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Neun Märchen
Illustriert von Gustave Doré
Vor Zeiten war einmal ein Edelmann, der sich zum zweiten Male verheiratete, und zwar mit der stolzesten und hochmütigsten Frau von der Welt. Sie brachte zwei Töchter in die Ehe mit, die ganz ihrer würdig und ihr in allen Dingen ähnlich waren, denn der Apfel fällt bekanntlich nicht weit vom Stamm. Der Edelmann seinerseits hatte ebenfalls eine Tochter, das sanfteste, gutmütigste Geschöpf, das man sich vorstellen kann, das rechte Ebenbild der seligen Mutter, die die Güte selbst gewesen. Warum besagter Edelmann nach einer so guten Frau eine so böse geheiratet, ist unbekannt. Diese Erscheinung wiederholt sich oft in der Welt, daß man zu der Annahme geneigt ist, das Leben an der Seite einer guten Frau sei den Männern langweilig und sie hätten eine wahre Sehnsucht nach dem männerbeherrschenden Pantoffel.
Die Stiefmutter war kaum ins Haus gekommen, als sie ihre bösen Launen schon an der vorgefundenen Stieftochter ausließ, da neben dieser die schlechten Eigenschaften ihrer rechten Töchter desto greller abstachen. Die niedrigsten Verrichtungen im Hause wurden ihr aufgetragen. Sie mußte Teller, Töpfe und Schüsseln spülen, die Treppen waschen, die Zimmer der Frau und ihrer Töchter wichsen. Sie schlief im Dachstübchen auf schlechtem Strohsack, während die Schwestern in parkettierten Zimmern wohnten, welche mit den modischsten Himmelbetten ausgestattet waren und mit so großen Spiegeln, daß sie sich darin vom Wirbel bis zur Zehe betrachten konnten. Das arme Kind ertrug alles mit der größten Geduld, und dem Vater klagte es nicht, weil er es sonst gezankt hätte. So sehr stand er unter dem Pantoffel, der arme Mann. Wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war, setzte sie sich in einen Winkel oder in die Asche am Herde, und daher kam es, daß man sie im Hause Aschenputtel nannte. Bei all dem war Aschenputtel in ihren schlechten Kleidern tausendmal schöner als die Stiefschwestern in ihren Prachtgewändern.
Da begab es sich, daß der Sohn des Königs ein Fest veranstaltete und daß er alle Personen vom Stande dazu einlud. Auch unsere zwei Fräulein waren gebeten, denn sie galten für sehr vornehm im Lande und machten viel von sich reden. Man kann sich denken, wie es da im Hause herging. Das arme Aschenputtel hatte nicht genug Füße, um zu laufen, und nicht genug Hände, um zu waschen, zu nähen, zu plätten. Tag und Nacht war nur von Putz und wieder Putz die Rede. Man beratschlagte, als ob es sich um das Heil der Welt handelte, und man ergrimmte und erzürnte sich wohl zwanzigmal des Tages über Dinge, die nicht den Wert eines Stecknadelkopfes hatten.
»Ich«, sagte die ältere, »ich ziehe mein rotes Samtkleid an und meine Brüsseler Spitzen.«
»Ich«, sagte die jüngere, »ich nehme ein gewöhnlicheres Kleid, dafür aber binde ich meine Schleppe mit Goldblumen und tue mein diamantenes Halsband an, das auch nicht bitter ist.«
Man berief die teuersten Haarkünstler und bestreute sich Haare, Hals und Nacken mit Goldstaub. Aschenputtel verstand sich vortrefflich darauf, und ihre Schwestern zogen sie gern zu Rate und ließen sich auch von ihr den Kopfputz aufsetzen. Sie gab ihren besten Rat und verwandte auf den Kopfputz ihren besten Geschmack, denn dazu war sie zu gut, um absichtlich einen schlechten Rat zu geben oder den Kopfputz schief aufzusetzen, was hundert andere an ihrer Stelle getan hätten, um sich an den bösen Schwestern zu rächen.
