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18. Der vergessene Brief

Der heilige Baal-Schem kam einmal auf einer Reise in ein Wirtshaus in der Nähe der Stadt Brody. Der Pächter des Wirtshauses gehörte zu seinen Anhängern und bereitete ihm daher einen sehr schönen Empfang und rüstete ein feines Mahl für den Baal-Schem und alle seine Reisegenossen. Alle verbrachten die Nacht in diesem Wirtshause, und am nächsten Morgen, nach dem Essen, sagte der Baal-Schem zum Pächter: »Vielleicht hast du irgendein Anliegen? Ich kann für dich jetzt alles erwirken.« Der Pächter antwortete: »Ich habe, gottlob, gar kein Anliegen. Nur daß ich immer gesund und stark bleibe, denn jetzt fehlt mir nichts.« Darauf erwiderte der Baal-Schem: »Da du keine Bitte an mich hast, so möchte ich dich um etwas bitten, aber du sollst mir meine Bitte nicht abschlagen.« Und der Pächter sprach: »Ich werde ganz gewiß alles tun, was ich für den Rabbi tun kann.«

Der Baal-Schem setzte sich an den Tisch, schrieb einen Brief, faltete ihn zusammen, versiegelte ihn und sagte zum Pächter: »Diesen Brief will ich nach Brody schicken, und ich bitte dich, ihn dorthin zu bringen.« Der Pächter antwortete: »Für den Rabbi tue ich es sofort!« Und er nahm den Brief aus des heiligen Rabbis Hand und tat ihn zu sich in die Tasche. Da sagte der Baal-Schem: »Nun muß ich weiterreisen, und du wirst mich wohl eine Strecke begleiten wollen.« Und der Pächter sagte: »Ja!« und lief nach Hause, um seinen Wagen einzuspannen.

Und wie sich der Pächter im Pferdestalle bückte, um Stricke zu nehmen, mit denen er die Pferde einspannen wollte, fiel ihm der Brief aus seiner Brusttasche heraus und in den Kasten, in dem er die Stricke verwahrte, hinein. Und er spannte ein, begleitete den heiligen Baal-Schem ein Stück des Weges und kehrte heim; den Brief vergaß er aber vollständig. Und als er nach einiger Zeit in irgendeiner Sache den Baal-Schem besuchte, gedachte dieser mit keinem Worte des Briefes.

Und es vergingen viele Jahre, der Baal-Schem war inzwischen gestorben, dem Pächter ging es aber sehr schlecht, und er wurde arm wie ein Bettler. Er mußte nach und nach seine ganze Habe verkaufen, und schließlich besaß er nichts mehr, was er hätte verkaufen können. Es waren aber schon siebzehn Jahre nach dem Tode des Baal-Schem vergangen. Da ging der Pächter zur Kiste, die er in seinem Hause stehen hatte, nachzusehen, ob er in ihr nicht doch etwas finden würde, was er verkaufen könnte. Und er fand in der Kiste den Brief, den ihm der Baal-Schem einst übergeben hatte.

Wie er die Hand des heiligen Rabbi erkannte, kam er schier von Sinnen; er weinte und klagte und sprach: »Nun weiß ich, warum mich das Unglück betroffen hat!« Und er betrachtete den Brief, las, an wen er gerichtet war, hatte aber Furcht, ihn zu erbrechen. Und er sagte sich: »Ich will den Brief nach Brody bringen, vielleicht wird er noch dem nützen, an den er gerichtet ist. Vielleicht steht ein Geheimnis darin; darum will ich ihn lieber nicht öffnen.«

Und er begab sich zu Fuß nach Brody, und der Weg dauerte drei Tage. In Brody ging er in den Tempel und fragte die alten Leute, ob sie sich erinnerten, wer vor zwanzig Jahren die Gemeindevorsteher gewesen waren, und er nannte ihnen die beiden Namen, die auf dem Briefe standen. Doch die alten Leute antworteten: »Solange wir leben, hat es hier keine Gemeindevorsteher mit diesen Namen gegeben.« Und er fragte einen andern und einen dritten, und alle antworteten ihm dasselbe. Er war sehr betrübt und zeigte den Brief den Alten, doch niemand wagte es, den Brief zu erbrechen.

