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Victor L. Whitechurch
Das Gemälde des Sir Gilbert Murrell

1868 – 1933

 

Was bei dem Güterzug der Newbury-Zweiglinie des Great Western Railway passierte, rief ungewöhnliches Interesse wach. Thorpe Hazell notierte es in seinem Tagebuch auch an erster Stelle. Daß die wichtigsten Ereignisse in dieser Angelegenheit überhaupt aufgeklärt wurden, war teils Glückssache und teils Verdienst der Schlauheit Hazells, aber er beharrte immer auf dem Standpunkt, daß seiner Ansicht nach die einzigartige Raffiniertheit, welche den gewagten Plan zum Ziel brachte, das Allerinteressanteste daran sei.

Damals war er bei einem Freund in Newbury zu Besuch und hatte seinen Photographenapparat mitgenommen, denn er war darin ein so eifriger Amateur, wie in der Literatur. Seine Aufnahmen bestanden zwar im allgemeinen nur aus Eisenbahnzügen und Maschinen. Gerade war er von einem Morgenspaziergang zurückgekommen, die Kamera über die Schulter gehängt, und war gerade dabei, einige Biskuits zu schmausen, als sein Gastgeber ihn in der Vorhalle antraf.

»Hallo, Hazell«, begann dieser, »Sie sind gerade der richtige Bursche, den man hier brauchen kann.«

Hazell nahm seine Kamera ab, begann ein wenig zu »müllern« und fragte dann: »Was gibt's?«

»Gerade bin ich unten an der Station gewesen. Den Stationsvorsteher kenne ich sehr gut, und er erzählt mir da, eine ganz tolle Sache sei gestern Nacht auf der Linie passiert.«

»Wo?«

»Auf der Didcot-Zweiglinie. Das ist die Zweigbahn, wissen Sie, die eingleisig durch die Berkshire-Hügel nach Didcot läuft.«

Hazell lächelte und schwang ruhig seine Arme weiter um den Kopf.

»Nett von Ihnen«, sagte er, »mich so genau darüber zu informieren, aber ich kenne diese Zweigbahn zufällig. Was ist denn vorgekommen?«

»Nun also: Es sieht so aus, als wäre gestern Nacht ein Güterzug von Didcot weggefahren mit der direkten Endbestimmung Winchester, und als wäre einer von den Waggons nie hier in Newbury angekommen.«

Hazell müllerte ruhig weiter. »Das hat gar nichts zu bedeuten, außer der fragliche Waggon wäre hinter dem Bremswagen gewesen, und die Kuppelung hätte sich ausgehakt, in welchem Fall der nächstkommende Zug in den losgelösten Waggon hineingelaufen wäre.«

»Aber das stimmt nicht. Der Waggon war in der Mitte des Zuges eingekuppelt.«

»Vielleicht hat man ihn aus Versehen auf einem toten Gleis stehen gelassen«, erwiderte Hazell.

»Aber der Stationsvorsteher sagt, alle Stationen an der Linie seien telegraphisch befragt worden und nirgends steht er.«

»Dann hat der Waggon überhaupt Didcot nie verlassen.«

»Aber er erklärt, darüber sei gar kein Zweifel.«

Hazell hielt mit seinen turnerischen Verrenkungen an und wandte sich wieder seinen Biskuits zu. »Die Sache fängt an, interessant zu werden. Vielleicht steckt doch ein Geheimnis dahinter, obwohl es oft vorkommt, daß ein Waggon falsch geleitet wird. Aber ich will jetzt nach der Station hinuntergehen.«

»Ich gehe gleich mit Ihnen, Hazell, und stelle Sie dem Stationsvorstand vor. Ihr Ruhm ist schon zu ihm gedrungen.«

Zehn Minuten später waren sie im Büro des Stationsvorstandes. Hazell hatte seine Kamera wieder umgehängt.

»Freut mich sehr, die Bekanntschaft zu machen«, sagte der Beamte. »Die Sache wird noch viel Kopfzerbrechen verursachen. Ich persönlich habe keine Ahnung, wie es zugegangen sein könnte.«

»Wissen Sie genau, was für Güter der Zug führte?«

»Das ist ja gerade das Peinliche, Sir, es war nämlich wertvolles Besitztum. Nächste Woche gibt es in Winchester eine Ausstellung von ausgeliehenen Bildern, und einige davon brachte der betreffende Waggon von Leamington. Sie gehören Sir Gilbert Murrell – ich glaube, drei davon. Es sind große Bilder, und jedes ist einzeln in einer Kiste verpackt.«

»Hm … Das klingt aber sehr eigenartig. Wissen Sie ganz genau, daß die Ladung mit diesem Zuge kam?«

»Simson, der Bremser, ist gerade hier, und ich will ihn kommen lassen. Dann können Sie die Geschichte von ihm selber hören.«