Während sie ihnen das Haar strählte, fragten sie: »Aschenputtel, du gingest wohl auch gerne auf den Ball?«
»Ach, meine Fräulein, Ihr macht Euch wohl lustig über mich armes Ding? So was wäre viel zuviel für mich.«
»Du hast recht, so ein Aschenputtel auf dem Hofball würde sich komisch ausnehmen.«
Mehr als zwei Tage konnten die Stiefschwestern vor lauter Freude keinen Bissen hinunterbringen, und mehr als ein Dutzend Schnürriemen zerrissen, so eng ließen sie sich die Mieder zusammenziehen, und beständig standen sie vor dem Spiegel und malten sich aus, wie sehr man sie bewundern werde. Endlich brach der große Tag an. Man fuhr ab, und Aschenputtel sah ihnen nach, als der Wagen längst um die Ecke verschwunden war.
Zuletzt konnte sie gar nichts mehr sehen, denn die Tränen stürzten ihr aus den Augen hervor.
Ihre Pate, die sie weinen hörte, kam herbei und fragte, was ihr fehle.
»Ich möchte – ich möchte«, mehr konnte sie vor Weinen nicht herausbringen.
Man braucht gerade keine Fee zu sein, wie es die Pate wirklich war, um zu erraten, was ihr fehlte, und sie sagte: »Du möchtest wohl auch gern auf den Ball?«
»Ach ja!« erwiderte Aschenputtel mit einem tiefen Seufzer.
»Nun gut, wenn du brav bist, will ich's wohl möglich machen.« Sie führte sie auf ihre Stube und sagte: »Jetzt gehe in den Garten und hole einen Kürbis.«
Aschenputtel lief und holte den schönsten, den sie finden konnte, obwohl sie nicht einsah, wie der Kürbis mit dem Ball zusammenhing. Aber sie war ein gläubiges Gemüt, und ein solches fragt nicht viel und tut, was man ihm befiehlt. Die Pate höhlte den Kürbis aus, ließ nur die dicke Schale stehen, schlug sie mit ihrem Zauberstäbchen, und siehe da, eine vergoldete Karosse stand da, daß es eine Pracht war. Dann ging sie an die Mausfalle, in der sich gerade sechs schöne, lebendige Mäuse gefangen hatten. Sie befahl Aschenputtel, die Klappe ein wenig in die Höhe zu ziehen, und jeder Maus, die herauskam, gab sie mit dem Zauberstäbchen einen kleinen Klaps, und jede Maus verwandelte sich sofort in einen kostbaren Grauschimmel, was im ganzen ein herrliches Sechsgespann von gleichen mausgrauen Apfelschimmeln ergab. Da sie nicht gleich wußte, wo einen entsprechenden Kutscher hernehmen, sagte Aschenputtel: »Ich will einmal nachsehen, ob sich in der Rattenfalle nicht vielleicht eine Ratte findet, die man in einen Kutscher verwandeln könnte.«
»Sehr klug«, sagte die Pate, »sieh einmal nach.«
Aschenputtel brachte die Rattenfalle, und siehe da, es fanden sich drei ganz stattliche Ratten darin. Eine der drei hatte einen sehr fragwürdigen Bart; die berührte die Pate, und es gab einen so bärtigen Kutscher, wie sich ihn nur ein Gesandter wünschen kann.
Dann sagte sie: »Geh wieder in den Garten und hole mir drei Eidechsen, die du hinter der Gießkanne finden wirst.« Aschenputtel hatte sie kaum herbeigebracht, als sie die Pate schon in ebenso viele galonierte, betreßte Bediente verwandelte, die sich so steif und stumm hinter der Karosse aufpflanzten, als hätten sie ihr Lebtag nichts anderes getan.
»Nun«, sagte die Fee, »da ist der Pracht genug, um auf den Hof ball zu gehen. Bist du zufrieden?«
»Freilich – aber – aber – in diesen Kleidern –«
Die Pate berührte sie mit ihrem Stäbchen, und sie stak in einer Toilette, die wir nicht weiter beschreiben wollen, um dem armen Aschenputtel nicht das gesamte weibliche Geschlecht zu Feinden zu machen; und dazu gab ihm die Pate noch ein Paar gläserne Pantöffelchen, ein wahres Wunder der Schuh- und Glasmacherei.
So aufgeputzt stieg sie in die Karosse, und ehe sie abfuhr, empfahl ihr die Pate aufs dringlichste, den Ball ja vor Mitternacht zu verlassen, widrigenfalls sich ihr Wagen wieder in einen Kürbis, die Pferde in Mäuse, der Kutscher in eine Ratte, die Bedienten in Eidechsen und ihre prächtigen Kleider in die alten schmutzigen Lumpen verwandeln würden.
