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H. C. Bailey.
Das Hünengrab

1878 – 1961

 

Mr. Fortune kam nachdenklich aus dem Zoologischen Garten zurück. Man hatte ihn gerufen, um den seltsamen und traurigen Todesfall Zuleikas, des Maki, zu untersuchen.

Er klingelte nach seinem Tee; da brachte man ihm die Visitenkarte einer Dame. Ein gewisses Fräulein Isabel Woodall (Adresse nicht angegeben) wünsche Mr. Fortune zu konsultieren; sie habe eine halbe Stunde gewartet. Mr. Fortune seufzte und ging ins Wartezimmer.

Es erhob sich Fräulein Woodall, eine Dame, die zwar nicht mehr die Jüngste, aber immer noch recht hübsch zu nennen war. Sie war groß und blond, aber so einfach und dunkel gekleidet, daß sie nicht recht zur Geltung kam. »Mr. Fortune?« erkundigte sie sich mit angenehmem, bescheidenem Lächeln.

»Jawohl. Aber leider scheinen Sie nicht zu wissen, daß ich zur Zeit nicht praktiziere.«

»Ich komme ja in keiner ärztlichen Angelegenheit zu Ihnen. Ich bin keine Patientin, Mr. Fortune, ich bin nicht krank. Wenigstens halte ich mich nicht dafür. Ich wollte Sie wegen einer rätselhaften Sache konsultieren.«

»Oh! So etwas löse ich gewöhnlich nur mit Hilfe der Polizei, Miß Woodall.«

»Die Polizei will hier nichts unternehmen. Sie lacht uns aus.« Sie zerknitterte ihr Taschentuch zwischen den Fingern. »Ich bin ganz entsetzlich beunruhigt, Mr. Fortune, und ich weiß nicht, was ich tun soll.« Sie blickte ihn mit großen angstvollen Augen an. »Haben Sie etwas dagegen, meinen Bericht zu hören?«

Reggie Fortune hatte nichts dagegen. Ihr Anblick war ihm angenehm. Er öffnete die Tür zum Untersuchungszimmer.

»Ich bin die Sekretärin von Mr. Larkin«, erläuterte sie. »Mr. Joseph Larkin, Sie kennen ihn doch?«

»Der Altertumsforscher?« murmelte Fortune.

»Der Archäolog«, korrigierte Miß Woodall ihn mit schneller Bestimmtheit. »Er ist die größte englische Autorität, Mr. Fortune, was das Steinzeitalter betrifft. Er besitzt drunten in Dorsetshire ein Haus, gerade bei der Grenze des Neuen Waldes, Restharrow, Stoke Abbas.« Reggie machte sich eine Notiz, was sie auch zu erwarten schien. »Ich habe bisher dort drunten mit ihm zusammengearbeitet, aber seit kurzem ist es ganz schrecklich, Mr. Fortune.« Ihre Stimme hob sich. »So als wollte jemand mich wegtreiben.«

»Nun gut. Jetzt wollen wir mal am Anfang beginnen. Wie lange sind Sie die Sekretärin von Mr. Larkin?«

»Länger als ein halbes Jahr.«

»Und vordem? – Hat sich vordem niemand ›schrecklich‹ gegen Sie benommen?«

Sie starrte ihn an. »Natürlich nicht. Vorher habe ich persönlich nie etwas erlebt. Wie meinen Sie das, Mr. Fortune? Glauben Sie etwa, Mr. Larkin selbst …«

»Vorläufig glaube ich noch gar nichts«, sagte Reggie. »Also: Sie haben ein friedsames Dasein geführt, bis Sie die Sekretärin von Mr. Larkin wurden, und dann?«

»Oh, noch lange Zeit danach passierte nichts. Während wir in London lebten, war alles friedlich. Aber im Frühjahr mietete Mr. Larkin dieses Haus in Stoke Abbas. Der Ort ist reizend, dort, wo die Hügel mit dem Moor verschmelzen. Mr. Larkin wollte die vorgeschichtlichen Altertümer dort studieren. Man findet dort eine ganze Menge alte Tonscherben und Begräbnisplätze.«

»Stimmt. Auf den Hügeln dort gibt es einige Hünengräber.«

Sie beugte sich vor und schlug die Hände zusammen. »So ist es, Mr. Fortune«, sagte sie mit tiefer eifriger Stimme. »Mr. Larkin hat Studien gemacht zu dem Zweck, um das Hünengrab oberhalb von Stoke Abbas auszugraben. Wußten Sie was davon?«

Reggie lächelte. »Nein. Ich fürchte, ich habe diesen Bemühungen von Mr. Larkin bisher nicht die richtige Aufmerksamkeit geschenkt.«

Sie lehnte sich wieder im Stuhl zurück und stieß einen kleinen Schrei des Ärgers aus. »Versuchen Sie bitte, ernst zu bleiben! Was Sie jetzt sagen, meint auch die dumme Polizei da drunten. Die machen sich darüber nur lustig, als ob ich eine nervöse Närrin wäre. Dabei ist es so schrecklich, Mr. Fortune.«

»Warum sagen Sie mir dann nicht, worum es sich handelt?« schlug Reggie vor.

»Aber das ist ja gerade so schwierig.« Sie spähte an sich herunter und nestelte an ihrem Blusenausschnitt. »Man weiß ja gar nichts Genaues, sehen Sie. Es sieht so aus, als ob jemand was im Schilde führte gegen mich; als ob jemand mir nahetreten wollte. Ich werde verfolgt, Mr. Fortune. Immer wenn ich allein ausgehe, folgt man mir.«

Reggie seufzte. Wie viele Leute hat es nicht schon gegeben, die mit so einer unbestimmten Klage zu geduldigen Ärzten oder ungläubigen Polizisten gelaufen sind! »Wer folgt Ihnen denn?« meinte er resigniert.

»Aber das weiß ich nicht! Ich weiß nur, daß es jemand tut. Man beobachtet mich.«

»Aber warum sollte Sie denn jemand beobachten, Miß Woodall?«

»Das will ich ja gerade wissen!« rief sie. »Jemand tut's, ich habe ihn gehört. Ich hab seinen Schatten gesehen.«

»Dann sind Sie also sicher, daß es ein Mann ist?« lächelte Reggie.

»Sie glauben mir noch nicht richtig«, fuhr Miß Woodall allmählich ärgerlich werdend fort. »Dabei bleibt es nicht. Wenn ich allein ausgehe, finde ich tote Tiere.«

Reggie setzte sich auf. »Was nicht gar!«

Sie dachte, er sei immer noch ironisch. »Wahrhaftig, Mr. Fortune. Richtige tote Tiere. Zwei Krähen habe ich gefunden und einen anderen Vogel – einen Häher – und ein Wiesel. Schauderhaft!« Sie schüttelte sich.

Reggie murmelte: »Dann herrscht ja eine außergewöhnliche Sterblichkeit unter den Tieren von Stoke Abbas. Wie sind diese Tiere denn zugrunde gegangen, Miß Woodall?«

»Guter Gott, ich hab keine Ahnung. Sie waren mausetot. Sie lagen genau auf dem Wege, auf dem ich ging.«

»Sehr interessant.«

»Das ängstigt mich, Mr. Fortune. Was bedeutet das?«

»Das würd ich selber gern wissen«, gab Reggie zu. »Ich will die Sache untersuchen, Miß Woodall.«

»Sie selbst? Oh, herzlichen Dank. Sie wollten wirklich! Ach, ich wünschte so, daß es aufgeklärt werden könnte!« Ihr Dank war uferlos. Sie suchte in ihrer Handtasche herum. »Wie hoch belaufen sich Ihre Ansprüche, Mr. Fortune?«

»Das mache ich umsonst, Miß Woodall.« Damit wurde er sie los. Er schlug im Lexikon nach, um Näheres über Mr. Joseph Larkin zu erfahren. »Da bin ich ja wirklich neugierig«, meinte er für sich und klingelte wieder nach Tee.

+++

Am nächsten Tage nahm er in einem seiner Clubs, wo man sich ausgezeichnet auf Heringe verstand, sein Mittagessen. Der Chef der Untersuchungsabteilung im Kriminalamt sah ihn und stahl sich zu seinem Tisch hinüber. Sie beide waren für einfache Lebensführung. Sie vertieften sich in eine gründliche Unterhaltung, ob man den Hering noch würzen dürfe, wenn er eingepökelt sei. Schließlich tat der Hon. Sidney Lomas einen Einspruch: »Unsere Unterhaltung reizt mich sehr, Reginald, meinte er. »Aber ich vergesse darüber ganz, daß ich ja eigentlich mit Ihnen sprechen wollte. Kuriose alte Nummer kam heute morgen zu mir, ein gewisser Joseph Larkin, Archäolog, und erzählte …«

»Er erzählte«, unterbrach ihn Reggie, »daß er ein Hünengrab in Stoke Abbas ausbuddeln wolle, daß jemand ihm ein Bein stelle, was den Fortschritt der Wissenschaft hemme; daß niemand ihn möge, und wofür, zum Henker, die Polizei eigentlich da wäre. Stimmt das, Sir?«

»Wie haben Sie das nun rausgekriegt, Reginald? Botschaft aus der Geisterwelt, oder bloße Gedankenleserei?«

Reggie lächelte. »Titel: Satans unsichtbare Welt, aufgezeigt von R. Fortune. Nein, Lomas, alter Bursche. Nichts Magisches. Die hübsche Isabel hat mir ihren Kummer gebeichtet.«

»Das ist doch Miß Woodall, die Sekretärin? Also kam sie zu Ihnen? Der alte Knabe hat mir nichts davon erzählt.«

»Ebensowenig hat mir die hübsche Isabel erzählt, daß Joseph zu Ihnen komme.«

Die zwei Männer blickten einander an. »Merkwürdiger Mangel von Vertrauen zwischen den beiden«, sagte Lomas.

