch gemacht?«

»Die Internationale Lieferungsgesellschaft erklärte, dieses Muster würde nicht neu aufgelegt, und sie hätten einen großen Posten liegen. Wenn wir sie alle übernehmen würden, bekämen wir einen Vorzugspreis. Ich habe den Ankauf nicht auf eigene Verantwortung gemacht, Herr. Ich habe dem Aufsichtsrat des Hauses den Vorschlag unterbreitet. Man war einverstanden.«

»Und was sonst noch?«

»Mehr weiß ich nicht, Herr. Die Mitglieder waren wirklich mit den Karten zufrieden, wie ich es ja voraussah. Für viele Monate haben wir nichts anderes im Hause gehabt. Da begannen uns die Engelsrücken auszugehen. Ich versuchte mehr zu kaufen.«

»Ihre Briefe an die Internationale Lieferungsgesellschaft kamen dann als unbestellbar zurück?«

»Ja, Herr. Die Firma hatte sich aufgelöst.«

Bill lächelte. »Je mehr wir die Spur verfolgen, desto interessanter wird sie.« Er wandte sich an den Freund. »Tony, was ist der nächste Schritt?«

»Man muß natürlich den Rest der Karten untersuchen.«

Bills Auge zwinkerte, aber er nickte sehr nüchtern. »Wie wär's, wenn du das tätest, Tony? Es sind über hundert Päckchen noch da; das wird schon einige Zeit erfordern. Nimm es aber gründlich: untersuche jedes Päckchen und notiere dir dabei das jeweilige Resultat.«

VI

Als sein vulkanischer Freund weg war, winkte Bill den Aufseher auf einen Stuhl an seiner Seite. »Ich muß eine ganze Menge Fragen an Sie richten. Mr. Claghorn ist für mindestens eine Stunde sicher aus dem Wege geräumt. Er wird jedes einzelne Päckchen Engelsrücken in der Vorratskammer untersuchen und wird finden, daß sie alle markiert sind. – Um zunächst zu fragen: Wechseln die Mitglieder in diesem Club sehr häufig?«

»Was meinen Sie damit, Herr?«

»Ich meine, ob oft neue Mitglieder gewählt werden und alte Mitglieder austreten oder nicht mehr mitmachen.«

»Ja, Herr. Das geschieht öfter als mir lieb ist.«

»Wieviel Mitglieder, die voriges Jahr noch recht aktiv waren, kommen heute nicht mehr? Nennen Sie eine runde Zahl.«

»Vielleicht zwanzig«, sagte der Aufseher.

»Schreiben Sie diese Namen auf einen Zettel.«

Der Mann tat es.

»Gewöhnlich spielt man hier sehr hoch?«

»In der Regel, Herr.«

»Aber nicht alle von diesen zwanzig haben gepokert?«

»Nein, Herr.«

»Streichen Sie die Namen weg von denen, die nicht gepokert haben. Wieviel bleiben dann noch?«

»Genau ein Dutzend.«

»Nun wollen wir's von einer anderen Seite betrachten. Sind im letzten Jahre hier im Club auffallend große Verdiener gewesen?«

»Ja, Herr. Mindestens acht oder zehn.«

»Und wie viele haben ihren großen Verdienst beim Pokern gemacht?«

»Fünf oder sechs.«

»Schreiben Sie ihre Namen. Vergleichen Sie die zwei Listen. Wie viele von den großen Gewinnern – beim Poker – finden Sie unter denen, die nicht mehr aktiv sind?«

»Nur einen einzigen, Herr.«

»Leicht erklärlich, was? Aber ein Großgewinner bleibt gewöhnlich nicht weg. Ein Großgewinner hält sich an das Spiel, solange er Glück hat.«

»Natürlicher Weise, Herr.«

»Und doch hat ein Mann, der viel beim Poker gewann, nicht erst auf seine Pechsträhne gewartet. Er blieb auf einmal weg.«

Der Aufseher nickte. »Das hat mich immer schon gewundert, Herr. Er spielte Poker und kam in den Ruf, die stärkste Hand zu sein, die je hier in diesen Räumen gearbeitet hat. Er spielte sechs Monate lang fast Nacht für Nacht. Und dann, ich könnt es nie verstehen, blieb er einfach weg.«

Bill sah den anderen scharf an. »Wurde dieser Mann durch irgendeinen merkwürdigen Zufall vielleicht gerade vor einem Jahr zum Mitglied gewählt?«

Dem Aufseher schien es zu dämmern. »Jawohl, Herr. Mr. Ashley Kendrick wurde eine Woche, nachdem ich die Engelsrücken erworben hatte, in Vorschlag gebracht. Das Wahlkomitee ist immer notorisch schlampig gewesen; es ist nicht schwer, im Himalaja Zutritt zu erlangen. Fünf Tage, nachdem sein Name ausgehängt war, wurde Mr. Kendrick gewählt.«

»Er pokerte?«

»Ja, Herr.«

»Mit den Engelsrücken?«

»Ja, Herr.«

»Und er gewann?«

»Ohne Ausnahme, Herr.«

»Blieb er dann weg, als nach sechs Monaten die Karten allmählich ausgingen?«

»O nein. Er kam zwar nicht mehr; das stimmt schon, Herr, aber von den Engelsrücken waren noch genug vorhanden.«

Bill pfiff. »Dies wird ja immer interessanter.«

»Damals benutzten wir nichts als Engelsrücken. Der Vorrat war reichlich. Eines Abends zeigte sich Mr. Kendrick einfach nicht mehr; das war alles.«

»Sie hatten seine Adresse?«

»Mit dieser Adresse konnte man nichts anfangen. Er ließ sich alles in den Club schicken.«

»Und keine Adresse zum Nachsenden, vermutlich?«

»Man brauchte keine, Herr. Von dem Moment, wo er herkam, bis zum letzten Abend bekam er nie einen Brief.«

In diesem Augenblick kam Tony. »Bill«, verkündete er, »ich habe die Engelsrücken untersucht. Es war nicht nötig, jedes Päckchen genau durchzusehen. Sie sind alle markiert.«

Er erwartete eine Sensation hervorzurufen, wurde aber enttäuscht. Seelenruhig sagte Bill: »Das hab ich erwartet. Zwischendurch bin ich nicht faul gewesen.«

Tony schluckte seinen Ärger hinunter. »Was Neues gefunden?« fragte er.