Der Wachtmann vom Transport erschien also jetzt auf der Bildfläche. Hazell schaute ihn sich aufmerksam an, aber in seinem biederen Gesicht war kein verdächtiger Zug zu finden. Auf die Anfrage erwiderte er: »Ich weiß genau, daß der Waggon im Zuge war, als wir von Didcot wegfuhren, und ich sah ihn auch noch in Upton, der nächsten Station, wo wir zwei Wagen abkuppelten. Der Waggon war der fünfte oder sechste vor meinem Bremswagen. Das weiß ich ganz genau. In Compton hielten wir, um einen Viehwagen anzuhängen, aber dort stieg ich nicht aus. Dann fuhren wir ohne Aufenthalt nach Newbury durch, ohne irgendwo zu halten, und erst da bemerkte ich, daß der Waggon sich nicht mehr im Zuge befand. Ich hielt es für sehr wahrscheinlich, daß man ihn versehentlich in Upton oder Compton stehen gelassen habe, aber da riet ich falsch, denn es heißt, er sei dort nicht. Mehr weiß ich nicht über die Geschichte, Sir. Tolle Sache, was?«

»Ganz seltsam!« rief Hazell aus. »Sie selber müssen sich geirrt haben.«

»Nein, Sir, ganz bestimmt nicht.«

»Hat der Lokomotivführer nichts gemerkt?«

»Nein, Sir.«

»Aber die Sache ist ja ganz unmöglich«, sagte Hazell. »Ein beladener Waggon kann doch nicht einfach weggezaubert werden! Um welche Zeit haben Sie denn Didcot verlassen?«

»Ungefähr um acht Uhr, Sir.«

»Ah! Also schon bei Dunkelheit. An der Bahnstrecke haben Sie nichts Außergewöhnliches bemerkt?«

»Nichts.«

»Und Sie waren vermutlich die ganze Zeit in Ihrem Bremswagen?«

»Ja, Sir, – während der Fahrt.«

In diesem Augenblick klopfte jemand an der Tür des Stationsvorstehers, und ein Gepäckträger trat ein.

»Gerade ist ein Personenzug von der Didcot-Zweiglinie eingelaufen«, sagte der Mann, »und der Lokomotivführer berichtet, er habe einen Güterwagen mit Versandkisten auf dem Nebengeleise in Churn stehen sehen.«

»Da schlag einer lang hin!« rief der Bremser aus. »Aber durch Churn sind wir doch ohne Aufenthalt gefahren! Die Züge halten doch dort nur, wenn die Soldaten dort kampieren.«

»Wo liegt denn Churn?« fragte Hazell, der hier zum erstenmal keine Erklärung fand.

»Churn besteht nur aus einem Perron und einer Ausweichstelle und liegt ganz nah am Kampierplatz zwischen Upton und Compton«, erwiderte der Stationsvorsteher. »Die Haltestelle ist nur errichtet worden, um es den Truppen bequem zu machen. Sie wird sehr selten benutzt, nur im Sommer, wenn die Soldaten dort kampieren.«

»Wenn möglich, möchte ich mich dort bald einmal umsehen«, sagte Hazell.

Der Stationsvorsteher meinte: »Das sollen Sie auch. Gleich wird ein Zug dahin abgehen. Inspektor Hill soll Sie dorthin begleiten und der Lokomotivführer wird angewiesen werden, dort zu halten. Ein anderer Zug wird Sie dann beide von dort zurückbringen.«

Es war noch keine Stunde vergangen, als Hazell und Inspektor Hill in Churn ausstiegen. Dieser Punkt liegt völlig einsam in einer ausgedehnten flachen Senkung der Hügel; kaum gibt es dort einen Baum. Das einzige Anzeichen einer menschlichen Ansiedlung ist eine Schäferhütte, eine halbe Meile entfernt.

Die »Station« selbst ist bloß ein einzelner Perron mit einem Schutzdach und einer einsamen Weichenstelle, die auf ein totes Nebengeleise führt. Am Ende dieses toten Geleises sind hölzerne Puffer angebracht für die Lastwaggons. Durch die Gleitzungen dieser Seitenstrecke kann man die Waggons aus dem toten Geleise herausfahren und sie in der Richtung nach Didcot einrangieren.

Und auf diesem toten Geleise, direkt bei den Holzpuffern, stand der verlorene Waggon. Er führte drei Versandkisten und trug die Aufschrift: »Leamington nach Winchester via Newbury«. Das also stand außer Frage. Aber wie er aus der Mitte eines Zuges, der ohne Aufenthalt durchgefahren, auf dieses Nebengeleise hatte gelangen können, war ein Rätsel, das selbst dem scharfen Verstand Hazells schwer verdaulich schien.