»Ja, da sind noch andere komische Punkte. Was ist denn nun Josephs Geschichte? Geht man ihm nach, wenn man allein ausgeht? Findet er auch tote Tiere auf dem Weg?«

»Die Kadaver sind nicht für ihn. Die hebt man für Miß Woodall auf. Aber verfolgt wird er. Er hört seltsame Geräusche in der Nacht. Von außerhalb des Hauses. Darüber gibt es für ihn keinen Zweifel.«

»Isabel hat nichts von Geräuschen gesagt«, murmelte Reggie.

»Hat sie auch nicht. Der alte Knabe meinte, sie hätte keine gehört, und er wollte sie nicht ängstigen, weil ihr sowieso schon die Knie schlottern. Angst um sie ist seine größte Sorge. Er macht sich scheint's sehr viel aus seiner hübschen Sekretärin. Wie kam sie Ihnen vor, Reginald?«

»Die hat schon einen richtigen Wind im Segel, und von gestern ist sie auch nicht. Seltsame Sache.«

Lomas zuckte die Schultern. »Für mich sehr einfach. Der alte Knabe begibt sich zu diesem einsamen Platz und will da ein altes Grab ausbuddeln, und die Landbevölkerung mag das nicht und spielt ihm einen Streich, um ihn wegzuscheuchen. Das glaubt wenigstens die Ortspolizei. Ich hab heute morgen mit ihr telephoniert.«

»Und die Ortspolizei will mit der Bevölkerung wegen ein paar Fremden keine Schererei.«

»Das kann ich den Leuten nachfühlen«, lächelte Lomas. »Auf jeden Fall ist da für uns nichts zu holen.«

»Wirklich?« meinte Reggie. »Warum kam denn sie zu mir und er zu Ihnen?«

»Ach, mein lieber Junge, sie haben beide Angst, und jedes will's vor dem andern verbergen. Sie denken beide, dem anderen könnte was Fürchterliches zustoßen, und wollen Schutz, ohne daß der andere noch mehr Angst bekommt.«

»Ja. Sehr verständlich. Wissen Sie aber was Genaueres über die beiden?«

»Joseph ist vermögend; vor sechs Monaten kam Isabel zu ihm. Allerbeste Referenzen, sagt er. Klassisch geschult, sagt er, unter tausend Frauen wäre kaum eine solche zu finden.«

Reggie lächelte. »Für sein Geschäft! Aber, lieber Freund, er hat gar keine Beschäftigung. Er ist bloß verdreht. Immerfort macht er sich hier, dort oder sonstwo unnütz. Woher kommt denn dies mächtige Interesse plötzlich für dies ganz bestimmte Hünengrab? Warum ist denn Isabel so furchtbar nervös, verfolgt zu werden? Sie ist kein Backfisch und außerdem nicht dumm.« »Ich weiß nicht, Reginald, worauf Sie abzielen«, sagte Lomas stirnrunzelnd.

»Wüßt ich's doch! Das macht mir ja gerade Kopfzerbrechen. Ich will jetzt hinreisen und mir Stoke Abbas ansehen. Geben Sie mir Underwood mit.«

»Aber was denken Sie denn davon?« drang Lomas in ihn.

»So, wie es aussieht, kommt es mir unnatürlich vor«, sagte Mr. Fortune.

+++

Am nächsten Morgen holte er mit seinem Auto den Polizeisergeanten Underwood ab und fuhr mit ihm die Straße nach Southampton hinunter. Underwood, der aussah wie ein netter unschuldiger Student im ersten Semester, lehnte sich voller Behagen zurück und genoß das schnurrende Tempo des großen Wagens. Reggie studierte eingehend eine Generalstabskarte der Gegend. Als sie den Hügel nach Bagshot hinaufsausten, steckte er sie weg und lächelte Underwood zu. »Nun, Kindchen, glauben Sie, daß es etwas für Ihren Geschmack wird?«

»Ich arbeite gern unter Ihnen, Mr. Fortune. Aber ich weiß nicht, was ich zu tun habe.«

»Schmetterlinge haben Sie zu fangen. Sie sind ein vielversprechender junger Entomologe, der im Neuen Wald seltene Arten jagt.« Er hielt dem Jüngling in der Folge eine kleine Vorlesung über englische Schmetterlinge und Nachtfalter. »›Eine Stunde Entomologie, gehalten von R. Fortune.‹ Ist Ihnen das aufgegangen?«

Sergeant Underwood schnappte etwas nach Luft. Seine angenehmen Züge verrieten, wie sein Hirn hatte arbeiten müssen. »Ja, Sir. Ein bißchen. Aber Mr. Lomas hat was fallen lassen von einem Hünengrab. Ich weiß zwar nicht ganz genau, was das ist. Aber was hat es mit Schmetterlingen zu tun?«

»Hat es auch nicht. Ein Hünengrab ist der Hügel, den man über ein altes Grab aufgetürmt hat. Jahrtausende alt.« Er öffnete wieder die Karte. »Hier, sehen Sie, ist unser Hünengrab. Mr. Larkin und Miß Woodall, die in diesem Hause wohnen, wollen es ausgraben. Komische Sachen sind da vorgekommen. Sie werden sich ein Zimmer mieten in irgendeinem netten Wirtshaus in der Nähe, aber nicht zu nahe! – Und Sie werden das Grab unter Beobachtung halten und die beiden, kurz jedermann unter Kontrolle haben; und bei dieser Beschäftigung werden Sie Schmetterlinge fangen.«

In Southampton kaufte er für den Sergeanten die vollständige Ausrüstung für einen Schmetterlingsjäger und schickte ihn mit dem Zuge voraus nach Stoke Abbas. Er selber fuhr im Auto durch die bewaldeten Täler des Neuen Waldes bis hinauf zu dem kahlen Heideland.

Der Tag war bewölkt; selbst die Luft über dem Moor war grau, und das weithin wallende Heidekraut war so dunkel wie die schwarze Erde. Das Waldgebiet in der Ferne war farblos, und die Kalkberge im Norden zerflossen in Dunst. Mr. Fortune ließ anhalten und blickte sich um. In einer Vertiefung nistete grauer Rauch, aufsteigend von verdeckten Häusern. Soweit sein Blick reichte, gab es weder Mensch noch Menschenwerk. Kein Vieh belebte diese moorige Gegend, kein Zeichen des Lebens rührte sich; nur Bienensummen, Zirpen von Heuschrecken und der Tanz von Fliegen oder Schmetterlingen belebte die drückende Luft.

»Einsam hier, was, Sam?« sagte Fortune und stieg aus dem Wagen.

»In London ist mehr los«, bestätigte Sam, der Chauffeur.

Mr. Fortune betrat einen Pfad, den er im Heidekraut entdeckte. Das Begehen machte Schwierigkeiten, denn es handelte sich mehr um einen Graben als um einen Pfad, er war längst außer Benutzung und ganz überwuchert. Seine Tiefe zeigte aber, daß einst viele Füße hier gewandert waren. Er führte an einem grauen Schuppen vorbei, der sich bei einem Moorpfuhl duckte, wo ein struppiger Esel angebunden stand und einige Hennen (von der Sorte, aus der früher die Kampfhähne gezüchtet wurden) im Sand scharrten. Das heidekrautbelegte Dach war verfallen, die Lehmwände zerbröckelten bereits an einigen Stellen und legten das Fachwerk bloß, und die kleinen Fenster waren ohne Vorhang.

Der Pfad führte weiter auf einen steilen Hügel. Mr. Fortune ächzte (er war nicht gut zu Fuß) und begann hinaufzusteigen. Eine lange Narbe zog sich durch den Hügel. Als er hinzutrat, erkannte er den doppelten Wassergraben und die Überreste einer alten Befestigung. Er kroch hindurch und erreichte die abgeflachte Höhe des Hügels. Hier erhob sich das lange Hünengrab von Stoke Abbas.

Noch hatte Mr. Joseph Larkin nicht darin gegraben. Es war noch unberührt. Die Erhöhung war von Heidekraut überwuchert und von knorrigem Stechginster. Die schwarze Torferde darunter war seit langen Jahren nicht umgewühlt worden.