»Tony, ich bin in eine Sackgasse geraten. Ich hab etwas herausgefunden, aber es hilft uns verdammt wenig. Die Spur war schon ganz nett heiß, aber am Schluß rannte ich gegen eine Mauer.«

»Wenn du mich hättest helfen lassen, wäre das nicht passiert.«

»Vielleicht nicht.«

»Es ist noch immer Zeit dazu«, bot sich Tony an.

»Schön. Dann zeige mir, wie ich einen Kerl namens Ashley Kendrick fassen kann?«

»Ashley Kendrick? Der ist monatelang nicht mehr dagewesen.«

»Das weiß ich schon.«

»Ich kann dir nicht sagen, wie du ihn kriegst, aber ich kann dich mit seinem besten Freund in Verbindung setzen.«

»Ist der auch ein Mitglied dieses Clubs?«

»Früher ja. Er heißt Venner; netter Kerl, hatte aber scheußliches Pech.«

Bill wechselte einen Blick mit dem Aufseher. »Ist der Name auf Ihrer Liste der Nichtaktiven?«

»Ja, Herr.«

»Aber nicht auf der Gewinnerliste?«

»Nein, Herr. Wie Mr. Claghorn schon sagt, hatte Mr. Venner kein Glück.«

Bill sog heftig die Luft ein. »Sagen Sie mal … Hat sein Pech vielleicht ungefähr an dem Zeitpunkt begonnen, als die Engelsrücken anfingen, zu Ende zu gehen?«

Der Aufseher fuhr zusammen. »Wenn ich's mir klarmache, tatsächlich, ja, Herr.«

Bill sprang auf und schwang die Arme über dem Kopf in ganz ungewöhnlicher Aufregung. »Was für ein Kamel war ich doch! Was für ein Schafskopf! Was für ein Dickschädel! Ich hätte es gleich merken müssen! Sofort hätte ich das erraten müssen! Das liegt ja lächerlich klar auf der Hand!«

Tony teilte seinen Enthusiasmus nicht; er begriff nichts.

»Siehst du nicht, daß Venner uns die ganze Erklärung liefert?«

Tony blickte ihn voll milden Vorwurfs an. »Laß mich kein Wort von dir hören gegen Venner. Er ist ein denkbar feiner Kerl und benahm sich tadellos, auch als er Pech hatte. Was er zur Erklärung beitragen soll, begreife ich nicht.«

Mit übermenschlicher Anstrengung zwang Bill sich zur Ruhe und setzte sich wieder. »Tut mir leid, Tony, ich war vielleicht zu begeistert. Erzähl mir ein bißchen über Venner.«

Sein Freund imponierte ihm so, daß Tony nicht anders konnte, als sich zu bequemen. »Wenn du darauf bestehst, so kann ich dir ja schließlich einiges erzählen; ich sage dir aber im voraus, daß es uns nichts helfen wird.« Er blickte den Aufseher forschend an. »Dies darf beileibe nicht herumkommen. Es muß unter uns dreien striktes Geheimnis bleiben.«

»Ich werde mäuschenstill sein, Herr. Wenn Sie aber meine Anwesenheit nicht wünschen …«

Tony schüttelte großmütig den Kopf. »Nachdem ich Sie ermahnt habe, haben Sie auch ein Recht zuzuhören. – Bill, Venner wurde vor nicht ganz einem Jahr Mitglied. Anständiger Mensch. Jeder Zoll ein Gentleman.«

»Weiter.«

»Er spielte Poker. Ich hab selber unzählige Male mit ihm gespielt. Wenigstens im Anfang spielte er selten hoch. Er spielte vernünftig und kam dabei ungefähr auf seine Kosten. Zu seinem Pech lernte er Kendrick kennen. Von diesem brauch ich dir natürlich nichts zu erzählen, der ist einer der besten Pokerspieler, die es gibt. Der Mensch konnte fast deine Gedanken lesen. Er spielte immer am höchsten und war noch verschnupft, daß es nicht noch höher ging. Als Venner Kendrick traf, war er höchst eingenommen von ihm. Er hörte selber zu spielen auf, um bei Kendrick zu kiebitzen; er hätte nie so ein wunderbares Spiel gesehen, sagte er. Kendrick hatte nichts dagegen; er hatte immer für Venner einen leeren Stuhl neben sich gestellt. Die beiden wurden dick befreundet; man sah sie immer zusammen. Kendrick gab Venner anscheinend gern Unterricht; Venner hatte immer seine Augen auf Kendricks Spiel, und wenn das Spiel aus war, gingen sie immer zusammen weg. Kendrick wohnte hier im Club. Eine Zeitlang wohnten sie sogar, glaube ich, zusammen.