»Wir sollten uns jetzt einmal die Gleitzungen betrachten«, sagte der Inspektor, als sie den Waggon zur Genüge untersucht hatten. »Kommen Sie mit.«

Auf dieser primitiven Station gibt es nicht einmal ein Signalhäuschen. Die Gleitzungen werden mit Hilfe von zwei Hebeln gestellt, die in einem Rahmen im Boden verankert sind. Diese Hebel befinden sich eng am Hauptgeleise. Ein Hebel löst den Verschluß und der andere schiebt die Gleitzungen gleichzeitig hinüber.

»Wie steht's mit diesem Drehgeleise?« sagte Hazell, als sie näher herzutraten. »Es wird doch wohl so selten gebraucht, daß es praktisch nie benutzt wird?«

Der Inspektor erwiderte: »Stimmt. Zwischen das Ende der Gleitzunge und das Hauptgeleise ist ein Holzpflock hineingetrieben als Keil. Sehen Sie, hier ist dieser Keil und ganz unberührt! Auch die Hebel selbst sind fest angeschlossen – sehen Sie hier das Schlüsselloch im Bodenraum. Dies ist wahrhaftig die rätselhafteste Sache, die ich je erlebt, Mr. Hazell.«

Hazell stand, starrte die Gleitzungen und die Hebel an und war verblüfft und ratlos. Um den Waggon aufs tote Geleise zu bringen, hatte es keine andere Möglichkeit gegeben, als diese Maschinerie in Betrieb zu setzen. Wie sollte man das gemacht haben?

Plötzlich heiterte sein Gesicht sich auf. Um den Kopf der Schraube zu lösen, die den Holzkeil festhielt, hatte man offensichtlich Öl benutzt. Dann fiel sein Blick auf den Handgriff des einen Hebels, und ein leichter Ausruf des Vergnügens entfuhr ihm.

In diesem Augenblick sagte der Inspektor: »Schauen Sie her! Es ist ganz unmöglich, die Hebel zu bewegen.« Und streckte gleichzeitig seine Hand nach einem Hebel aus. Zu seiner Verblüffung packte Hazell ihn am Kragen und zerrte ihn zurück, bevor er den Hebel berühren konnte. Dabei rief er: »Verzeihung! Hoffentlich habe ich Ihnen nicht weh getan! Aber wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich diese Hebel zuerst photographieren.«

Ziemlich verdrossen beobachtete ihn der Inspektor, als er jetzt seine Kamera auf ein mitgebrachtes Stativ aufmontierte und in einer Entfernung von einigen wenigen Zoll den Handgriff eines der Hebel sehr sorgfältig photographierte.

»Sehe nicht ein, zu was das gut sein sollte, Sir«, grunzte der Inspektor. Aber Hazell ließ sich zu keiner Antwort herbei.

»Laß es ihn nur selbst herausfinden«, dachte er. Dann sagte er laut: »Ich stelle mir die Sache so vor, Inspektor. Man muß den Holzpflock unbedingt herausgenommen haben, denn ohne die Gleitzungen in Betrieb zu setzen, hätte man doch den Waggon nicht dorthin bringen können, wo er jetzt steht. Wie man das gemacht hat, ist ein Rätsel. Wenn aber der Täter ein irgendwie normaler Verbrecher war, so müßte man wenigstens ihn erwischen können.«

»Und wie macht man das?« fragte der Inspektor verblüfft.

»Das will ich jetzt noch nicht sagen. Was ich aber gerne feststellen möchte, ist der Zustand der Gemälde.«

»Das werden wir bald tun können«, antwortete der Inspektor. »Wir wollen ja den Waggon mit uns zurückbefördern.« Darauf begann er die Schraube mit einer Greifzange zu öffnen und sperrte dann die Verschlüsse der Hebel auf.

»Hm, das geht ja auffällig leicht«, bemerkte er, als er an einem der Hebel zog.

»Sie haben recht«, sagte Hazell. »Man hat auch kürzlich Öl angewandt.«

Bevor der Zug, der sie zurückbringen sollte, einfuhr, war noch eine Stunde Zeit, und Hazell nutzte sie aus, um zu der Schäferhütte hinüberzuwandern. Dort traf er eine Frau an und erklärte ihr: »Ich bin hungrig, und der Hunger ist uns von der Natur eingepflanzt zur Mahnung, daß wir essen sollen. Können Sie mich gütigst mit zwei Zwiebeln und einem Besenstiel versorgen?«

Die Frau redet noch heute von dem eigenartigen Fremdling, der den Besenstiel um seinen Kopf herumwirbelte und dazu feierlich, wie der Lord Oberrichter, seine Zwiebeln speiste. –