Reggie blickte meilenweit in das nackte Moorland hinein und konnte zwischen sich und dem Horizont niemanden entdecken. Aber auf der anderen Seite des Hügels, so sah er jetzt, war eine runde Vertiefung, und dort drunten hüpfte gerade ein Kaninchen in sein Loch hinein. In dieser Richtung stieg Mr. Fortune hinunter. Da fand er einen Mann, der so vertieft war in die Beschäftigung, im Heidekraut hockend kleine Besen anzufertigen, daß er den Ankömmling gar nicht bemerkte. »Hallo, guten Tag!« sagte Mr. Fortune und stand still. »Wie nennt man eigentlich das Ding hier oben?«

Der Mann hob seine verkrümmten Schultern und zeigte ein dunkles bartloses Gesicht mit hervortretenden Backenknochen; der Kopf war groß für seine kleine Figur. Er starrte ihn an wie ein aufgeschrecktes Tier.

»Wissen Sie nicht, wie das Ding da droben heißt?« fragte Reggie wiederum.

»Drachenhügel, das ist der Drachenhügel«, rief der Mann, packte seine Besen zusammen und glitt durch das Heidekraut hinweg. Seine Beine waren kurz, aber seine Schnelligkeit überraschte.

Mr. Fortune schlenderte zu seinem Wagen zurück und ließ sich zu dem Hause von Mr. Joseph Larkin fahren. Es stand jenseits des Dorfes, quadratisch aus rotem Ziegelstein errichtet, in einer Gartenanlage von Rhododendron. Mr. Larkin war ausgegangen, ebenso Miß Woodall.

Die gleichgültige Durchschnittseinrichtung des Empfangszimmers hatte etwas Niederdrückendes. Das einzige Buch, das vorhanden schien, war das »Verlorene Paradies«, von Gustav Doré illustriert. Es schauderte ihn, und er schritt melancholisch auf und ab, bis er auf dem Schreibtisch den Katalog eines Buchantiquariats entdeckte.

Gar seltsam schien Mr. Larkins Geschmack in Büchern zu sein. Die Titel, die er sich angemerkt, waren sehr verschieden. Da fanden sich Predigtsammlungen, ein Kinderbilderbuch, Mr. Smiles Traktat über »Emsigkeit«, eine Geschichte der Aviatik und schließlich Isaac Walton. Diese Titel hatte er auf seltsame Weise bezeichnet: immer war unter einen bestimmten Buchstaben eine kleine Linie gezogen. Fortune grübelte nach. Die Buchstaben, zusammengesetzt, ergaben das Wort: SKYTHAI. Jetzt hörte man draußen jemanden sprechen. Schnell legte Reggie den Katalog zurück.

Ein behaglich aussehender älterer Mann trat lächelnd ein. »Mr. Reginald Fortune? Ich weiß nicht, hatte ich schon das Vergnügen …«

»Sie haben in Scotland Yard einen Besuch gemacht, Mr. Larkin.«

»Ah! Dann kommen Sie ja von Mr. Lomas! Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen. Wirklich sehr nett.«

Sein rosiges Gesicht erglänzte. »Nun wollen wir schnell einmal in mein Arbeitszimmer gehen, und ich werde Ihnen die ganze Geschichte erzählen.«

Dies tat er; seine Erzählung ging sehr in die Breite, aber etwas Neues kam darin nicht vor, und mitten hinein platzte Miß Woodall. »Mr. Fortune! Sind Sie wirklich in Person hergekommen! Wie reizend ist das von Ihnen!« Während sie Reggies Hand ergriff, lächelte sie Larkin an.

Dies hatte er nötig, denn er war reichlich aus dem Konzept gebracht.

»Ja, kennen Sie denn Mr. Fortune, meine Liebe?« sagte er stirnrunzelnd.

»Ich kannte ihn nicht. Aber er ist, wie Sie auch wissen, ein berühmter Sachverständiger. Ich ging zu ihm, um wegen dieser schrecklichen Geschichte seinen Rat zu hören.«

»Aber, liebes Kind, davon haben Sie mir nichts gesagt.«

»Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß Sie sich so sorgten, Mr. Larkin«, sagte sie und legte ihre Hand auf sein Haar.

»Na, na. Schon gut. Aber Sie hätten's nicht tun sollen. Das wissen Sie. Wirklich nicht, meine Gute. Überlassen Sie mir doch alles.«

»Sie sind sehr gütig«, murmelte sie.

»Ich habe alles in die Wege geleitet«, zirpte Mr. Larkin. »Ich war derjenige, der den Stier bei den Hörnern packte, diesen Mr. Sidney Lomas. Und hier haben wir nun unseren Sachverständigen.« Er strahlte Reggie an. »Nun … Ich denke, ich habe Ihnen jetzt alles haarklein erzählt, Mr. Fortune.«

»Doch nicht so ganz«, setzte Reggie leise dagegen. »Warum sind Sie eigentlich so ganz besonders interessiert an diesem Hünengrab, Mr. Larkin?«

Dieser fing seine Erklärung an. Sie dauerte lange. Von den Phöniziern war die Rede. Reggie bekam zu hören, die Phönizier habe es überall gegeben, und vor der Morgendämmerung der Geschichte wären sie es gewesen, die für alles verantwortlich zu machen seien. Mr. Larkin hatte sein Leben lang gearbeitet, um den Beweis dafür zu liefern. Zeugnis dafür hatte er an vielen vorgeschichtlichen Fundstätten vieler Länder gefunden. Als er hierher nach Stoke Abbas gekommen war, um sein großes Werk über »Der Ursprung unserer Welt« zu vollenden, hatte er dieses tadellose Hünengrab direkt vor seiner Haustür entdeckt. Da habe nun Miß Woodall ihm den sehr richtigen Vorschlag gemacht, er möge …

Hier lächelte Miß Woodall. »Oh, Mr. Larkin, schreiben Sie mir dies Verdienst doch nicht zu! So viel Kenntnisse, um Sie zu beraten, besitze ich denn doch nicht …«

»Gut, gut, meine Liebe, jedenfalls sind Sie eine sehr fähige Mitarbeiterin. Wir haben also beschlossen, nach Vollendung des Werkes das Hünengrab auf dem Drachenhügel auszugraben, Mr. Fortune.«

»Und da fing dann das Unglück an«, murmelte Reggie. »Hm, gab es denn einen bestimmten Grund, warum Sie gerade nach Stoke Abbas kamen?«

Mr. Larkin blickte nach Miß Woodall hinüber. »Das kann ich wirklich nicht sagen. Ich glaube, nicht wahr, meine Liebe, der Grund war, daß dies Haus uns von allen, die Sie sich ansahen, am besten gefiel?«

»Am besten von allen. Wissen Sie, Mr. Fortune, Mr. Larkin muß unbedingt in Ruhe arbeiten können.«

»Und dies ist hier so wunderbar ruhig, meine Liebe.«

Sie schnurrten sich gegenseitig gleichsam an, und Reggie fühlte Verlegenheit. »Ganz entzückend ist's hier … wenn nur Mr. Fortune es fertig bringt, dieser Belästigung den Riegel vorzuschieben. Ich hoffe, er wird bei uns wohnen?« –

In Restharrow legte man sich früh zu Bett. Als Mr. Fortune gerade im Begriff war, einzuschlafen, schreckte ihn ein seltsam pfeifender, heulender Laut auf, wie man ihn wohl bei einem Sturm hört. Aber es herrschte kein Sturm. Er ging zum Fenster und spähte hinaus. Der Mond stieg hinter den Wolken auf, und er konnte nichts erkennen als die dunklen Massen des Rhododendrons. Man klopfte an seine Tür, und Mr. Larkin, blassen Gesichtes, trat mit einer Kerze ein. »Hören Sie das Geräusch, Mr. Fortune?« fragte er. »Was bedeutet das?«

»Darüber wundere ich mich auch. Schläft Miß Woodall auf der anderen Seite des Hauses?«

»Jawohl. Ich glaube nicht, daß sie es je gehört hat. Es kommt und geht nur, wissen Sie. Da! Nun hat es aufgehört. Dann wird es wiederkommen. Immer so abwechselnd, und dauert etwa eine halbe Stunde. Sehr beunruhigend. Wenn ich nur wüßte, was es ist …«

»Auch ich gäbe was darum«, murmelte Reggie.

Sie standen still und lauschten fröstelnd, und als alles wieder ruhig war, war es ein wenig schwierig, Mr. Larkin wieder zu Bett zu schicken.

Reggie stand früh auf. Er sah, wie der Postbote kam, und Mr. Larkin und Miß Woodall waren beide schon unten, um ihre Briefe entgegenzunehmen. Währenddessen erlaubten sie sich zarte Scherzchen. Mit spielerischer Gewaltsamkeit raffte Mr. Larkin die ganze Post an sich und sortierte sie mit kleinen Witzchen, des Inhalts etwa: »Ich muß bei Ihnen Briefzensur ausüben, meine Liebe«. Es kam Reggie so vor, der alte Herr sei eifersüchtig auf alles, was seine hübsche Sekretärin betraf. Aber die einzige Sendung an diese bestand nur aus einem Buchhändlerkatalog.

Nach dem Frühstück schlossen die beiden sich in das Arbeitszimmer ein, Studien halber. Mr. Fortune ging spazieren und fand auf dem Moor den Sergeanten Underwood, der gerade Jagd machte auf einen Kohlweißling. Wie er mit dem Netz herumhieb, sah äußerst wild aus. »Weidmannsheil«, lächelte Mr. Fortune. »Sie gehen ja ins Zeug. Seien Sie aber nicht roh, Kindchen. Nur kein unnützes Blutvergießen.«

Sergeant Underwood zupfte sein Netz aus dem Gestrüpp heraus. »Ich treff die Bestien nicht«, sagte er und wischte sich die Stirn ab.