Eines Nachts zeigte Kendrick sich nicht und Venner benahm sich, als ob er den besten Freund auf der Welt verloren habe. Er trieb sich immer in der Nähe des gewohnten Tisches herum und starrte nach der Tür, als ob Kendrick jederzeit eintreten könne; und bei allen Mitgliedern erkundigte er sich nach dessen Verbleib. Für eine ganze Woche benahm er sich so. Jedem Mitglied gegenüber sprach er den Verdacht aus, Kendrick sei irgendwie in eine Falle geraten. Dann erst gab er ihn als endgültig verloren auf.«

Parmelees Augen starrten ins Leere. »War es damals, daß Venner an die Stelle Kendricks rückte, ich meine: hoch zu spielen begann?«

»Ja; das war eine Eselei von ihm, aber er bildete sich ein, er hätte genug von Kendrick gelernt, um in dessen Fußstapfen zu treten. Eine Nacht lang vielleicht gelang es ihm. Er verdiente schwer, aber dann drehte sich das Blättchen. Einen Abend gewann er. Doppelt soviel verlor er am nächsten. Er gewann tausend und verlor dreitausend. Er gewann zweitausend, und dann verlor er fünf. Ich drängte ihn aufzuhören. Ich warnte ihn viele Male, aber er meinte, die gewöhnliche Höflichkeit erfordere, daß er Revanche gäbe. Er hatte von den anderen verdient. Nun müßte er sie wieder verdienen lassen.« Tony machte eine Pause und nickte ernst. »Ja, ja, so war Venner: ritterlich, anständig und eigentlich verrückt. Meinst du nicht auch?«

Bill wandte sich an den Aufseher. »Was glauben Sie denn?«

»Nach meiner achtundzwanzigjährigen Tätigkeit in diesem Club habe ich gelernt, mir beizeiten lieber keine Gedanken über irgend etwas zu machen.«

»Dann kann ich verstehen, daß Sie achtundzwanzig Jahre ausgehalten haben.« Er bat Tony: »Erzähl die Geschichte zu Ende.«

Tony senkte die Stimme. »Nun komm ich zu dem Teil der Geschichte, worüber man den Mund halten muß. Venner verlor, verlor jeden Pfennig, den er besaß. Venner mußte seine Besuche im Club einstellen. Er wurde sogar ausgehängt, weil er seinen Beitrag nicht bezahlte.«

»Wo ist er jetzt? Was macht er denn jetzt?«

»Bitte, sag keinem Menschen was davon, nicht? Venner ist ganz auf den Hund gekommen. Er mußte eine Stelle als Kellner in einem billigen Restaurant annehmen, und ich muß mir meinen Magen damit ruinieren, daß ich dann und wann dort essen muß.«

Parmelee grinste und schaute ihn dankbar an: »Tony, du hast uns geholfen. Du hast keine Ahnung, wie du uns geholfen hast!« Er stand auf und zwinkerte dem Aufseher zu: »Sind Sie geschickt, wenn Sie ein Rätsel lösen sollen?«

»Was für ein Rätsel, Herr?«

»Kein leichtes. Schauen Sie mal, ob Sie es raten können.« Eindrucksvoll sprach er: »Wenn ein fünfundzwanzigjähriger Farmer, der in Connecticut wohnt, den Mittagszug nach New York nimmt, den Nachmittag im Himalajaclub verbringt und dann, weil er sich einer gußeisernen Verdauung erfreut, sein Abendessen in einem billigen Restaurant zu sich nimmt: wie heißt dann der Kellner dort?«

»Venner, Herr«, sagte der Aufseher ohne Zögern.

»Rücken Sie einen Platz nach vorn«, sagte Bill.

VII

Parmelee und sein ziemlich verblüffter Freund machen sich nun auf den Weg zu einem muffigen zweitklassigen Restaurant an der unteren Achten Avenue und lassen sich dort von einem gewissen Venner bedienen. Sie packen ihn dort am Schlafittchen und machen ihn dort mürbe, indem sie ihm Straffreiheit in Aussicht stellen und ihm ein ständig anschwellendes Sümmchen unter der Nase baumeln lassen, bis seine schweigsame Zunge schließlich ausnehmend geschwätzig wird. Wir aber wollen im Buch der Geschichte zwei Jahre zurückblättern und eine sehr seltsame Geschichte vom ersten Anfang an berichten. – – – –

– – – – Der Tag war unerträglich schwül. Schwaden erhitzter Luft, die sich wie schweres Öl beim Aufstieg regten, trieben aus den kochenden Straßenschluchten empor. Selbst der Asphalt war weich und klebrig; erstickender Staub, angehäuft in einer trockenen Woche, lag im Hinterhalt, um die leidende Menschheit bei der Kehle zu packen; und die kränklichen Geranienstöcke in unzähligen Fenstern ließen die Blätter hängen und verdorrten unter den erbarmungslosen Sonnenstrahlen.

Hätte man ein Thermometer nahe dem Straßenpflaster aufgehängt, so hätte es wohl bis neunzig Grad Fahrenheit angezeigt. Fünf Stock hinaufgetragen in den Mietskasernen der Nachbarschaft, wäre dieses selbe Thermometer ständig höher hinaufgeschnellt und schließlich unter dem Metall des Daches, das unmittelbar der Sonne ausgesetzt war, auf hundert Grad und mehr hinaufgeklettert. Dennoch nahm ein gewisser Mann von solch einer Nebensächlichkeit wie dem Wetter keine Notiz. Er beugte sich in jener Hölle, die man als kombiniertes Wohn- und Schlafzimmer bezeichnet, im obersten Stock eines der elendesten Häuser dieses Stadtteils, über einen kleinen Tisch und war völlig in seine Beschäftigung vertieft.

Sein einziges Fenster war geschlossen und die Innenseite der Scheibe mit Seife beschmiert, so daß kein Beobachter jenseits der Straße durchblicken konnte. Seine Tür war geschlossen und nicht nur geschlossen, sondern verbarrikadiert mit Möbelstücken, die er dagegen gelehnt hatte. Und ungeachtet der Hitze und wiewohl kein noch so schwacher Lufthauch im Zimmer lebendig war, kochte munter ein Kessel, der auf einem tragbaren Petroleumöfchen neben dem Ellenbogen des Mannes stand.

