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15. Die Seuche von Stanow

Die Einwohner der Stadt Stanow schickten einmal zum heiligen Israel Baal-Schem Boten mit der Bitte, er möchte zum Herrn – gelobt sei sein Name – beten, daß die Seuche, die in der Stadt wütete, aufhöre. Die Boten merkten, daß der Baal-Schem selbst nach Stanow kommen wollte; darum begaben sie sich nach Hause und schickten dem Rabbi einen Brief, in dem sie ihm schrieben, daß sie ihn zu sich in ihre Stadt einluden. Der Baal-Schem erfüllte ihren Wunsch und kam nach Stanow. Gleich nach seiner Ankunft schickte er in alle Häuser suchen und nachforschen, ob nicht irgendwo eine Sünde sei; wenn man die Sünde abschaffte, würde die Seuche sofort aufhören. Die Leute forschten überall nach, fanden aber nirgends eine so große Sünde, daß man die Seuche ihr hätte zuschreiben können. Als der Baal-Schem hörte, daß man nirgends eine solche Sünde gefunden hätte, hieß er auf dem Friedhofe nachforschen und alle Grabsteine untersuchen; vielleicht würde man dort ein Zeichen finden.

Die Leute gingen auf den Friedhof, und ein altes Grab fiel ihnen auf: der Grabstein war so alt, daß man die Inschrift nicht lesen konnte, und er war von seinem Platze verrückt und lag zerbrochen da. Sie kamen zum heiligen Rabbi und erzählten ihm das. Der Baal-Schem begab sich nun mit einigen Menschen auf den Friedhof und trat vor das alte Grab. Er sah lange auf das Grab und befahl dann seinen Begleitern, das Grab zu öffnen. Man öffnete das Grab. Der Tote lag da mit unverwestem Körper und unversehrten Kleidern und sah so aus, als ob man ihn erst eben begraben hätte.

Der Baal-Schem blickte einige Minuten unverwandt ins Grab, und plötzlich stand der Tote auf und sagte zum Baal-Schem: »Friede mit dir, mein Lehrer und Meister!« Alle, die dabeistanden, waren sehr erstaunt. Und der Baal-Schem sagte zum Toten: »Ich weiß nicht, ob ich dein Lehrer bin: vielleicht bist du gar mein Lehrer!« Doch der Tote erwiderte: »Nein, du bist mein Lehrer, denn du bist mächtiger als ich.« Der Baal-Schem sagte darauf: »Und wenn es so ist, so bitte ich dich, daß du eine Fürbitte für die Leute dieser Stadt einlegst, auf daß die Seuche aufhöre.« Der Tote entgegnete: »Wie kann ich für die Leute Fürbitte einlegen? Ich bin ja ihnen allen böse!« Da fragte der Baal-Schem: »Wofür bist du ihnen böse?«, und der Tote antwortete: »Ich zürne den Totengräbern dieser Stadt, weil sie sich ungehörig aufführen. Sie betrinken sich oft und machen ihre Sache schlecht. Erst neulich begruben sie eine Leiche neben meinem Grabe und gaben nicht acht und berührten mit dem Spaten meine Gebeine und brachen mir einen Zahn aus und zerstörten mein Grab. Darum zürne ich den Leuten.«

Da sagte der Baal-Schem: »Zeig mir den Zahn. Ich verspreche dir, daß ich ihn dir wieder zurückgebe.« Der Tote gab ihm den Zahn, und der Baal-Schem sprach zum Toten: »Ich will dir deinen Zahn erst auf jener Welt zurückgeben, und nicht hier. Und jetzt bitte ich dich und befehle dir, daß du beim Herrn – gelobt sei sein Name – Fürbitte einlegst, daß die Seuche aufhöre und daß es keine zwei Todesfälle an einem Tage und keine zwei Erkrankungen zur gleichen Stunde mehr gebe.« Und der Baal-Schem bat den Toten, daß er sich wieder in sein Grab lege. Der Tote fügte sich und legte sich ins Grab, und man schüttete das Grab wieder zu. Und man brachte das Grab und den Grabstein wieder in Ordnung, und die Seuche hörte sofort auf.

Der heilige Baal-Schem erfüllte auch sein Versprechen: als sein Tod nahte, befahl er, daß man den Zahn, den er bei sich verwahrte, zu ihm ins Grab lege. Die heiligen Verdienste des Baal-Schem mögen uns und allen Juden beistehen. Amen.


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