»Macht nichts. Jedenfalls sehen Sie sehr eifrig aus dabei. Beobachten sie aber immer die Hütte dort in der Einsenkung. Ich muß wissen, wer dort herauskommt und was er treibt.«

Nach dem Mittagessen rasteten Mr. Larkin und Miß Woodall von ihren Studien. Der alte Herr zog sich in sein Schlafzimmer zurück. Die Dame saß im Garten. Reggie ging hinaus. Auf der Westseite des Grundstücks wuchs ein Bestand von Buchen und Ulmen, der das Haus gegen den Wind schützte. Reggie ging zu einer dieser Ulmen und erkletterte sie, bis er hoch droben verborgen saß. Er sah, wie Miß Woodall den Garten allein verließ. Von der Straße zweigte sie auf einen Fußpfad ab, der über das Moor führte. Reggie nahm seinen Feldstecher aus der Tasche. Sie ging eine Strecke, dann sah sie sich um und setzte sich im Heidekraut nieder. Ihr Rücken war ihm zugewandt, aber er konnte erkennen, daß sie sich über ein Papier beugte. Vor ihr bewegte sich eine kleine dunkle Gestalt im Heidekraut, kam an den Pfad heran, zog sich dann zurück und verlor sich in den Rillen des Moores. Miß Woodall stand auf und ging weiter. Sie hielt an, trat zur Seite, sah sich überall um und beschleunigte dann ihren Schritt. Reggie nahm für sein Teleskop einen Zweig zur Unterlage. Sie ging ins Dorf und verschwand zwischen den Häusern.

Er ließ sich zum Boden hinabgleiten und traf sie, als sie zurückkam. »Ganz allein, Miß Woodall? Das ist sehr tapfer.«

»Nicht wahr?« Sie errötete. »Wissen Sie, was ich auf dem Fußpfad gefunden habe?«

»Ja. Ich hab's gesehen. Einen toten Hermelin.«

»Schauderhaft! Was bedeutet das, Mr. Fortune?«

»Darüber würde ich mir nicht den Kopf zerbrechen«, sagte Reggie. Er ging weiter und sah das Gewedel eines Schmetterlingsnetzes.

»Das ist 'ne dolle Geschichte, Sir«, sagte Underwood gereizt. »So 'n kleiner Kerl kam aus der Hütte heraus, so 'ne Sorte Zigeuner, und schnüffelte in der Heide herum. Sah so aus, als ob er nach Schlingen sähe, die er gelegt hat. Dort drüben fand er auch ein Biest und setzte sich dann nieder, um Besen zu binden. Dann kam eine Frau aus der Villa, und er schlenderte langsam hin, schmiß das Biest auf den Fußweg und machte sich davon. Wirklich tolle Geschichte!«

»Das bedeutet nichts«, sagte Reggie deprimiert. »Nun, wir sollten uns jetzt um ihn kümmern. Einstweilen gehen Sie zu Ihrem Wirtshaus, Kerlchen, und essen und schlafen. Wenn es dunkel wird, seien Sie dann wieder in der Nähe der Hütte!«

Kurz nach dem Abendessen teilte Mr. Fortune mit, er sei müde, und ging zu seinem Zimmer hinauf. Dort rauchte er eine Zigarre, hörte, wie sich das Haus zur Ruhe begab, zog sich dann einen Flanellpyjama an und Gummischuhe und ließ sich unauffällig durch das Fenster hinabgleiten. Zwischen den Rhododendren wartete er. Die Nacht war grau und still; er konnte weit sehen und auch das leiseste Geräusch vernehmen. Aber bis zu dem Augenblick, als hinter der Hecke hervor, die den Küchengarten umschloß, jener pfeifende und heulende Laut wieder drang, hatte er nichts gesehen und gehört. Er eilte verstohlen und, wie er glaubte, recht leise nach der Richtung. Aber alles was er sehen konnte, war nur ein kleiner Mann, der am Ende einer Schnur etwas herumwirbelte. Dann endete das Geräusch mit einem Zischen, und der Kerl rannte weg. Mr. Fortune folgte ihm, aber er war, wie schon gesagt, nicht gut zu Fuß. Der kleine Mann gewann von Anfang an einen Vorsprung und verschwand bald im Moor. In ruhigerem Dauerlauf legte Mr. Fortune die Strecke nach dem Schuppen am Fuß des Hügels zurück, und als er hinkam, pfiff er.

Dort saß Underwood auf einem kleinen Mann, der strampelte.

»Ich bin Polizeibeamter, jawohl, das bin ich«, sagte Underwood soeben. »Machen Sie nur keine Geschichten, oder ich steck 'ne unangenehmere Note auf.«

Reggie beleuchtete mit seiner elektrischen Taschenlaterne das große dunkle Gesicht des Besenmachers und gab Underwood ein Zeichen, er solle ihn loslassen. »Sie haben mir eine Masse Mühe gemacht«, sagte er vorwurfsvoll. »Warum beunruhigen Sie die Dame? Aus toten Hermelinen macht sie sich nichts.«

»Sie hat auf dem Moor nichts zu suchen«, sagte der kleine Mann verdrossen. »Sie sollte da bleiben, wo sie hingehört.«

»Auch der alte Herr ärgert sich. Sie haben ihn beunruhigt mit Ihrem ekelhaften Lärm. Das geht einfach nicht.«

»Er sollte sich ganz still aus dem Staube machen. Das Land hier gehört ihm nicht.«

»Aber es sind doch ganz, ganz ruhige Leute. Sie haben niemandem was zuleide getan.«

»Und ob sie das haben, Master. Pfui! Die haben vor, das alte Drachengrab umzubuddeln. Das ist 'ne ganz böse und ganz schädliche Sache.«

»Aber wenn sie nachsehen, was in dem alten Hügel steckt, das verursacht doch Ihnen keinen Schaden.«

»Nee, Giles macht das nichts aus. Giles war hier, bevor die kamen. Ich und meine Sippschaft, zehntausend Jahre lang ist das schon her. Und wenn sie weg sind, dann bleibt Giles hier. Aber die Nase in das alte Drachengrab hineinzustecken, ist von Übel. Da ist der Tod drin, Master.«

»Wer ist denn zu Ihrer Zeit dort gestorben?« fragte Reggie hastig.

»Nee, zu meiner Zeit niemand. Aber ganz bestimmt ist der Tod drin. Sagen Sie ihnen doch, Master, sie sollten sich wegmachen und das Moor in Ruhe lassen.«

»Aber Ihnen wollen sie ja nichts anhaben, guter Mann, und Sie müssen sie nicht weiter belästigen. Wenn Sie diese Späße nicht einstellen, Giles, so werden wir Sie noch ins Gefängnis stecken müssen.«

Der kleine Mann quiekte, umfaßte seine Knie und streichelte sie. »So grausam werden Sie wohl nicht sein. Ich und meine Sippschaft gehören aufs Moor. Ich habe kein Gesetz verletzt.«

»O ja, das tun Sie aber, wenn Sie Jagd machen auf diese Leute. Von Rechts wegen sollten Sie jetzt schon im Kittchen sitzen. Eine Masse Unglück haben Sie schon angerichtet. Wenn das so weitergeht, so sperrt man Sie in eine kleine enge Zelle, und dann ist es aus mit der schönen Freiheit hier.«

»Nee, Master, so werden Sie nicht umspringen mit 'nem armen Mann.«

»Also seien Sie gefälligst artig. Ich weiß jetzt alles, was Sie angeht. Wenn die Leute in Restharrow keine Ruhe finden, so heißt es für Giles: Marsch ins Kittchen!«

Der kleine Mann tat einen tiefen Atemzug. »Der alte Drache wird schon mit ihnen fertig werden. Mir tut er nichts.«

»Also vergessen Sie das nicht. Wo ist übrigens das Ding, mit dem Sie den Spektakel vollführt haben?«

Der kleine Mann grinste und zog ein gekrümmtes Holzstückchen aus seiner Tasche hervor, das an einer Schnur befestigt war. Als er es um seinen Kopf herumwirbelte, machte es das heulende Geräusch eines Sturmes.

Mr. Fortune ging in sein Schlafzimmer zurück, durch das Fenster hinein, und schlief den Schlaf der Gerechten. Als er zum Frühstück hinunterkam, waren seine beiden Gastgeber schon fast fertig. »Bitte vielmals um Entschuldigung. Ich hatte in der Nacht ziemlich viel zu tun.« Miß Woodall sprach die Hoffnung aus, man habe ihn nicht gestört. »Nein, nicht gestört. Aber interessant war's.« Mr. Larkin zitterte vor Neugier. Er habe sich schon gedacht, Mr. Fortune sei draußen gewesen.

»Wirklich nachts auf dem Moor?« meinte Miß Woodall schaudernd. »Das tat ich nicht um alles in der Welt.«

Mr. Fortune köpfte sein drittes Ei. »Warum sollten Sie auch? Aber niemand wird sich wieder in Ihre Angelegenheiten mischen, Miß Woodall. Der Kerl, der den Stunk machte, wird Sie nicht mehr ärgern.«

»Wer war denn das?« fragte sie gespannt.