Auf dem Tisch, an dem er saß, waren Schachteln (und Unmengen davon) ordentlich aufeinandergetürmt, so daß sie fast die Decke berührten. Zu seiner Rechten stand ein Untersatz, der eine rote Flüssigkeit von alkoholischem Duft enthielt. Zu seiner Linken war ein zweiter Untersatz mit einer bläulichen Flüssigkeit. Sechs winzige Kamelhaarpinsel waren sorgfältig vor ihm der Größe nach aufgereiht. Und als hätten zur Erhitzung des Zimmers das Wetter, das Öfchen und die enggeschlossenen Öffnungen noch nicht genügt, hatte er eine Starkstrombirne an einer Schnur über sich aufgehängt. Sie warf einen blendenden Glanz auf die Hände des Mannes und auf die Gegenstände, mit denen er sich beschäftigte.

Er stand auf, nahm eine Schachtel von dem riesigen Haufen, hielt sie geschickt mit zwei Fingern und ließ den Dampf des kochenden Kessels auf das Papiersiegel blasen. Die Schachtel öffnete sich. Äußerst vorsichtig setzte er sie auf den Boden und nahm ihren Inhalt heraus: genau einhundertvierundvierzig einzeln versiegelte kleine Hüllen. Jedes dieser Siegel hielt er nun einen Augenblick in das Dampfströmchen; es löste sich beinah augenblicklich. Die offenen Hüllen tat der Mann nun auf eine Seite, setzte sich wieder, trocknete die Hände vorsichtig von jeder Feuchtigkeit, so daß er nirgends einen Fleck verursachte, schüttelte eine von den Hüllen und ließ ein neues Päckchen Spielkarten herausgleiten. Er spreizte sie auf den Tisch aus, nahm einen von den Pinseln, tauchte ihn in die farbige Flüssigkeit und machte mit der Sachkundigkeit, wie man sie nur durch lange Praxis gewinnt, ein mikroskopisch kleines Tüpfchen auf den Rücken jeder Karte.

Wär ein Beobachter dabei gewesen, so hätte dieser bemerkt, daß die aufgetragene Farbe sich mit der des Kartenrückens vollkommen deckte. Er würde die noch seltsamere Beobachtung gemacht haben, daß das winzige Feuchtigkeitsfleckchen nach dem Eintrocknen so vollständig verschwunden schien, daß man nur mit der Lupe hätte feststellen können, jemand habe überhaupt mit der Karte manipuliert. Das Fleckchen harmonierte so wunderbar mit der übrigen Farbe, daß keine unbeteiligte Person die Markierung überhaupt entdeckt hätte.

Während seiner Arbeit hatte der Mann mit Sorgfalt darauf geachtet, die Kartenreihe nicht durcheinander zu bringen. Fabrikneue Kartenspiele sind ja immer in gleicher Reihe zusammengestellt. Er untersuchte sechs oder acht Karten genau, überzeugte sich, daß man die Markierungen nicht unterscheiden konnte, hob das Päckchen und steckte es in die Hülle zurück. Ein zweites Mal hielt er das Siegel in den Dampf. Dann schlug er die Papierzunge herunter, drückte das Siegel wieder an und legte das Päckchen auf die eine Seite.

Ein Dutzend Schachteln unter dem Tisch stellten bereits die vollendete Arbeit einiger Wochen vor. Wenn er mit größtem Druck arbeitete, bekam er nicht mehr als zehn Päckchen in der Stunde fertig (und jeder Karton enthielt einhundertvierundvierzig Päckchen). Der riesige Haufen vor ihm zählte mindestens mehrere Hunderte von solchen Schachteln. Hätte er eine Pause gemacht, um nachzurechnen, so wäre er über das magere Resultat wohl erschrocken gewesen; zehn Päckchen in der Stunde; achtzig bis hundert am Tage, also bestenfalls kaum mehr als fünf Schachteln in der Woche. Beinah ein Jahr würde er zu tun haben, bis er sein gigantisches Unternehmen beenden könne.

Man konnte annehmen, der Mann habe seine Berechnungen bereits gemacht, bevor er begann, habe den Zeitverbrauch geschätzt und dann beschlossen, die Sache sei die Arbeit wert. Er machte nicht die kleinste Pause, wenn er ein Päckchen beendet hatte und ein zweites heranholte. Er arbeitete blitzschnell und doch sorgfältig mit einer gespannten Aufmerksamkeit, die nur bei einem Sklaven verständlich gewesen wäre, der sich unmittelbar von der Peitsche bedroht fühlt. Die Übung hatte ihn überraschend geschickt gemacht. Er tat keinen überflüssigen Griff, er vergeudete nicht die geringste Kraft. Unendlich langsam nahm der unbearbeitete Haufen ab; unendlich langsam wuchs der bearbeitete auf der anderen Seite.

Ungefähr um sieben Uhr löschte er das Petroleumöfchen, warf ein sauberes weißes Tuch über den Haufen von Schachteln, wusch sich, zog sich an und ging aus, nachdem er die Tür seines Zimmers hinter sich fest verschlossen. Andere Bewohner des Hauses, die sich unten am Eingang versammelt, um Luft zu schnappen, nickten ihm zu, als er vorbeiging. »Guten Abend, Mr. Kendrick«, riefen sie im Chor.

»Guten Abend«, sagte Kendrick und ging weiter zu einem Speiselokal um die Ecke.

»Wovon lebt der eigentlich?« fragte einer von den Nachbarn.

»Er ist ein Literat«, sagte einer, der besser Bescheid zu wissen schien.