Das erste, was Hazell nach seiner Rückkehr in Newbury tat, war die Entwicklung seiner Aufnahmen. Am Abend waren die Platten trocken, so daß er zwei Photos auf Gaslicht-Papier abziehen konnte. Die klarere davon schickte er, zugleich mit einem Brief, an einen Beamten in Scotland Yard, den er gut kannte. Er fügte bei, in zwei Tagen würde er sich das Ergebnis der Prüfung erbitten, da er dann nach der Stadt zurückkehren wolle. Am nächsten Abend erhielt er einen Brief des Stationsvorstehers folgenden Inhalts:

»Sehr geehrter Herr. Ich versprach, Ihnen Bescheid darüber zu geben, ob mit den Gemälden, die sich in den Kisten jenes Waggons befanden, irgendwelcher Unfug getrieben worden ist. Gerade hat man mir von Winchester berichtet, daß man die Bilder ausgepackt und seitens des Komitees der Leihgaben-Ausstellung sorgfältig untersucht hat. Das Komitee ist fest überzeugt, daß weder eine Beschädigung noch sonst eine falsche Behandlung der Bilder vorgekommen ist, und daß sie im gleichen Zustand, in dem der Eigentümer sie abschickte, gut angekommen sind.

Wir können uns immer noch nicht erklären, wie der Waggon in Churn auf das Nebengeleise geraten ist und zu welchem Zweck. Von Paddington ist ein höherer Bahnbeamter dagewesen, und auf sein Ersuchen hin halten wir die Sache geheim, da ja auch die Gegenstände richtig ihr Ziel erreicht haben. Auch Sie werden gebeten, die Sache bei sich zu behalten.«

+++

»Die Sache wird immer rätselhafter«, sagte sich Hazell. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr.«

Am nächsten Tag ging er nach Scotland Yard und besuchte dort den ihm bekannten Beamten. Dieser sagte: »Mit Ihrer kleinen Sache da hatte ich gar keine Schwierigkeit. Das wird Sie freuen. Wir haben in unseren Fingerabdrücken nachgesehen und den Gesuchten bald gehabt.«

»Wer ist es?«

»Sein richtiger Name ist Edgar Jeffreys, wir kennen ihn aber unter verschiedenen Pseudonymen. Er hat viermal gesessen wegen Diebstahl und Raub. Das letztere bezog sich auf einen kühnen Eisenbahnraub. Das schlägt ja nun auch in das spezielle Fach Ihres Gauners, Mr. Hazell. Was hat er geliefert? Und wo haben Sie die Aufnahme herbekommen?«

»Denken Sie: Ich weiß noch selber nicht, was er eigentlich ausgefressen hat. Aber, wenn sich das herausstellt, möcht ich ihn doch gern selbst sprechen. Wie ich zu der Aufnahme komme, spielt jetzt keine Rolle, – zur Zeit handelt es sich um eine ganz private Sache, und vielleicht springt überhaupt nichts heraus.«

Der Beamte schrieb auf einen Zettel eine Adresse und gab sie Hazell. »Er wohnt jetzt zur Zeit dort unter dem Decknamen Allen. Wir haben ein Auge auf solche Leute, und wenn er auszieht, laß ich's Sie wissen.«

Als Hazell am folgenden Morgen seine Zeitung entfaltete, stieß er einen Freudenschrei aus. Kein Wunder: denn er las folgendes:

»DAS RÄTSEL EINES GEMÄLDES.
SIR GILBERT MURRELL UND DIE LEIHGABEN-AUSSTELLUNG IN WINCHESTER.
GANZ UNGEWÖHNLICHE ANKLAGE.

Das Komitee der obengenannten Ausstellung ist zurzeit in großer Aufregung, weil Sir Gilbert Murrell eine sehr seltsame Anklage gegen die Ausstellungsleitung erhoben hat.

Sir Gilbert, der in Leamington seinen Wohnsitz hat, ist der Besitzer einiger sehr wertvoller Bilder. Darunter befindet sich die berühmte ›Heilige Familie‹ des Velasquez. Mit zwei anderen Bildern zusammen wurde dieses Gemälde von ihm von Leamington nach Winchester geschickt, um dort ausgestellt zu werden, und gestern reiste er nach jener Stadt, um sich zu vergewissern, daß die Bilder richtig gehängt würden. Die ›Heilige Familie‹, so hatte er sich besonders ausbedungen, sollte an einer möglichst auffälligen Stelle angebracht werden.

Das fragliche Gemälde stand auf dem Fußboden der Galerie an eine Säule gelehnt, als Sir Gilbert mit einigen maßgebenden Herren des Komitees eintrat.