Aschenputtel versprach zu tun, wie die gute Pate .befahl, und fuhr ab, das Herz voll Glückseligkeit.
Als dem Prinzen die Ankunft einer mächtigen, aber unbekannten Prinzessin gemeldet wurde, eilte er höchstselbst die Treppe hinab, um sie zu empfangen, reichte ihr die Hand beim Aussteigen und führte sie in den Saal. Da wurde es mit einem Male ganz stille, mäuschenstille. Alles hörte auf zu tanzen, die Violinen hörten auf zu spielen, und man tat gar nichts anderes, als die außerordentliche Schönheit der großen Unbekannten betrachten. Höchstens daß man hie und da den Ausruf hörte: »Oh, wie schön ist sie!«
Selbst der alte König meinte, daß er seit langem keine so schöne und anmutige Person zu Gesicht bekommen. Darauf seufzte er und die Königin auch. Die Damen studierten vorzugsweise Stoff und Schnitt der Kleider sowie den Kopfputz der fremden Prinzessin, um gleich morgen alles genau nachmachen zu lassen.
Denn die Frauen meinen immer, der Anzug tue es, und sie würden geradeso schön sein wie die schönste Person, wenn sie nur erst auch so gekleidet wären.
Der Prinz führte Aschenputtel auf den höchsten Ehrenplatz, dann bat er sie um einen Tanz, und sie tanzte mit solcher Anmut, daß man sie noch mehr bewunderte als zuvor. Bei Tische brachte der Prinz keinen Bissen herunter, so sehr war er in Betrachtung der großen Schönheit verloren, und so stark hatte sich bei ihm schon jene Appetitlosigkeit eingestellt, welche als ein bedrohliches Zeichen der hitzigen Liebeskrankheit vorauszugehen pflegt. Aschenputtel setzte sich neben ihre Schwestern, überhäufte sie mit Liebenswürdigkeiten und gab ihnen von den Zitronen und Orangen, die ihr der Prinz vorlegte, was die beiden sehr verwunderte, weil sie Aschenputtel nicht erkannten. Da schlug es ein Viertel vor Mitternacht. Rasch erhob sich Aschenputtel, machte der ganzen Gesellschaft einen tiefen Knicks und entfernte sich, so schnell sie konnte.
Zu Hause angekommen, lief sie sogleich zu der guten Pate, dankte ihr für alles Genossene und sagte ihr, daß sie morgen wohl wieder auf den Ball zu gehen wünschte, da sie der Prinz so sehr darum gebeten. Und wie sie im besten Erzählen war, pochten die Schwestern an die Türe. Aschenputtel lief und öffnete, und gähnend, als ob sie eben aus dem Schlaf erwacht wäre, sagte sie: »Ach, wie lange seid ihr ausgeblieben!«
»Wärest du mit uns gewesen«, antwortete die eine, »die Zeit hätte dir nicht lange geschienen. Es war eine wunderschöne Prinzessin auf dem Balle, die schönste Prinzessin, die man sich nur vorstellen kann. Sie war überaus gnädig gegen uns und gab uns Zitronen und Orangen.«
Aschenputtel wupperte bei diesen Worten das Herz vor Freude. Sie fragte nach dem Namen der Prinzessin, aber sie antworteten, daß sie ganz unbekannt sei, daß sich der Prinz darüber höchlichst gräme und daß er alles dafür gäbe, wenn er nur wüßte, wer sie wäre. Aschenputtel lächelte unter der Nase und sagte: »War sie wirklich so schön? Mein Gott, wie glücklich seid ihr! Könnte ich sie denn gar nicht zu sehen bekommen?«
Tags darauf gingen die Schwestern wieder auf den Ball, Aschenputtel auch, nur noch viel schöner und prächtiger aufgeputzt als das erstemal. Der Prinz wich nicht von ihrer Seite und sagte ihr die süßesten Sachen, die jedes Mädchen gerne hört und die auch Aschenputtel gerne hörte. Sie hörte so aufmerksam zu, und die Zeit verging ihr so rasch, daß sie ganz die Warnungen und Anempfehlungen der Pate vergaß, und plötzlich ertönte der erste Glockenschlag der Mitternacht, als sie glaubte, es sei noch nicht elf Uhr. Erschrocken sprang sie auf und floh mit der Leichtigkeit eines Rehs davon. Der Prinz ihr nach, aber er konnte sie nicht erreichen. Er erwischte nichts als einen der gläsernen Pantoffeln, den Aschenputtel auf der Flucht fallen gelassen.