»Ein was?«

»Ein Literat. Er schreibt Romane und Bücher und Geschichten. Sperrt sich in seinem Zimmer ein von morgens bis nachts und schreibt … schreibt immerzu. Hat's mir selber gesagt. Hält seine Arbeitsstunden ein, genau wie ein anderer Handarbeiter.«

»Das ist doch keine Arbeit! Bloß Schreiberei«, ließ ein Lauscher einfließen und erkundigte sich dann: »Hast du mal was gelesen, was er geschrieben hat?«

»Bis jetzt noch nicht. Er sagt, seine Sachen würden erst in einem Jahr veröffentlicht werden. Aber er will mich's wissen lassen, sobald was von ihm erscheint.«

– – – Wollen wir jetzt einen Sprung bis zum Jahresende machen. Der unvollendete Haufen war eingeschrumpft und am Schluß verschwunden. Das kleine Zimmer war gefüllt mit sauber aufgetürmten Schachteln, die man hätte untersuchen können und dann einen Eid leisten, sie seien nie geöffnet worden. Und Kendrick, das heißt also die »Internationale Lieferungsgesellschaft«, hatte den Erfolg gehabt, den ganzen Posten an den Himalaja-Club abzusetzen, nachdem er Muster von Spielkarten bester Qualität zu unglaublichen Schleuderpreisen drei Clubs offeriert, die ebenso notorisch waren, sowohl der Höhe ihrer Spiele wegen als auch wegen der Leichtigkeit, mit der ein Fremder dort Zutritt erlangen konnte.

Am nächsten Tag lieferte ein Pferdelastwagen, speziell für die Gelegenheit gemietet und persönlich von der »Internationalen Lieferungsgesellschaft«, das heißt von Kendrick, kutschiert, mehrere hundert Schachteln markierter Karten im Himalaja-Club ab.

Innerhalb einer Woche wurde Mr. Ashley Kendrick zur Mitgliedschaft in Vorschlag gebracht.

Fünf Tage später wählte man ihn.

Kaum ein Monat verging, als man ihn schon übereinstimmend den besten Pokerspieler nannte, der sich je ans Kartenspiel im Himalaja gesetzt habe, und seine früheren Nachbarn, die darauf gespitzt hatten, seine »Bücher, Romane und Geschichten« zu lesen, warteten eine Zeitlang darauf und vergaßen ihn dann.

VIII

Für einen Spieler ein wahres Paradies: ein Ort, wo immer gespielt wird, ein Ort, wo die Einsätze hoch sind, wo die Spieler großzügig sind und wo jede Karte markiert ist. Ja, in einem solch unglaublich gesegneten Eckchen befand Kendrick sich nun. Ein ganzes Jahr hatte er gearbeitet und Pläne geschmiedet; ein ganzes Jahr lang hatte er mager von seinem Ersparten gelebt; wenn ihm nun die Belohnung blühte, so fühlte er alle Berechtigung dazu.

Dennoch war er nicht so unvorsichtig, zu gut zu spielen. Spielt jemand unfehlbar, so nimmt er den Gegnern den Mut. Ein gelegentlicher Verlust kostet nicht so viel und läßt das Opfer wieder frischen Mut schöpfen. Nachdem Kendrick jede Karte kannte, das Blatt seines Gegenspielers einfach ablas, als ob man's ihm offen zeige, jedesmal genau wußte, ob es sich verlohne oder nicht, zu kaufen, hätte er weit mehr gewinnen können, als er sich selbst gestattete. Es verging kaum ein Abend, ohne daß Kendrick mindestens einmal einen sensationellen Verlust erlitt; kaum eine Sitzung verging, ohne daß er sich überflüssigerweise mindestens einmal überbieten ließ. Aber nie stand er ärmer von seinem Stuhl auf, als er sich darauf gesetzt. Nie hatte er am Ende einer Sitzung nötig, sein Scheckbuch zu ziehen.

Er setzte seinen eigenen Gewinnen eine strikte Grenze und beherrschte sich so vollkommen, daß er diesen Limit nie überschritt. Die Grenze war großzügig gesteckt, denn schon nach zehn Tagen hatte er die Ausgaben des ganzen vorigen Jahres wieder eingeholt. Nach drei Monaten nahm sein Konto auf der Bank bereits eine erkleckliche Höhe an.

Nach vier Monaten steckte er sich die Grenze bedeutend höher und verdoppelte seine Bankeinlage; nach fünf ließ er alle Hemmungen fallen. Er spielte eine Sorte Poker, wie man sie selbst im Himalaja noch nie erlebt; und dort waren doch wahrhaftig draufgängerische Spieler. Er hatte sich bereits eine mächtige Reserve auf die hohe Kante gelegt, und sein Programm war, soviel als möglich einzuheimsen, bevor der Vorrat von Engelsrücken auszugehen beginne.

So standen die Sachen, als Venner, wie er Parmelee erzählte, auf die Szene trat.

Venner, ein rastloser Nichtsnutz von ganz angenehmen Formen, hatte eine bescheidene Erbschaft verschwendet und seine Einnahmequellen waren drauf und dran, zu versiegen. Er spielte Poker leidlich; gelegentlich hatte er auch ein bißchen geschummelt und hatte sogar, in der Hoffnung, einen größeren Schachzug bei seinen unehrlichen Versuchen machen zu können, sechs Päckchen im Club gekauft und mit sich heimgenommen in der lobenswerten Absicht, sie zu markieren. Waren sie einmal markiert, so wollte er sie gegen Clubkarten eintauschen. Nachdem er zwei oder drei Päckchen markiert, machte er die erstaunliche Entdeckung, daß dies nicht mehr nötig sei. Fast traute er seinen Augen nicht. Fieberhaft riß er die versiegelten Päckchen auf und fand, daß ein früherer Gauner schon auf diesen Gedanken gekommen war. Er untersuchte unter der Hand im Himalaja-Club noch mehr von diesen Karten und war nun von der erstaunlichen Wahrheit überzeugt.