Es passierte nichts, bis er zufällig hinter das Gemälde trat. Da verblüffte er die Anwesenden durch die Behauptung, das Bild sei ja gar nicht das seinige, sondern man habe eine Kopie statt dessen untergeschoben. Darüber gäbe es für ihn gar keinen Zweifel, weil er gewisse private Merkzeichen auf der Rückseite der Leinwand angebracht habe, die für niemanden entzifferbar seien, die aber nun fehlten. Er gab zu, das Gemälde gleiche in jeder Beziehung dem seinigen, und es sei die gerissenste Fälschung, die er je gesehen. Die Auseinandersetzung, die sich nun ergab, war sehr peinlich, besonders da die Hängekommission darauf bestand, das Bild sei von ihnen im selben Zustand übernommen worden, wie es die Eisenbahngesellschaft abgeliefert habe.

Zur Zeit ist die ganze Angelegenheit ein undurchdringliches Rätsel. Sir Gilbert versicherte unserem Korrespondenten, dem er eine Unterredung bewilligte, mit äußerster Bestimmtheit, das Bild sei ganz sicherlich nicht das seinige und sprach die Absicht aus, das Komitee für die Unterschiebung, – denn eine solche müsse es sein, – voll verantwortlich zu machen, zumal da das Originalbild einen gewaltigen Wert repräsentiere.«

Es wurde Hazell ohne weiteres klar, daß die Zeitungen bis jetzt von dem seltsamen Zwischenfall in Churn keine Kenntnis erlangt hatten. In der Tat hatte auch die Bahngesellschaft die Geschichte mit äußerster Diskretion behandelt, und das Leihkomitee wußte nichts von dem, was sich auf der Linie ereignet hatte.

Aber Hazell sah voraus, daß eine Untersuchung stattfinden würde, und beschloß, das Rätsel ohne Verzug zu sondieren. Daß eine Unterschiebung, wenn Sir Gilbert mit seiner Annahme recht hatte, nur an jener toten Seitenstrecke in Churn ins Werk gesetzt hatte werden können, war ihm sofort ebenso klar. Er hielt sich gerade in seiner Londoner Wohnung auf, und fünf Minuten nachdem er den Artikel gelesen hatte, ließ er sich einen Wagen kommen und sich eiligst zu einem seiner Freunde bringen, der in Kunstkreisen als Kritiker und Kunsthistoriker wohlbekannt war.

»Was Sie eigentlich wissen wollen, das kann ich Ihnen schon im voraus ganz genau sagen«, sagte dieser, »denn ich habe mich über das Gemälde soeben genau unterrichtet, weil ich selber einen Artikel in einem Abendblatt darüber schreiben will. Es gab einmal eine berühmte Kopie eines Velasquez-Gemäldes, von der es hieß, sie sei von einem seiner Schüler gemalt worden. Ein paar Jahre lang herrschte große Meinungsverschiedenheit unter den jeweiligen Besitzern, welches nun die Kopie und welches das Original sei. Ich erinnere Sie nur daran, daß man sich auch heute wieder darüber streitet, ob eine Raffaelsche Madonna, die im Palace Hotel von St. Moritz hängt, echt ist, oder ob die Dresdener Galerie mit ihrem Anspruch auf Echtheit ihres Exemplars durchdringt.

Was aber jene ›Heilige Familie‹ betrifft, so wurde der Streit ein für allemal schon vor ein paar Jahren endgültig geschlichtet, und zweifellos war das Bild, das Sir Gilbert Murrell besaß, das Original. Was hinterher aus der Kopie wurde, weiß kein Mensch. Seit zwanzig Jahren hat man jede Spur von der Kopie verloren. Das ist alles, was ich an Aufklärung bieten kann. Ich werde die Sache in meinem Artikel journalistisch ein wenig ausschmücken und muß mich nun gleich an die Arbeit setzen. Leben Sie wohl!«

»Nur einen Moment: wo hat man die Kopie das letztemal gesehen?«

»Ach ja … Der alte Earl von Ringmere hatte sie zuletzt, doch als er erfuhr, sie sei eine Fälschung, hat er sie, so heißt es, für einen Pappenstiel verkauft, nachdem ja auch kein Interesse mehr dafür vorhanden war.«

»Lassen Sie sehen … Der ist ein ganz alter Mann, nicht wahr?«

»Ja, nahe an achtzig, und immer noch ganz verrückt auf Bilder.«

Als Hazell das Haus verließ, murmelte er vor sich hin: »Aha, es heißt also bloß, er habe die Kopie verkauft. Das ist ja höchst unbestimmt ausgedrückt. Niemand weiß, zu was solche Enthusiasten fähig sind, wenn sie einmal auf etwas ganz versessen sind. Manchmal verlieren sie dabei alles Gefühl für Anstand. Ich habe Burschen gekannt, die imstande waren, bei ihren Freunden Briefmarken- oder Schmetterlingssammlungen zu plündern. Wenn so etwas nun auch hier mitspräche? Donnerwetter, das gäbe einen schönen Skandal! Wenn ich imstande wäre, einem solchen Skandal wie diesem den Riegel vorzuschieben, dann hätte ich wohl bei gar vielen Leuten einen schönen Stein im Brett. Auf jeden Fall will ich einmal einen Schuß ins Blaue riskieren, und ich muß herauskriegen, koste es was es wolle, wie der Waggon neben die Strecke geraten ist.«