»Ach, das spielt keine Rolle. Jemand von der hiesigen Bevölkerung, der an Aberglauben leidet. Er denkt, es sei gefährlich, das alte Grab zu öffnen. Er wollte Sie wegscheuchen. Aber nun hab ich ihm Angst eingejagt, und er sieht ein, wie dumm es von ihm ist. Ich glaube, das beste ist, wir geben ihm den Laufpaß. Er hätte doch im Ernstfall nichts unternommen. Sie können ihn ruhig ausschalten und Ihre Ausgrabung weiter betreiben.«

»Aber das ist ja großartig, ganz fabelhaft ist das«, zirpte Mr. Larkin. »Wie schnell ging das! Sie haben sich wirklich wunderbar bewährt!« Er floß von Dank über.

»Sind Sie nun auch Ihrer Sache ganz sicher?« fragte Miß Woodall.

»Man braucht nichts mehr zu befürchten.«

»Wie herrlich!« Sie lächelte ihn an. »Ach, Sie haben keine Ahnung, wie erleichtert wir uns fühlen!«

Mr. Larkin stürzte sich nun mit Eifer in die Pläne für die Ausgrabung. Der alte White von »The Priors« habe versprochen, sagte er, ihm so viel Leute, wie er wolle, jederzeit vor dem Herbst zur Verfügung zu stellen. Nun habe man keine Zeit zu verlieren. Er wolle den alten Mann sofort aufsuchen, und warum nicht gleich an diesem Morgen? Er hoffe, Mr. Fortune würde noch ein wenig bleiben und Zeuge der Ausgrabung sein. Sehr interessant sei das. Mr. Fortune schüttelte den Kopf. Vielleicht erlaube man ihm später wiederzukommen und sich das Resultat anzusehen.

»Top«, rief Mr. Larkin. »Das Versprechen bindet Sie also; meinen Sie nicht auch, meine Liebe?«

»Selbstverständlich«, sagte Miß Woodall.

Zusammen brachen sie auf, um den alten White aufzusuchen. Es schien Mr. Larkin unmöglich zu sein, auf eigene Faust eine Verabredung zu treffen. Immer mußte sie dabei sein. Reggie wartete noch im Hause auf seinen Wagen. Er ging in das Arbeitszimmer. Alles war peinlich aufgeräumt und weggeschlossen bis auf die Bücher. »Vorsorgliche Herrschaften!« murmelte er und blieb bei dem Papierkorb stehen. Darin steckte einiges zerknittertes Material. Er fand den Katalog einer Textilfirma und glättete ihn. Einige Waren darin waren durch kleine Striche unter je einem Buchstaben markiert. Sein Auge durchforschte die Blätter. Diesmal hieß das zusammengesetzte Wort: »Taphonoigein«. Da hörte er die Hupe seines Wagens. Er warf den Katalog wieder in den Papierkorb zurück und schlich aus dem Studierzimmer, als es an der Tür klingelte. Als das Mädchen ihm die Meldung brachte, sein Wagen warte vor der Tür, war er wieder in seinem Schlafzimmer und schrieb einen Brief.

Das große Auto schnurrte über die Heide, kam an einem Mann vorüber, der Schmetterlinge jagte, verlangsamte sich und hielt an. Der Chauffeur stieg aus, um die hinteren Pneumatiks zu untersuchen. Der Fahrgast lehnte sich hinaus und sah zu. Als der Wagen wieder anzog, lag etwas Weißes am Straßenrand. Der Falterjäger kreuzte den Weg und hob einen Brief auf. Der Fahrgast warf einen Blick zurück. »Jetzt Vollgas, Sam«, sagte er. –

Am späten Nachmittag wurde Lomas, als er gerade sein Tagewerk in Scotland Yard beendigte, durch die Ankunft Fortunes überrascht. »Dies kommt so plötzlich«, tat er überrascht. »Untersuchung schon fertig? Verfängt der Reiz von Isabel nicht?«

»Wenn Sie ein bißchen schwachen Tee haben, hätte ich nichts dagegen«, sagte Mr. Fortune. »Isabel ist 'ne sehr interessante Frau, Lomas. Auch Joseph hat seine interessanten Seiten. Beide sind sie jetzt glücklich.«

»Also haben Sie's aufgeklärt, was? Worum hat sich's denn gehandelt?«

»Es war ein Sohn der Scholle, sehr anziehende Persönlichkeit, Buschmann-Typ. Wahrscheinlich der Abkömmling einer vorgeschichtlichen Rasse. Die findet man noch in ganz unerwarteten Winkeln. Seine Familie hat schon Jahrhunderte lang auf dem Moor dort gehaust. Er hatte 'ne Vorahnung, daß, wenn jemand das alte Drachengrab öffne, der Tod herauskäme. Anscheinend so ein atavistischer Glaube. So hat er sich vorgenommen, Joseph und Isabel abzuschrecken –, hat ihnen vom Tode Geschenke überreicht … und dann der Stierbrüller nachts.«

»Um Himmels willen, was ist ein Stierbrüller?«

»Ach, so ein Stück Holz, ziemlich wie ein Bumerang geformt. Man schwingt es so am Ende eines Stricks, und es macht einen höllischen Spektakel. Viele Wilde gebrauchen so was noch, um Eindringlinge und böse Geister wegzuscheuchen. Sehr merkwürdiges Überbleibsel alter Zeit ist dieser Giles. Gut also, ich habe ihn dabei erwischt und befahl ihm, davon abzustehen. Er hat eine Heidenangst vor dem Gefängnis und wird von jetzt ab artig sein. Und Joseph und Isabel setzen nun ihre Ausgrabung fort.«

Lomas lächelte. »So war es bloß dieser ortseingesessene Bauer, der sich mausig machte? Freund Reginald, das war's genau, was ich Ihnen sagte, und diese Erkenntnis macht mir ein seltenes und köstliches Vergnügen.«

Reggie trank seinen Tee. »Gönn ich Ihnen. Aber weiter haben Sie nichts vorausgesagt, Lomas, nämlich den Grund, warum Joseph und Isabel mit der Karte nach diesem versteckten Winkel gingen und das Hünengrab dort ausgraben, – den Grund sind Sie mir noch schuldig geblieben. Es gibt doch auch anderswo eine Menge hübscher Hünengräber.«

»Glauben Sie denn, daß in dem dort etwas Besonderes steckt?«

»Nein. Aber etwas Besonderes steckt in Joseph und Isabel. In dem Hause habe ich den Katalog eines Buchantiquariats gefunden, einige Buchstaben waren darin unterstrichen: ›Skythai‹. Vielleicht war noch mehr unterstrichen, aber ich hatte keine Zeit nachzusehen. Joseph kam herein, und nachher war der Katalog verschwunden.«

Lomas zuckte mit den Schultern. »Kataloge anzustreichen ist die Gewohnheit so mancher Leute.«

»Ja. Aber die Markierungen ergänzen sich hier zu einem Wort.«

»Einem Wort?«

»Lomas, mein lieber alter Knabe, und ich dächte, Sie hätten eine klassische Bildung. ›Skythai‹ heißt auf griechisch Skythen, und in Athen waren die Skythen die Polizei.«

»Ach, das ist aber weit hergeholt.«

»Gut, aber heute fand ich einen Textilkatalog in einem Papierkorb. Die Buchstaben waren genau so angemerkt: ›Taphonoigein‹. Vielleicht war da auch noch mehr angemerkt. Aber dies sind schon zwei Wörter: ›taphon oigein‹ bedeutet ›Grabmal öffnen‹. Entweder Joseph oder Isabel stehen in geheimnisvoller Verbindung mit irgend jemandem, was die Ausgrabung dort anlangt. Und warum tun sie das?«

»Ihre Phantasie läuft wirklich mit Ihnen davon«, protestierte Lomas. »Aber wovon sind Sie eigentlich ausgegangen? Diese Leute haben sich doch gerade alle erdenkbare Mühe gegeben, um die Polizei auf sich aufmerksam zu machen. Das wäre doch das letzte, was sie täten, wenn sie etwas Verdächtiges vorhätten.«

»Darauf kann man nun ein Dutzend verschiedener Antworten geben«, sagte Reggie etwas gelangweilt. »Zum Beispiel: Lassen Sie hinterher etwas Verdächtiges passieren. Dann wird man, guter Lomas, sagen: ›Ach, das hat nichts zu bedeuten, mit diesen Leuten ist alles in Ordnung, sie sind ja zu uns gekommen und haben uns gebeten, uns um ihre Angelegenheit zu kümmern.‹ Bei dieser Ansicht sind Sie ja jetzt schon angelangt. Außerdem sind sie vielleicht nicht beide hineinverwickelt; vielleicht wußte der eine, der andere würde zur Polizei gehen, und ist sicherheitshalber auch gegangen. Drittens: hatten sie vielleicht beide Angst; einer von ihnen hat vielleicht gedacht, ein Dritter wüßte mehr darüber als angenehm sei und wollte sich davon überzeugen. Viertens und letztens: hat dies Geschäft, gleichgültig worum es sich handelt, mit der Öffnung dieses Grabes zu tun. Darauf sind sie beide ganz versessen. Sie wollten ganz sicher sein, daß man sie dabei nicht störe.«