Venner hatte vorgehabt, nur ein bißchen, in kleinem Stil, zu schwindeln. Wie der Donner schlug bei ihm die Entdeckung ein, daß ein Schwindel von solch gigantischen Ausmaßen bereits existiere. Einen Augenblick überlegte er, daß auch er, nachdem er das Geheimnis nun kannte, nach Belieben gewinnen könne. Aber bei neuerlicher Überlegung fiel ihm ein, daß der Gewinn vielleicht ebenso groß und bei weitem nicht so riskiert wäre, wenn er den tollkühnen Markierer, der anscheinend zur Zeit Triumphe feiere, selbst die heißen Kartoffeln aus dem Feuer holen ließ.

Monatelang war Kendrick die Sensation. Zwei Tage nach seiner Entdeckung stellte Venner ihn.

»Sie können nichts beweisen«, sagte Kendrick.

»Ich weiß es aber«, sagte Venner.

»Niemand kann überraschter sein als ich von dem, was Sie mir da erzählen«, behauptete Kendrick.

»Dann werden Sie ja auch nichts dagegen haben, wenn ich den anderen Mitgliedern Mitteilung davon mache und darauf bestehe, daß man andere Karten verwendet?«

Kendricks Augen verengten sich. Es war nicht schwer, Venner zu durchschauen. »Was verlangen Sie?« fragte er.

»Halb Part«, murmelte Venner. »Zahlen Sie mir die Hälfte der Gewinne, und ich will schweigen wie das Grab.« Er machte eine Pause. »Wenn Sie's nicht tun, stelle ich Sie bloß. Ich werde sagen, Sie hätten alles eingestanden …«

»Das wird kein Mensch glauben.«

»Wenn Sie das meinen, lehnen Sie meinen Vorschlag ab.«

Kendrick war in einer unangenehmen Situation und wußte es. Die einzige Lösung, die ihm einfallen wollte, war zunächst die, so zu tun, als nehme er Venners Bedingungen an; und dann für immer zu verduften. Aber die Sache hatte einen peinlichen Haken: Aus Gemeinheit würde Venner die Polizei vielleicht hinter ihm dreinhetzen. Ohne Zaudern beschloß Kendrick, lieber noch zu warten, bis auch Venner gründlich in den Dreck hineingestiegen sei. Dann könne er ruhig wagen, aus Venner einen Komplicen zu machen, denn dieser könne dann nichts verraten, ohne auch seine eigene Freiheit aufs Spiel zu setzen. Und wenn er dann auch seine Gewinne pünktlich mit ihm zu teilen haben würde, könne man doch in kurzer Zeit, vielleicht in drei Wochen, noch ziemlich viel Geld beiseite bringen.

Er schüttelte Venner herzlich die Hand. »Sie sind ein Kerl nach meinem Herzen«, sagte er. »Ich nehme Ihren Vorschlag an.«

Hierauf begann jene kurze, aber interessante Periode, während welcher Venner, wie Tony das beschrieben hatte, Kendrick zur Seite hockte und ganz unverhohlen Lektionen genoß. In Wahrheit aber, nach seinem eigenen Bekenntnis, verfolgte er mit Falkenaugen das Spiel, um sicher zu gehen, daß sein Komplice ihm auch nachher den richtigen Anteil zukommen lasse.

Nach ein paar Tagen lud sich Venner selbst bei Kendrick ein und lebte mit ihm in dessen Clubzimmern. Dadurch konnte er ihn noch besser beobachten, und zwei kurze, aber glückliche Wochen lang war Venners Einkommen außergewöhnlich groß. Er kleidete sich neu ein und leistete sich kleine, aber kostbare Krawattennadeln. Auch hatte er ein Auge auf Autos; seine gebesserten Umstände würden es ihm ja bald erlauben, sich eines zuzulegen.

Als aber Venner eines schönen Abends an Kendrick das brüske Verlangen stellte, dieser solle ihm nicht mehr die Hälfte seines Gewinnes, sondern drei Viertel davon künftig auszahlen, verduftete der Schlaumeier. Venner war bekümmert; er glaubte wahrhaftig ehrlich, sein Partner sei in eine Falle geraten. Aber nach einer Woche kam ein Brief, von einer Reise nach Mexiko aufgegeben, und berichtete Venner die Wahrheit. Kendrick hatte endgültigen Abschied genommen. Er hatte genug eingeheimst, um für den Rest seines Lebens eingedeckt zu sein. Er hatte nicht die Absicht mehr, so sympathisch Venner ihm auch sei, mit ihm oder irgend jemandem seine Gewinne zu teilen. Nichtsdestoweniger gäbe er Venner seinen Segen und erwähnte noch dabei, Venners Sammlung von Krawattennadeln, die er mit sich nach Mexiko genommen habe, gefalle ihm ausgezeichnet.

Von heute auf morgen befand Venner sich in beengten Umständen. Sein Einkommen war hingeschwunden, sein Aufwand blieb. Aber die Engelsrücken verhießen ihm Rettung.

Er nahm beim großen Spiel Kendricks Stelle ein und gewann schwer zwei Nächte lang. In der dritten wurden, zu seinem unaussprechlichen Entsetzen, anders gemusterte Karten gebraucht. Venner sah sich gezwungen, ehrliches Poker zu spielen mit Leuten, die als Sachverständige galten. Er verlor mehr, als er in den zwei vorhergehenden Sitzungen gewonnen hatte. In der vierten Nacht kehrten die Engelsrücken zurück, und Venner war wieder in seinem Element. Aber nach weiteren fünf Tagen gebrauchte man wieder andere Karten, und das Resultat war verheerend.