Wenn Hazell scharf darauf war, ein Eisenbahnverbrechen aufzuklären, so ließ er sich wahrhaftig nichts entwischen. In der nächsten Stunde war er schon an der Hausnummer, die man ihm in Scotland Yard gegeben hatte. Unterwegs hatte er eine leere Karte aus seiner Brieftasche gezogen und darauf geschrieben: »In Sachen des Earl von Ringmere.« Diese Karte steckte er in ein Kuvert.

»Es ist ein ziemlich kecker Trick«, sagte er sich, »aber wenn überhaupt was dran ist, kann man's ja probieren.«

Oben fragte er nach Mr. Allen. Die Frau, die die Tür öffnete, sah ihn argwöhnisch an und bemerkte, Mr. Allen würde wohl kaum zu Hause sein.

»Geben Sie ihm nur dieses Kuvert«, erwiderte Hazell. Nach zwei Minuten kam sie zurück und bat ihn, ihr zu folgen.

Ein untersetzter, sehniger Mann mit scharfen, bösartigen Augen stand wartend im Zimmer und blickte ihn genau so argwöhnisch an. »Na«, sagte er abgehackt, »was gibt's? Was wollen Sie?«

»Ich komme in Angelegenheiten des Earl von Ringmere. Das werden Sie noch besser verstehen, wenn ich das Wörtchen ›Churn‹ erwähne«, erwiderte Hazell. Damit spielte er kaltblütig seine Trumpfkarte aus.

»Na, und?«

Hazell schwang sich herum, drehte den Türschlüssel um und steckte ihn in die Tasche. Es ging blitzschnell. Dann machte er sich auf den Angriff des Mannes gefaßt. Dieser sprang vorwärts, aber im Nu ließ Hazell ihn in die Mündung eines Revolvers sehen.

»Was! Sie sind Detektiv!«

»Nein, ich bin keiner. Ich hab Ihnen ja mitgeteilt, ich käme in Angelegenheiten des Earl. Es müßte Ihnen doch klar sein, daß ich nur um seinetwillen auf der Jagd nach Aufklärung bin.«

»Was will denn nun der alte Narr?« fragte Jeffreys.

»Aha, ich sehe schon. Sie wissen was darüber. Jetzt hören Sie mir ruhig zu, und vielleicht nehmen Sie dann ein wenig Vernunft an. Neulich nachts haben Sie das Bild in Churn ausgewechselt.«

Der andere begann leicht zu grinsen; es schien, als wolle er klein beigeben. »Nun, dann wissen Sie ja schon so ziemlich die Hauptsache.«

»Allerdings weiß ich alles, bis auf einiges Wenige. Es war dumm von Ihnen, Ihre Spur auf dem Hebel dort zu hinterlassen, wie?«

»Wie ist mir denn das passiert?« fuhr es dem Mann heraus. Damit hatte er sich schon verraten.

»Sie haben da mit Öl herumgewirtschaftet und dabei Ihren Daumenabdruck auf dem Handgriff zurückgelassen. Den photographierte ich und ließ ihn in Scotland Yard identifizieren. Sehr einfach.«

Jeffreys stieß einen verstohlenen Fluch aus. »Ich wüßte nun gern, was Sie eigentlich bezwecken?« sagte er.

»Für dies kleine Geschäft hat man Sie recht gut bezahlt, vermute ich?«

»Das mag schon sein; deswegen habe ich aber keine Lust, ein Risiko einzugehen. Das habe ich dem Alten auch gesagt. Der ist noch schlechter als ich. – Der hat mich benutzt, um das Bild zu stehlen. Wenn's herauskommt, hat er es auszufressen. Aber ich vermute, daß er in keinen Skandal verwickelt sein will, und daß das auch der Grund ist, weswegen Sie hier sind.«

»Da haben Sie ganz recht. Nun hören Sie mal. Sie sind ein Schurke, und eigentlich verdienten Sie, daß Sie dafür bestraft werden. Aber ich behandle die Sache zunächst als meine eigenste Privatangelegenheit, und wenn ich das Original seinem Eigentümer wieder zustellen kann, so bilde ich mir ein, daß alle Beteiligten besser fahren, wenn man's vertuscht. Hat der alte Earl das Original bekommen?«

»Noch nicht«, gab der andere zu, »dafür war er zu gerissen. Aber er weiß, wo es steckt, und ich weiß es auch.«