»Sehr schlau gedacht, Reginald. Teilweise auch überzeugend.« Lomas grübelte. »Wenn Sie mir nun noch erzählen, was bei einer solchen Ausgrabung herausspringt, dann will ich Ihnen mein Ohr leihen.«

»Nichts springt heraus«, sagte Reggie. »Gar nichts. Deshalb ist es ja so interessant.«

»Mein lieber Junge, Ihre Einbildung spielt Ihnen einen Streich.«

»Großer Gott, nein! Ich bin ein ganz normaler Mensch. Ich werde nur nervös, wenn die Tatsachen nicht hübsch normal verlaufen. Daher stammt ja auch mein bescheidener kleiner Ruf. Aber in puncto Einbildungskraft bin ich schwach beschlagen. Gehen Sie, Mr. Lomas, wie können Sie so etwas behaupten?«

»Gut, gut. Man wird ja sehen«, und Lomas erhob sich. »Findet man einige Leichen recht hübsch eindeutig im Sand liegen, so laß ich Sie's wissen.«

»Das wäre ja famos«, meinte Reggie vergnügt. Aber er rührte sich nicht. »Ich habe Underwood dort drunten gelassen.«

»Ist es die Möglichkeit!« Lomas erstaunte und setzte sich wieder. »Was macht er denn dort?«

»Er fängt Schmetterlinge. Auch kriegt er heraus, ob Joseph oder Isabel noch mittels Katalogen korrespondieren, und wo sie sie hinschicken.«

»Verdammt, das darf er nicht auf eigene Faust machen. Wenn man Briefschaften untersuchen will, muß man von der Oberpostdirektion die Erlaubnis haben. Das müßten Sie doch wissen, Fortune.«

»Lieber Kerl, das weiß ich. Ich kenne aber auch die Postämter auf dem Lande. Seien Sie doch nicht so ekelhaft formell.«

»Die Sache darf man aber nicht leicht nehmen.«

»Das habe ich ja auch damit sagen wollen«, lächelte Mr. Fortune. »Schauen Sie her, diese Herrschaften setzen sich an einen Ort, den man auf der Karte kaum findet, und haben keinen stichhaltigen Grund, sich so zu verstecken. Joseph könnte doch auch anderswo seine überflüssigen Bücher schreiben. Hat nun Isabel Joseph eingefangen, oder ist es umgekehrt? Die Berichte, die sie geben, stimmen nicht so ganz zusammen. Joseph ist liebevoll und Isabel keusch. Joseph beobachtet sie voll Eifersucht, und Isabel fügt sich voller Sanftmut. Als sie nun einige Zeit dort gelebt hatten, wurden sie auf einmal mächtig scharf darauf, ein Hünengrab auszugraben. Gibt ja eine Menge solcher Gräber anderswo, aber es muß unbedingt das einsame bei Stoke Abbas sein. Dann entdecken wir, daß sie Botschaften aussenden und empfangen, die für einen in schlichtem Englisch geschriebenen Brief zu geheimnisvoll sind. Eine von diesen Botschaften betrifft die Polizei und die andere das Öffnen des Grabes. Am Kreuzweg gibt es dunkle Missetat, alter Bursche.«

»Aber das ist alles so phantasievoll, Fortune. Sie haben recht: warum zum Teufel schreiben sie keine richtigen Briefe? Warum schicken sie sich Kryptogramme auf griechisch?«

»Sie sind ganz allein. Jeder von ihnen kann all die Briefe sehen, die der andere bekommt und auch vielleicht die Briefe, die der andere wegschickt. Aber ein Katalog wird nicht beachtet. Wenn einer von ihnen kein Griechisch kann, so wären die markierten Buchstaben das absolut Sicherste. Auch für den Chef der Untersuchungsabteilung wäre ein Wort wie: ›Skythai‹ absolut unverständlich.«

»Was glauben Sie denn nun, was dahintersteckt?«

»Sie haben ja selbst gesagt«, lächelte Mr. Fortune, »daß ich keine Einbildungskraft besitze. Die Tatsachen stehen Ihnen alle zur Verfügung. Halt, eins kommt noch dazu. Ich habe auf die Entfernung eine Momentaufnahme von Joseph und Isabel gemacht.« Er legte eine Filmrolle auf den Tisch. »Lassen Sie die Gesichter stark vergrößern. Vielleicht erkennt einer von Ihren Beamten sie wieder. Adieu. Ich muß jetzt mit meiner jungen Nichte zu Abend essen – mit der, die den Gewehrfabrikanten geheiratet hat. Sie ist immer sehr aufgekratzt und fidel. Stark ermüdend.«

In den nächsten zwei Wochen geschah nichts Besonderes. Wenn Lomas Mr. Fortune im Club traf, konnte er sich höhnische Bemerkungen über die griechische Sprache und den Gebrauch der Phantasie nicht verkneifen. Dann schrieb Joseph Larkin an Mr. Fortune, die Ausgrabung sei fast beendet, und drängte ihn zu kommen und sich das Resultat anzusehen. Fortune teilte dies Lomas telephonisch mit, und letzterer schnob spöttisch durch die Nase – »Ich gehe hin«, sagte Fortune.

»Sie haben ja eine Masse überflüssige Zeit«, sprach es im Telephon.

Aber nach drei Tagen, während sein Wagen vor der Tür wartete, um ihn nach Stoke Abbas zu bringen, wurde Fortune wieder angerufen. »Hallo. Sind Sie aufgestanden? Tolle Sache. Kommen Sie schnell her.«

Lomas war in seiner frühen Morgenlaune. »Einiges verrückte Material ist über diesen Fall in Stoke Abbas dazugekommen.« Er starrte Fortune mit einem galligen Blick an. »Ich habe die Postbeamten auf die Fährte gesetzt, nur um mich zum Narren zu machen. Aber hier ist der Bericht. Zugleich mit einer Anzahl von Briefen wurde aus Restharrow am Montag ein Buchkatalog abgeschickt. Adressiert war er: Miß George, 715, Sandstreet, Bournemouth. Darin waren wieder einige Buchstaben markiert, a, b, vier e, g, h, zwei i, l, m, n, p, r, zwei s, t und y.«

Reggie stöhnte. »Großer Gott …«

»Was meinen Sie damit?«

»Sie sagten eben: um mich zum Narren zu machen. Das stimmt. Warum haben Sie es nicht Underwood überlassen? Er hätte es richtig gemacht. Ich hatte ihm doch gesagt, er sollte uns die Buchstaben in der Reihenfolge mitteilen, wie er sie findet.«

»Verdammt, wir dürfen doch aber nicht Postspionage treiben.«

»Mein lieber alter Junge. Sie sind für diese Welt zu gut.« Reggie nahm Bleistift und Papier. »Diktieren Sie mir die Buchstaben noch einmal.« Er schrieb auf, ABEEEEGHIILMNPRSSTY, steckte eine Zigarre an und grübelte. »Ihre gewissenhaften Beamten machen mir ziemliche Mühe, aber ich hab's herausgebracht: PRESBYS GAMAIN THELEI. Sehr interessant! Das klärt Verschiedenes auf.«

»Was zum Teufel bedeutet denn das?«

»Was haben Sie eigentlich in der Schule gelernt, Lomas? Ich hab mich oft gewundert. Es bedeutet: ›Der alte Mann will heiraten‹. Ja, das habe ich mir schon gedacht. Ich sagte Ihnen, Sie hätten alle Tatsachen. Sie erinnern sich, daß Joseph seiner Isabel klassische Bildung nachrühmte. (Von Ihnen hätte er das nicht gesagt, Lomas.) Sie schickt also die Botschaften. Sie hat Joseph ergattert. Schon sieht man deutlich. Sagen Sie nur jetzt Ihren unbezahlbaren Postbeamten, sie sollten die Buchstaben in Zukunft in der richtigen Reihenfolge schicken. Sie wollen mich nicht auf dem Gewissen haben dadurch, daß Sie mir noch mehr Chiffren zu enträtseln geben, nicht wahr? Und schicken Sie jemanden, der schnell und gründlich nachsieht, was es mit Miß George für eine Bewandtnis hat. Ich reise jetzt nach Stoke Abbas. Sie haben das Grab geöffnet. Übrigens, ist etwas herausgekommen bei der Vergrößerung der Momentaufnahmen?«

»Man hat sie ziemlich stark vergrößert. Aber die Leute kennt man hier nicht.«

»Unbekannt bei der Polizei? Gut, gut. Lassen Sie Miß George photographieren. Leben Sie wohl.«

An diesem Abend noch stand Mr. Fortune mit Joseph und Isabel auf dem Drachenhügel. Ein halbes Dutzend Erdarbeiter ruhten sich, auf die Spaten gestützt, von der Mühe aus und grinsten. Die lange Erhebung des Grabes war weg. Sie lag in Form von zerstreuten grauen Sandhaufen um den druidischen Steinbau, den sie bedeckt hatte. Drei aufrechtstehende Steine trugen einen flach darübergelegten Block. Unter diesem Horizontalblock, ähnlich wie ein Mann unter einem Tisch liegen mag, lag ein Skelett. Reggie kniete nieder und hob den Schädel auf. »Ah, echt antik«, sagte er mit einem Seufzer der Erleichterung.