Nach dieser Zeit wurde alles ein Alpdruck für ihn. Er steckte in Schulden; er sah sich gezwungen zu spielen, ob er wollte oder nicht. Und plötzlich steckte er in einer Lage, die viel gefährlicher war, als Kendrick sie je durchgemacht: wenn Venner ohne Ausnahme mit den Engelsrücken immer gewann und bei allen anderen Gelegenheiten verlor, so konnte es nicht lange dauern, bis ein schlauer Beobachter diesen Umstand merken würde.

Venner wachte die Nächte hindurch, von quälenden Vorstellungen geplagt. Ihm fiel ein, er könne mehr Engelsrücken kaufen, sie markieren und sie in das Spiel einführen. Aber er mußte erfahren, daß dieses Kartenmuster überhaupt nirgends mehr erhältlich war. Hätte man sie auch kriegen können, so hätte er sie nicht an den Tisch bringen können, ohne Verdacht zu erwecken. Dann dachte er daran, man könne ja die Karten markieren, die der Club nun an Stelle der Engelsrücken gebrauchte. Aber er machte sich klar, daß die Geschicklichkeit, die nötig war, um sie während des Spiels auszutauschen, ihm völlig fehlte. Wenn er früher einmal ein bißchen schummeln wollte, so hatte er gelegentlich, bei unbeobachtetem Spiel, ein markiertes Päckchen gleich am Anfang verwenden können. Das war möglich bei kleinem Einsatz und ohne Zuschauer. Es war unmöglich beim großen Spiel, das von zwanzig Leuten scharf beobachtet wurde.

Eine fürchterliche Woche lang erlitt Venner alle Qualen der Hölle. Für seine Gewinne, mit markierten Karten, konnte er zwar eine beliebige Grenze setzen; für seine Verluste mit fremden Karten aber konnte er das nicht. Für alle seine Sünden in der Vergangenheit mußte er einen tausendfachen Preis bezahlen mit dieser Woche, sich jede Nacht neu zu präsentieren, zu lächeln und gemütlich zu plaudern, während sein Inneres sich unter Qualen wand; einen sicheren Gewinn nach dem anderen schießen zu lassen, wenn die Engelsrücken ihm die Möglichkeit gaben, nur weil ein allzu großer Gewinn Verdacht erregen könnte; und dann wieder in anderen Nächten schwer, beinahe katastrophal zu verlieren, nur weil er seine Spielweise nicht zu ändern wagte: das war alles zuviel für ihn, und es ist kein Wunder, daß er darunter zusammenbrach.

Er begann wild und rücksichtslos zu spielen. Seine Gegner, verschmitzte Psychologen, brauchten nicht lang, um das zu merken. In zwei aufeinanderfolgenden Sitzungen zogen sie ihm das Hemd vom Leibe.

Die Höflichkeit verbietet, daß man einem anderen die letzte Zigarette wegnimmt; aber jemanden seines letzten Dollars zu berauben, erlaubt sie. Seine Gegner waren erbarmungslos. Als Venner zu guter Letzt den Himalaja-Club endgültig verließ, hatte er von seinen Freunden so viel zusammengepumpt, als sie gerade für ihn übrig hatten; er hatte nichts und seine Taschen waren leer.

Dies war die Geschichte eines gewissen Venner, eines Kellners in einem muffigen, zweitklassigen Restaurant an der unteren achten Avenue. Parmelee und Claghorn hörten sie von seinen eigenen Lippen; zunächst mußten sie sie ihm stückweise herauslocken und dann, als er seiner Bewegung nicht mehr Herr wurde, floß die Erzählung mühelos.

IX

Erst eine halbe Stunde, nachdem sie das Restaurant verlassen hatten und stadteinwärts schritten, öffnete Bill den Mund. Tony, der nun das erste Mal in seinem Leben eine vollständige Niederlage erlitten hatte, war schweigend an seiner Seite gegangen.

Bill sagte: »Es fing damit an, nicht wahr, daß wir herausfinden wollten, ob Roy Terriss beim Bridge mogele oder nicht? 's ist doch sonderbar, was für eine lange Spur daraus wurde und wohin sie uns führte! Terriss – die Engelsrücken – der Himalaja – Kendrick – und schließlich Venner …«

»Den letzteren schenk ich dir, du brauchst ihn nicht mehr zu erwähnen«, unterbrach ihn Tony.

»Warum?«

»Wenn ich mir vorstelle, wie ich um seinetwillen meine Verdauung ruiniert habe! Nur aus Sympathie für den Kerl habe ich mindestens einmal die Woche den elenden Fraß geschluckt! Pfui!«

»Aber Venner geht es doch noch sehr viel schlechter, nicht wahr? Du bist im Restaurant Gast gewesen; er aber nur Kellner.«

»Geschieht ihm ganz recht!«

»Vielleicht. Aber es gibt etwas (nenn es Schicksal oder wie du willst), das wird wunderbar quitt mit dem Mann, der nicht anständig spielt. Venner muß zahlen … muß schwer zahlen. Wenn du ein anständiger Mensch bist, Tony, so müßtest du schon noch ab und zu in dem Restaurant weiter verkehren.«

»Warum?«

»Weil du dadurch vielleicht eines Tages in Stand gesetzt wirst, Venner auf den rechten Weg zu bringen. Dadurch würdest du vielleicht deine eigene Schuld an das Schicksal bezahlen. Was meinst du dazu?«

»Hm, – darüber läßt sich ja nachdenken.«

Bill nickte zustimmend. »Ja, zahlen muß man! Man kann nicht drum rum.«

»Wie steht es aber mit Kendrick?«

»Auch der wird zahlen müssen. Denk einmal daran, was für eine Sklaverei er ein Jahr lang ausgehalten hat, um seinen Fischzug machen zu können! Denke nur, was er stattdessen hätte tun können, wie er heute dastehen würde, wenn er mit derselben Energie ein anständiges Ziel erstrebt hätte!«