»Das hat endlich einmal Hand und Fuß. Schauen Sie her! Beichten Sie mir alles und ich will es mir notieren. Ihre Aussage müssen Sie dann vor einem Beamten eidlich beschwören, – er braucht ja den Inhalt der Aussage nicht zu kennen. Ich werde nur wenn es nötig ist davon Gebrauch machen. Ich glaube aber, diesen Schritt brauche ich gar nicht zu tun, wenn Sie mir helfen, das Bild Sir Gilbert wieder zuzustellen.«

Nach einigem Hin- und Herreden erzählte Jeffreys den Vorgang. »Der alte Earl ist der eigentliche Anstifter. Wie ich von ihm abhängig wurde, spielt keine Rolle; vielleicht war auch ich derjenige, der ihn in der Hand hatte … Das geht Sie aber nichts an. Er hatte das gefälschte Gemälde, das er besaß, jahrelang in seiner Rumpelkammer aufgehoben. Dabei hatte er aber nie aufgehört, auf das Original scharf zu sein. Für die Kopie hatte er eine Masse Geld bezahlt, und so bekam er die Zwangsvorstellung, er müsse um jeden Preis das Original an deren Stelle bekommen. Er ist ja ganz verrückt auf Bilder.

Wie ich also sagte, hat er die Fälschung verborgen gehalten und den Leuten eingeredet, er habe sie verkauft. Die ganze Zeit aber hoffte er dabei, er könnte sie auf irgendeine Weise für das Original eintauschen.

Da kam nun ich daher und unternahm für ihn das Geschäft. Kitzlige Sache war es, und drei von uns waren dabei beteiligt. Wir fanden heraus, mit welchem Zug das Bild befördert werden solle. Das war eine Kleinigkeit. Dann verschaffte ich mir einen Schlüssel, um den Bodenrahmen aufzusperren, und den Keil durch Abschrauben herauszunehmen war kinderleicht. Die Gelenke der Gleitzungen ölte ich gut ein, so daß die Sache jederzeit auf Wunsch funktionieren konnte.

Auf der toten Strecke war ich und ein Freund. Der sollte die Bremsvorrichtung ins Werk setzen, wenn der Waggon einlief. Ich sollte die Gleitzungen bedienen. Mein anderer Freund, der den schwierigsten Teil übernommen, sollte im Güterzug in einem Waggon unter dem Teertuch versteckt ankommen. Er sollte zwei sehr haltbare Stricke mitbringen, beide an jedem Ende mit einem Haken versehen.

Als der Zug von Upton abfuhr, ging er an die Arbeit. Güterzüge fahren sehr langsam, und wir hatten genügend Zeit. Vom hintersten Bremswagen an gerechnet, war der Waggon, den wir abzulenken hatten, No. 5. Zunächst hakte er No. 4 an No. 6, wobei er den Haken an der Seite am Ende jedes der beiden Waggons befestigte. Den schlaffen Strick, den er in der Hand behielt, rollte er dann auf. Als dann der Zug eine leichte Senkung hinunterfuhr, löste er die Kuppelung von No. 5 zu No. 4, wobei er sich auf No. 5 stellte. Das war gar nicht schwer, denn er hatte einen Eisenstab, womit man kuppelt, bei sich. Dann ließ er den aufgerollten Strick ablaufen, bis er sich spannte. Hierauf hakte er den zweiten Strick von No. 5 aus an No. 6, löste die Kuppelung zwischen 5 und 6, und ließ auch das zweite Seil straff werden.

Nun können Sie begreifen, was passieren mußte. Die letzten paar Waggons des Zuges wurden nun durch einen langen Strick nachgezogen, der von No. 4 zu No. 6 reichte, und dazwischen war eine Unterbrechung entstanden. In der Mitte dieses so geschaffenen Raumes lief No. 5, vermittels eines kurzen Seiles mitgezogen von No. 6. Mein Freund hatte sich auf No. 6 gestellt mit einem scharfen Messer in der Hand.

Das übrige war leicht. Ganz nah am Hauptgeleise hatte ich die Hand am Griff des Hebels. Dort war ich hingesprungen, sobald die Lokomotive die Stelle passiert hatte. Im Augenblick, als die Unterbrechung hinter No. 6 zum Vorschein kam, riß ich den Hebel, und Nr. 5 glitt auf das tote Geleise, während mein Freund gleichzeitig den kurzen Verbindungsstrick durchschnitt. Unmittelbar nachdem der Waggon auf der Weiche abgezweigt und vorbeigelaufen war, riß ich den Hebel wieder zurück, so daß das ganze Ende des Zuges auf dem Hauptgeleise weiterfuhr. Kurz vor Compton ist noch eine Senkung, und die letzten vier Waggons holten auf und näherten sich von selbst der Hauptmasse des vorderen Zuges. Inzwischen rollte mein Freund den Strick wieder auf und kuppelte schließlich No. 4 an No. 6 im Moment, wo sie zusammenkamen. Dann sprang er vom Zug, während dieser ganz langsam in Compton eintraf. So wurde die Sache also gedeichselt.«

Hazells Augen blitzten begeistert. »Das ist wahrhaftig das raffinierteste Ding, was je auf der Bahn gedreht worden ist«, sagte er.