Da sagte jemand zum Spaß: »Gerade in diesem Augenblick finden in der Großen Schul neue Wahlen von Gemeindevorstehern statt. Vielleicht werden die Leute gewählt, deren Namen auf deinem Briefe stehen!« Und alle lachten darüber, doch der Scherz wurde zur Wahrheit. Es kamen Jungen aus der Großen Schul gelaufen und riefen: »Gut Glück! Die und die Leute sind zu Gemeindevorstehern erwählt worden.« Der Pächter fragte noch einmal nach den Namen und hörte die gleichen Namen, die auf dem Briefe standen. Und er war sehr verwundert und beriet mit den Leuten, was er nun tun solle. Und die alten Leute sagten ihm: »Warte eine Weile, bis die Gemeinde sich aus der Gemeindestube entfernt hat, wohin man die neuen Vorsteher geführt hat. Dann wirst du ihnen den Brief übergeben, sie werden ihn öffnen, und da wird man sehen, ob der Brief an sie gerichtet ist oder nicht.«

Er tat so, wie man ihm sagte, ging in die Gemeindestube und fragte, wer die neuen Vorsteher seien, und man zeigte sie ihm. Und der Pächter sagte ihnen »Meine Herren, ich habe euch einen Brief vom heiligen Baal-Schem, seligen Angedenkens, zu bestellen.« Und die beiden Vorsteher spotteten seiner und sagten: »Woher kommt Ihr, närrischer Mensch, der Ihr uns eine solche Lüge sagt? Der Baal-Schem ist ja schon seit siebzehn Jahren auf der wahren Welt, und wir sind nur zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt. Wie ist es nun möglich, daß der Baal-Schem uns einen Brief geschickt hat?« Und der Pächter erwiderte darauf: »Glaubt mir, ihr Herren, ich wundere mich auch selbst darüber, doch die Sache verhält sich so und so.« Und er erzählte ihnen die Sache.

Und die Vorsteher nahmen den Brief aus seiner Hand und öffneten ihn. Im Briefe stand aber folgendes: »An Herrn Soundso und Herrn Soundso, die Gemeindevorsteher von Brody. Wenn der Überbringer dieses Briefes, mit Namen soundso, zu euch kommen wird, so nehmt euch seiner, bitte, an. Er ist ein ordentlicher Mann und war bisher reich. Nun ist er verarmt. Ihr sollt ihm helfen, wie ihr nur könnt, weil ich, der Baal-Schem, euch darum bitte. Und für den Fall, daß ihr zweifelt, ob ich, der Baal-Schem, diesen Brief wirklich geschrieben habe, gebe ich euch ein Zeichen: Eure beiden Weiber liegen jetzt in Kindesnöten, und gleich wird man euch ansagen kommen, daß die eine einen Sohn und die andere eine Tochter geboren hat. Dies sei euch ein Zeichen, daß ich den Brief wirklich geschrieben habe. Israel Baal-Schem.« Kaum hatten die Vorsteher den Brief zu Ende gelesen, als ein Bote mit der Nachricht kam, von der im Briefe stand. Als die Gemeinde von Brody von diesem wunderlichen Begebnis erfuhr, schickten alle Leute dem Pächter Geldgeschenke und machten ihn reich. Und die beiden Gemeindevorsteher schenkten ihm noch mehr als die Gemeinde, und so fuhr er beglückt heim. Diese Geschichte zeigt die Allmacht des Schöpfers, der auch einem von einem Weibe Geborenen solche Seherkraft verleihen kann. Er bleibe uns stets gnädig. Amen.


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