Miß Woodall schauderte. »Er sieht wie ein Affe aus.«

»Das würde ich nicht mal sagen«, meinte Reggie sanft, während er die Knochen weiter untersuchte.

»Ich bin überzeugt, er war ein Phönizier«, verkündete Mr. Larkin.

»Das wohl auf keinen Fall«, sagte Reggie. Für Mr. Larkins Theorie, daß alles Alte unbedingt phönizisch sein müsse, hatte er kein Interesse. Er war der Ansicht, daß dieser Mann im Hügel mit seinem langen Schädel, seinen breiten Backenknochen und dem kurzen untersetzten Körper sehr ähnlich wie Giles aus der Moorhütte ausgesehen haben müsse. Vielleicht war er ein Vorfahre; vor fünftausend Jahren waren die Familienmitglieder von Giles, dem Besenmacher, Könige auf den Sandhügeln gewesen. Aber dieser Mr. Larkin quasselte weiter über seine Phönizier … »Ja, sehr interessant«, sagte Reggie gelangweilt und stand auf.

»Armer toter Mann«, seufzte Miß Woodall. »Er sieht so einsam aus.«

»Mein Liebling«, meinte Mr. Larkin zärtlich, »was für hübsche Gedanken haben Sie doch.«

Sie schritten zurück nach Restharrow, und Larkin führte wieder Gründe dafür an, das Skelett sei phönizisch, und das sei ungemein befriedigend, und er würde es dem Britischen Museum schenken – Erklärungen, die Reggie nur langweilten.

In solcher Verfassung verbrachte dieser die Zeit seines Aufenthaltes in Restharrow. Mr. Larkin teilte seine Zeit ein, indem er über die Phönizier Vorträge hielt, oder, was noch schlimmer war, Auszüge aus seinem neuen Werk DER URSPRUNG UNSERER WELT vorlas, oder er schäkerte, was am schwersten zu ertragen war, mit Miß Woodall. Er war ein wirklich abgeschmackter kleiner Patron. Aber die beiden betrieben ihre Angelegenheiten ganz offen. Das große Werk wurde veröffentlicht, und das Grab war freigelegt. Mr. Larkin wollte noch eine Broschüre darüber schreiben, es dann wieder zuschütten, Miß Woodall heiraten und sie nach Südafrika mitnehmen, wo nach seiner Ansicht noch viel mehr phönizische Spuren sich finden müßten. Reggie wünschte ihnen alles Gute, und sobald es die Höflichkeit erlaubte, sich zu drücken, reiste er nach London zurück.

Zwei Tage später traf Lomas ihn beim Frühstück in seinem Schlafzimmer an, was selten vorkam und bei Reggie ein Zeichen von Deprimiertheit war. »Mein lieber Freund, sind Sie krank?«

»Ja, sehr krank. Gehen Sie weg. Ich mag Sie nicht. Sie schauen so beunruhigend vergnügt aus, und das schadet mir.«

»Man hat noch eine andere Botschaft abgefangen: TYCHEAPELTHE.«

»Gurgeln Sie nicht, aber buchstabieren Sie«, sagte Mr. Fortune mürrisch. »Also? TYCHE APELTHE. Zwei Wörter. ›Fortune ist weggegangen.‹ Sehr nett von ihr, daß sie das gemerkt hat.«

Lomas lächelte. »So war es also der Wunsch von Isabel, Miß George solle erfahren, Mr. Fortune sei weggegangen. Das ist ja interessant. Nämlich über Miß George haben wir inzwischen etwas erfahren, Reginald. Sie ist gar keine Frau, weit gefehlt. Sie ist ein Mann in mittlerem Alter, der sich George Raymond nennt. Er wohnt gar nicht Nr. 715, Sandstreet, Bournemouth. – Da ist nur ein kleiner Laden, wo man Briefe entgegennimmt, die nachher abgeholt werden. George Raymond wohnt ganz am anderen Ende der Stadt und verhält sich sehr ruhig. Meine Burschen glauben herausgebracht zu haben, daß er Amerikaner ist.«

»Fortune ist weggegangen«, murmelte Reggie. »Ich möchte nur wissen, ob Fortune nicht besser dort geblieben wäre. Aber nein. Mit mir würde in dem Hause nichts passieren. Ich bin neugierig, ob überhaupt etwas passiert.«

»Was, geben Sie wirklich den Fall auf?« lachte Lomas.

»O nein. Irgend was ist da schon los. Aber ich zweifle, daß wir jemals dahinterkommen. Joseph und Isabel werden heiraten und dann nach Südafrika verduften.«

Lomas war sehr amüsiert. »So endet nun die ganze Sache! Ernster Reginald! Was für ein Höhepunkt! Mr. Fortunes eigenstes Spezialgeheimnis. Und nun werden es Orangenblüten und Hochzeitsgebäck.«

»Jawohl. Mit Miß George als Brautführer. Ich hoffe, Ihre Burschen halten Miß George scharf im Auge.«

»Er macht aber gar keine Arbeit. Sie werden ihn schon erwischen. Wir haben auch eine Aufnahme von ihm gemacht. Niemand kennt ihn, aber wir wollen sie vergrößern lassen.«

»Gut, beobachten Sie ihn.«

»Gewiß doch, was täten wir nicht Ihnen zu Gefallen! Haben sie Sie auch zur Hochzeit eingeladen? Sie müßten ihnen wirklich ein Geschenk schicken.«

Lomas erzählt, daß Reggie ihn hierauf richtig anfauchte.

Zwei Wochen vergingen. Reggie empfing einen ärgerlichen Brief von Mr. Larkin, worin es hieß, das Britische Museum habe das Gerippe abgelehnt, und so würde er es wieder in das Grab zurücklegen und die Tatsachen rückhaltlos veröffentlichen, um das Publikum von dem blinden Vorurteil gegen seine Arbeit seitens der Bürokratie in Kenntnis zu setzen. Er würde unmittelbar darauf nach Südafrika aufbrechen, wo er zweifellos unanfechtbares Beweismaterial finden würde für seine Theorie, der Ursprung aller Kultur sei phönizisch. Er sende ihm, Mr. Fortune, freundliche Grüße und beste Wünsche.

Dieser rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her. »Und von da ab lebten sie in ungetrübtem Glück«, brummte er. »Freundliche Grüße und beste Wünsche. Gute Isabel.« Er telephonierte Lomas an, um zu fragen, was das Befinden von Miß George mache.

»Vielen Dank für gütige Nachfrage«, sagte Lomas' Stimme. »Nichts zu machen. Wenigstens nicht mit George. Er lebt züchtig wie eine keusche Jungfrau. Was sagten Sie eben, bitte?«

»Ich sagte ›verdammt‹«, erwiderte Fortune.

An diesem Abend kam ein Brief von Underwood. Er beklagte sich. Seiner Ansicht nach müßte Mr. Fortune doch wissen, daß es in Stoke Abbas nichts mehr zu tun gäbe. Man schütte das Grab wieder zu. Die Dienstboten verließen Restharrow. Mr. Larkin und Miß Woodall würden auf dem Standesamt morgen getraut werden und übermorgen von Southampton abfahren. Mr. Fortune schlief sehr schlecht.

Als er in der Bibliothek seines ödesten Clubs am Vormittag saß, berief man ihn telephonisch nach Scotland Yard. Lomas redete gerade mit dem Überwachungsbeamten Bell. Lomas war aufgekratzt und scharf bei der Sache. »Meine Leute haben George Raymond verloren, Fortune. Er ist heute aus Bournemouth verschwunden mit einem Handkoffer. Er reiste nach Southampton, stellte den Handkoffer in die Garderobe, ging in einen von den großen Läden hinein und ist seitdem wie weggeblasen. Als man merkte, er sei verschwunden, ging man zum Bahnhof zurück. Da war auch sein Handkoffer verschwunden.«

»So haben Sie also nichts versäumt«, lächelte Fortune.

»Was sollen wir denn jetzt tun?«

»Lassen Sie am besten den Kapdampfer beobachten. Vergewissern Sie sich, daß Raymond nicht auf dem Kapdampfer ist, wenn er wegfährt, wenn es Ihnen möglich ist.«

»Dafür habe ich alle Vorbereitungen getroffen. Noch was?«

»Lassen Sie mir ein Kursbuch bringen«, sagte Fortune. »Ich will mal wieder nach dem Hünengrab hinunterreisen.«

»Herrjeh!« sagte Lomas.

Als abends auf dem Moor die Dunkelheit anbrach, hielten Fortune und Bell ihr Mietauto an, ungefähr eine Meile von Stoke Abbas, und gingen zu Fuß durch die Dunkelheit. Als sie sich der Gartenanlage von Restharrow näherten, sprach eine vorsichtige Stimme aus dem Ginsterbusch heraus: »Hab Ihr Telegramm gekriegt, Sir. Alles ist hier in Ordnung. Beide sind sie jetzt im Hause. Die Dienstboten sind alle weg. Sonst ist niemand dagewesen.«

Reggie setzte sich neben Underwood nieder. »Sie haben also auch keinen Fremden in der Gegend bemerkt?«

»Ja, es war mir so, als ginge jemand vor einer Weile in die Richtung des Hünengrabes.«

»Machen Sie sich leise hinterher. Aber zeigen Sie sich nicht.«

Sergeant Underwood verschwand in der Nacht. Bell und Reggie saßen und warteten, während die Sterne im schwarzen Himmel aufzuflimmern begannen. Stimmen wurden vernehmbar. Die Tür von Restharrow öffnete sich, und ein Lichtstrahl floß hervor.