Ganz außer Atem kam sie zu Hause an, ohne Karosse, ohne Bediente, ohne Prachtkleider, in ihre alten Lumpen gehüllt wie sonst. Nichts war ihr geblieben als ein Pantoffel, dessen Bruder ihr vom Fuße gefallen war. Im Schlosse fragte man die Türsteher, ob sie nicht eine wunderschöne Prinzessin hätten hinausgehen sehen.
Sie antworteten, daß sie nichts gesehen hätten als ein schlecht gekleidetes Mädchen, das eher einer Bäuerin als einer Prinzessin ähnlich gewesen.
Als die Schwestern vom Balle heimkamen, fragte Aschenputtel sie, ob sie sich denn gut unterhalten hätten und ob die schöne Dame wieder dagewesen sei. Sie sagten ja! und fügten hinzu, daß aber die schöne Dame mit Schlag Mitternacht auf und davongegangen und daß sie auf ihrer Flucht das reizendste Glaspantöffelchen von der Welt habe fallen lassen, daß der Prinz es aufgehoben und daß er in die Besitzerin des Glaspantöffelchens ganz verliebt sei.
Das mußte wohl wahr sein, denn wenige Tage darauf wurde unter Trompetenstößen überall kundgetan, daß der Prinz diejenige heiraten werde, deren Fuß in das Glaspantöffelchen passe. Man fing mit der Probe des Pantoffels bei den Prinzessinnen an, dann bei den Herzoginnen, dann bei allen Hofdamen – überall umsonst. Man brachte dann das Pantöffelchen zu den beiden Schwestern, die alles mögliche taten, um ihre Füße hineinzuzwängen, aber sie konnten es nicht durchsetzen. Aschenputtel, die ihren Pantoffel erkannte, sah lächelnd zu und sagte: »Wie wäre es, wenn ich es auch einmal versuchte?«
Die Schwestern brachen in lautes Gelächter aus und wollten sie zur Tür hinaustreiben. Aber der mit der Pantoffelprobe beauftragte außerordentliche Gesandte betrachtete Aschenputtel genauer, blickte mit scharfen Augen mitten durch Lumpen und Schmutz, fand sie sehr schön und meinte, es sei nichts wie billig, und er habe Auftrag, den Pantoffel ohne Ansehen der Person und des Standes alle Mädchen probieren zu lassen. Er bat Aschenputtel, sich gefälligst hinzusetzen, kniete vor ihr nieder, schob das Pantöffelchen über ihre Zehen – und siehe da, es saß wie angegossen. Das Erstaunen der beiden Schwestern war groß, sehr groß, und es wurde noch größer und allgemeiner, als Aschenputtel mit einem Male auch den andern Glaspantoffel aus der Tasche zog und ihn, wie nichts, über den andern Fuß schob. Dazu kam noch zur rechten Zeit die Pate, berührte Aschenputtel mit dem Zauberstäbchen, und so geputzt saß sie da, daß die Prachtgewänder der zwei Ballabende nichts dagegen waren.
Jetzt erst ging den beiden Schwestern ein Licht auf. Sie erkannten die schöne Person, die ihnen Zitronen und Orangen gegeben, warfen sich ihr zu Füßen und baten um Vergebung für die schlechte Behandlung, die sie ihr bisher hatten angedeihen lassen. Gute Menschen werden durch das Glück immer besser, und so hob Aschenputtel die bösen Schwestern auf, drückte sie ans Herz, versicherte sie ihrer Liebe und versprach, die ganze Vergangenheit zu vergessen.
Der Prinz, der in einiger Entfernung folgte, stürzte herbei, fand Aschenputtel schöner als je und heiratete sie wenige Tage darauf. Daß sie nun sehr glücklich war und eine große Königin wurde und ihren Stiefschwestern alles mögliche Gute tat – das versteht sich alles von selbst.