»Wirklich? Nun ja, Geschicklichkeit mußte schon dabei sein. Das Nächste, was wir zu tun hatten, war die Öffnung der Kiste. Wir drehten die Schrauben heraus, nahmen das Bild aus seinem Rahmen und taten an dessen Stelle die Kopie hinein, die wir bei uns hatten. Das dauerte zwar ein Weilchen, aber an jener einsamen Stelle brauchten wir nicht zu fürchten, gestört zu werden. Dann nahm ich das Original aufgerollt mit mir und versteckte es. Der alte Earl wollte es unbedingt so haben. Ich sollte ihm mitteilen, wo es war, und dann wollte er ein paar Wochen warten und es selber holen.«

»Wo haben Sie es denn versteckt?«

»Werden Sie aber auch ganz sicher die Sache vertuschen?«

»Ich hätte Sie längst arretiert, wenn ich das nicht im Sinn hätte.«

»Also: von Churn nach East-Ilsley läuft ein Fußweg über die Hügel, und zur rechten Hand ist da ein alter Schäferbrunnen, – ganz ausgetrocknet. Da drunten steckt das Bild. Sie können den Strick, an dem das Bild hängt, leicht entdecken. Er ist nah an der Einfassung befestigt.«

Hazell schrieb sich die Beichte des Mannes auf, die dieser beschwören mußte. Sein Gewissen zwar war nicht ganz beruhigt. Er hätte doch vielleicht strengere Maßregeln ergreifen sollen.

+++

»Ich sagte Ihnen ja, ich bin lediglich ein Privatmann«, sagte Hazell zu Sir Gilbert Murrell. »Indem ich Ihnen Ihr Bild wiederbringe, handele ich in eigenster Angelegenheit.«

Sir Gilbert löste seinen Blick von dem Gemälde los und richtete ihn auf Hazells ruhiges Gesicht. »Wer sind Sie?« fragte er.

»Ich habe den Ehrgeiz, Büchersammler zu sein; haben Sie vielleicht meine kleine Abhandlung über Einbände aus der Zeit König Jakobs gelesen?«

Sir Gilbert sagte: »Das Vergnügen habe ich zwar nicht gehabt, aber ich muß doch ein wenig genauer orientiert werden. Wie sind Sie in den Besitz dieses Bildes gekommen? Wo war es, und wer …?«

Hazell unterbrach ihn. »Ich könnte Ihnen natürlich die ganze Wahrheit erzählen. Ich selber aber habe mit dem Diebstahl nicht das geringste zu tun. Durch bloßen Zufall eigentlich kam ich dahinter, auf welche Weise man Ihr Bild gestohlen hatte und wo es steckte.«

»Aber ich will alles darüber wissen«, sagte Gilbert. »Ich will Klage erheben … Ich …«

»Lieber nicht. Erinnern Sie sich, wo man die Kopie zuletzt gesehen hatte?«

»Ja. Der Earl von Ringmere war der Besitzer. Er hat sie verkauft.«

»Wirklich?«

»Nanu?«

Hazell sagte mit einem merkwürdigen Ausdruck: »Gesetzt den Fall, er hätte sie gar nicht verkauft, er hätte sie die ganze Zeit über behalten?«

Ein langes Schweigen erfolgte.

»Gerechter Himmel!« rief Sir Gilbert schließlich aus. »Meinen Sie tatsächlich, daß …?? Aber er steht doch schon mit einem Fuß im Grabe, ist doch schon uralt, ich habe erst vor vierzehn Tagen mit ihm soupiert …«

»Wollen Sie noch Weiteres wissen, Sir Gilbert?«

»Es ist furchtbar! Nun, ich habe ja mein Bild wieder. Um alles in der Welt möchte ich diesen Skandal vermeiden.«

»Es braucht nie einen Skandal zu geben. Sie werden ja schon mit den Leuten in Winchester ins Reine kommen.«

»Ja, das muß ich wohl, und wenn ich auch zugeben müßte, daß ich im Irrtum war, und die Kopie für die Dauer der Ausstellung dort lassen müßte.«

»Ich glaube selber, das wäre am besten«, sagte Hazell.

(Eigentlich, dachte er noch, müßte Jeffreys von Rechts wegen sein Fett abbekommen; er war Sportsmann genug, um ihn insgeheim zu bewundern.)


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