»Aber er lebt doch im Luxus, in Mexiko.«

»Jawohl; vielleicht sechs Monate lang.«

»Aber er hat doch genug eingeheimst, um sein ganzes Leben lang damit durchzuhalten.«

»Das haben schon eine Masse von Spielern getan, aber irgendwie ist ihr Geld nicht dauerhaft. Geld, das man so verdient, dauert nie. Genau wie die gefallenen Engel hat es Flügel! Ein anständiger Mensch kann immer noch das Gesetz mobil machen, um sein Eigentum beschützen zu lassen. Das kann aber Kendrick nicht. Im Moment, wo die anderen in Mexiko über ihn Bescheid wissen, welche Möglichkeit hat er dann noch?« Bill schüttelte heftig den Kopf: »Nein, ich glaube, daß von den Beiden Venner nicht der Pechvogel ist. Er ist noch am Leben, und ich möchte zwei zu eins wetten in dieser Minute, daß Kendrick nicht mehr am Leben ist. Er hat zu hart für sein Geld gearbeitet, um es lebendig aus den Klauen zu lassen; und ein Menschenleben ist in Mexiko billig … Recht billig.«

»Kann sein«, sagte Tony schüchtern. »Kann sein.« Er dachte angestrengt nach. Dann wandte er sich zum Freund: »Gleich von Anfang an habe ich nie begriffen, warum du dich für diesen Fall so heftig interessierst. Warum eigentlich? Aus Abenteuerlust?«

»Das wird es wohl nicht gewesen sein, nachdem ich mich sechs Jahre lang ziellos im Land herumgetrieben habe, alter Junge.«

»Was war es aber dann?«

Bill leistete sich den Luxus eines Lächelns. »Wie ich dir heute morgen erklärte (und das scheint schon so lange her, nicht wahr?), war es nur der freundschaftliche Wunsch, deinen guten Ruf zu retten.«

»Meinen guten Ruf?« wiederholte Tony ungläubig.

»Nichts weiter. Nachdem du Terriss bloßgestellt hattest, fiel ihm ein, du könntest ein Schüler von mir sein und so kam er mit seinen Sorgen direkt zum Hauptquartier.«

Tony schnappte nach Luft. »Was? Er kam zu dir?«

»Ich will's dir ja nur leichter machen, die Sache zu begreifen. Terriss war unschuldig. Das weißt du jetzt. Auch er wußte das damals und überzeugte mich im Handumdrehen. Er wollte seine Entschädigung, aber das war nicht alles. Er war totsicher, daß die Karten, wenn sie markiert waren, von dir selbst markiert waren, und er wollte gegen dich und deine Freunde Klage einreichen! Der Mann ist klug, er hat eine außerordentlich schnelle Leitung, und ich glaube, wenn ich die Sache nicht übernommen hätte, hätte er den Spieß gegen euch schon jetzt umgedreht!«

Tonys Gesicht wurde purpurrot. »Aber ich bin doch unschuldig! Du weißt doch, daß ich unschuldig bin!«

»Das kann man oft schwer beweisen, Tony. Auch Terriss war unschuldig, aber ihr habt es nicht einsehen wollen.«

Tony schluckte hart. »Meine Freunde und ich schulden Terriss eine handfeste Entschuldigung.«

»Jawohl, das ist so.«

»Ich werde mich schon darum kümmern, daß es geschieht. Übrigens ist das Honorar, das du von Terriss verlangst, natürlich meine Sache.«

»So gleicht es sich aus.«

»Auch natürlich deine Unkosten. Das alles will ich natürlich übernehmen.«

Bill lächelte. »Gut also, du hörtest doch, daß ich Venner hundert Dollars versprochen habe, wenn er uns seine Geschichte erzählen wolle.«

»Die will ich zahlen.«

»Wenn du deinen Scheck für Venner schreibst, verschreib dich und füge noch eine Extranull zu der Zahl.«

»Wozu in aller Welt soll ich das tun?« wehrte sich Tony.

»Aus keinem anderen Grund, als weil ich gefühlvoll bin. Für lumpige hundert Dollars hat Venner seine Seele vollständig umgekrempelt. Ich möchte seine Selbstachtung dadurch stärken, daß ich ihn überzeuge, seine Seele sei mindestens tausend wert.«

Tony nickte. »Ich verstehe dich. Der Scheck soll auf tausend ausgestellt werden. Und nun zu deinem eigenen Honorar.«

»Das wird nicht klein sein.«

»Das erwarte ich.«

»Auch Terriss erwartete es, so schnell hat er kalkuliert! Er bestand darauf, daß deine Freunde ihm seine Gewinne auszahlten, weil er genug flüssiges Geld zur Hand haben wollte, um meine Ansprüche zu befriedigen.«

Tony lächelte. Mit seinen Finanzen war eine Wendung zum Besseren eingetreten, seit er dem Beispiel seines Freundes gefolgt war und in der Hauptsache nur Zuschauer geworden war und nicht Teilnehmer beim Hasardspiel. Sein Bankkonto war angeschwollen, und das war ihm eine ganz angenehme Vorstellung. »Bill«, sagte er, »du kannst mich nicht ins Boxhorn jagen. Nenne eine beliebige Summe.«

»Die wird schwer zu schlucken sein.«

»Die Sache wird sie aber wohl wert sein.«

»Also gut, Tony, paß auf.« Bill streckte die Hand aus. »Zahl mir zweiundfünfzig Engelsrücken, zweiundfünfzig markierte Karten, zweiundfünfzig gefallene Engel. Ich will sie an die Wand von meinem Schlafzimmer als Andenken nageln!«


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