»Wunderschöne Nacht!« sagte Mr. Larkin.

»Die schönste Nacht, die ich je erlebt«, meinte Mrs. Larkin.

Sie traten heraus. »Wir wollen zu dem guten alten Grab hinaufgehen«, sagte sie. »Ich werde es immer lieben, weißt du. Es hat uns ja zusammengeführt, Liebster.«

»Mein gutes Kind«, zirpte Mr. Larkin. »Dein Köpfchen ist voll hübscher Gedanken.«

Arm in Arm gingen sie dahin.

In ziemlichem Abstand folgten Reggie und der Überwachungsbeamte Bell.

Als das Paar auf den Rücken des Hügels gelangte, wo der aufgewühlte Sand weiß in der Dämmerung schimmerte, sagte Frau Larkin: »Teurer Ort … Wie schön ist es hier. Glaubst du nicht, liebster Joseph, daß der alte Phönizier Glück hatte, hier ruhen zu dürfen?«

In diesem Moment erhob sich hinter dem liebsten Joseph ein Mann und packte ihn am Kopf. Es gab kein Raufen und kein Geräusch. Joseph schwankte nur ein wenig und zerstampfte den Sand mit den Füßen, dann lag er schon auf dem Rücken, und Isabel kniete neben ihm. Der andere Mann ging zur Seite. Das Geräusch eines Spatens war hörbar. Hier sprang ihm Sergeant Underwood an den Rücken. Sie fielen zusammen auf den Boden. Bell sprang den Hügel hinauf, um Frau Larkin noch rechtzeitig zu verhindern, dem Mann Hilfe zu bringen. Aber Underwood hatte ihn bereits mit Handschellen versehen und zwang ihn auf die Füße.

Reggie kam gemütlich herzu und nahm einen Wattebausch vom Gesicht Mr. Larkins. »Wer ist denn Ihr Freund mit dem Chloroform, Frau Larkin?« fragte er sanft.

»Sie Teufel«, keuchte sie. »Sag kein Wort, George.

»O ja, ich weiß, daß er George heißt«, sagte Reggie und beleuchtete den Mann mit der Taschenlaterne.

Sergeant Underwood schnappte nach Luft. Er starrte bald den Mann mit den Handschellen an und bald den Mann, der am Boden lag. »Großer Gott! Welchen von beiden habe ich denn nun eigentlich erwischt?« Denn der Mann, der aufrecht stand, war von genau derselben untersetzten kleinen Gestalt wie Mr. Larkin, grauhaarig, glattrasiert und im selben dunklen Anzug.

»Eine ganz gute Maske. Das war auch nötig, was, Frau Larkin? Nun, ich glaube, wir bringen jetzt den richtigen Mr. Larkin am besten ins Hospital.« Er pfiff und gab Signale mit seiner Laterne, und das Mietsauto fuhr bis an den Abhang des Hügels heran. Man brachte Mr. Larkin herunter, und das Auto schaffte ihn und Reggie fort. Hinter ihnen hatten Frau Larkin und George, bei den Handgelenken aneinandergefesselt, endlose Meilen zu einer Polizeistation zu marschieren.

Ein kleiner Mann lag im Heidekraut auf dem Hügel und beobachtete, wie sie fortgingen. »Der alte Drache hat sie erwischt«, kicherte er, »Giles hat's doch gewußt.« Und er bewegte sich hüpfend zu seiner Moorhütte zurück. –

Bell trat am nächsten Morgen in das Frühstückszimmer des Wirtshauses zu Winborne, wo er Fortune antraf, der gerade herzhaft einem gerösteten Lachs zu Leibe ging. »Sie hatten eine schlechte Nacht, Sir«, meinte er freundlich.

»Tja. Den armen Joseph hat es sehr mitgenommen. Seelisch und körperlich. Darüber kann man sich nicht wundern. Es macht einen Ehemann mutlos, wenn seine Frau schon in der Brautnacht einen Mordanschlag auf ihn verübt. Zerstört das Vertrauen.«

»Ein nettes Pärchen sind ja diese Frau und dieser Kerl George. Anscheinend hatten sie vor, den armen Larkin lebendig zu begraben.«

»Er wäre zwar nicht mehr sehr lebendig gewesen, versteht sich.«

»Da haben Sie recht. Was hatte aber der Kerl bei sich, Sir?«

»Natürlich Chloroform und einen Revolver. Vermutlich auch Vitriol.«

»So ist's.« – Bell blickte Fortune mit ehrfürchtiger Bewunderung an. »Wunderbar, was Sie für ein Menschenkenner sind, Mr. Fortune.«

Fortune lächelte und reichte Bell seine Platte mit Pfirsichen herüber. »Ich wußte, sie würden an alles denken. Das war ihr schwacher Punkt. Um einen kleinen Grad zu vorsichtig. Aber der Plan war prachtvoll! Grab ist fertig, angenehme leichte Erde, Spaten zur Stelle, dann braucht man den Alten nur zu chloroformieren, Schwefelsäure über ihn zu schütten und ihn einzubuddeln. Wahrscheinlich würde in den nächsten hundert Jahren niemand auf den Gedanken gekommen sein, das Grab wieder zu öffnen. Und wenn es wirklich der Fall gewesen wäre, hätte man nur eine unbekannte Leiche darin gefunden. Niemand wäre vermißt worden. Keine Möglichkeit, irgend jemand könnte denken, die Leiche sei identisch mit Mr. Larkin, der höchstlebendig und kreuzfidel nach Südafrika gesegelt war. Und George und Isabel hätten Mr. und Mrs. Larkin gespielt, und immerdar glücklich gelebt auf Grund des Larkin-Vermögens. Und sie hätten ihren Plan auch ohne weiteres verwirklicht, wenn sie nicht so viele Umständlichkeiten gemacht hätten mit einem Grab, wenn sie sich ferner Giles' wegen nicht beunruhigt hätten, wenn sie nicht so superklug gewesen wären mit ihren heimlichen Botschaften. Aber der arme alte Joseph kann einem leid tun. Er ist ganz betroffen. Es dämmert ihm, daß Isabel ihn nie wirklich geliebt hat, aber trotzdem will er nicht als Zeuge gegen sie auftreten.«

»Das leuchtet mir ein«, sagte Bell. »In der Zeugenbank würde er auch eine ziemlich dumme Figur machen.«

»Ja, gerissen ist er nicht, der alte Knabe. Aber ganz menschlich, Bell, ganz menschlich.«

Man hörte draußen aufgeräumte Stimmen. Lomas trippelte herein und ihm auf den Fersen folgte ein gewichtiger Mann mit dem Gesicht eines römischen Kaisers. »Reginald, mein lieber Junge, herzlichste Gratulation«, meckerte Lomas. »Sie haben mir's ja immer gesagt. Nun haben Sie es wirklich erreicht. Wunderbarer Fall das, wahrhaftig! Hier ist Mr. Bingham Jackson von der amerikanischen Polizei.«

»Ich möchte Sie kennenlernen, Sir«, sagte Mr. Jackson im Schulmeisterton. »Sie haben wirklich gute Arbeit geleistet. Auf diese zwei waren wir längst vorgemerkt und hatten sie dringend nötig.«

»Als Mr. Jackson Ihre Aufnahmen sah von George und Isabel, bestellte er sich Sekt«, kicherte Lomas.

»Ich dachte mir schon, irgendwo müsse man sie kennen. Daß sie keine Neulinge waren, lag auf der Hand.«

Mr. Jackson nickte eindrucksvoll. »Stimmt. Neulinge waren sie keine mehr. Isabel und George Stultz sind amerikanische Bürger und erfreuen sich eines gewissen Rufes. Wir werden von Herzen froh sein, sie wieder in die Arme zu schließen. Sie haben Mrs. Stanton Johnson von Philadelphia ausgemerzt und ihre Sammlung antiker Juwelen mitgehen lassen. Damals machten sie es mit Morphium und einem Keller. War eins von unseren schönsten Verbrechen.«

»Dies wird Joseph helfen, seinen Kummer leichter zu ertragen«, sagte Mr. Fortune voller Genugtuung. »Sie werden ihre Auslieferung wegen Mord verlangen?«

»Aber ganz bestimmt. Wir sind bei unserem Fall nicht rechtzeitig genug, so wie Sie, dahintergekommen. In Amerika drüben ist ihnen der Mord gelungen. Sie dagegen hatten das Pärchen immer an der Schnur. Ich muß sagen, Mr. Fortune, ich bewundere Ihre Arbeit. Sie hat Stil.«

»Es sind keine netten Leute, wissen Sie«, sagte Reggie träumerisch. »Und ich werde nervös, wenn Leute nicht nett und normal sind.«

»Dazu gehört allerdings was, um Sie nervös zu machen«, bestätigte Mr. Jackson.


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