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11. Seelen der Märtyrer

In der Stadt Pawlicz war einmal, unserer großen Sünden wegen, eine durch falsche Anschuldigungen hervorgerufene große Judenverfolgung, und viele unserer heiligen Rabbis wurden erschlagen. Die Rabbis aus den anderen Städten entflohen, denn die Verfolgung war sehr grausam. Auch Rabbi Dovid von Korobatsch wollte nach der Walachei entfliehen. Als er unterwegs nach Miedziborz zum heiligen Rabbi Israel, dem Baal-Schem, kam, wollte ihn dieser aufhalten und sagte ihm, daß allen die Rettung kommen würde. Da bekam aber Rabbi Dovid einen Brief, daß noch viele Rabbis erschlagen worden waren und daß man sie zuvor gemartert hatte.

Das war an einem Freitag, und der Baal-Schem war den ganzen Tag über sehr traurig. Als er ins Bad kam, hub er zu weinen an, und als er später das Nachmittagsgebet sprach, zitterte er an allen Gliedern. Alle meinten, daß er sich zum Sabbatanbruch aufheitern werde, doch er empfing den Sabbat in Trauer und Beben und sprach das Kidduschgebet über den Wein mit Tränen. Und gleich nach diesem Gebete verließ er die Tafel, ging in seine Schlafkammer und warf sich auf die Erde. So lag er sehr lange, und die Gäste und das Hausgesinde warteten auf ihn mit dem Essen. Da ging sein Weib zu ihm in die Kammer und sagte ihm, daß die Lichter bald ausbrennen würden. Doch er erwiderte: »Sollen die Leute essen und nach Hause gehen.«

Nun ging Rabbi Dovid von Korobatsch zur Türe der Schlafkammer und stellte sich hin, um zu sehen, was der heilige Rabbi tun würde, denn in der Türe war ein Spalt. Er mußte sehr lange warten, und als er müde wurde, zu stehen, nahm er einen Schemel, rückte ihn zur Türe heran und setzte sich hin. Gegen Mitternacht hörte er, wie der Baal-Schem zu seinem Weibe sagte: »Bedecke dein Gesicht!« Und im gleichen Augenblick wurde es in der Kammer hell, und durch den Spalt in der Türe kam ein Lichtschein.

Und der Baal-Schem rief: »Gesegnet sei dein Kommen, Rabbi Akiba!« Und so begrüßte er die Seelen aller erschlagenen Märtyrer, und nannte einen jeglichen beim Namen. Und er sagte zu ihnen: »Ich beschließe, daß ihr an dem grausamen Verfolger, dem Senator, der euch zum Tode verurteilt hat, Rache nehmen sollt!«

Und die Märtyrer flehten ihn an und sprachen: »Wir bitten Euch, daß diese Worte, die Ihr eben sprachet, nicht mehr über Eure Lippen kommen, und daß Ihr Euren Beschluß zurücknehmt. Ihr wißt selbst nicht, wie groß Eure Macht ist. Denn als Ihr am Sabbat so traurig wart, da ging ein großes Rauschen durch alle Welten. Wir wußten gar nicht, was das zu bedeuten hatte. Wir stiegen in immer höhere Himmelsregionen, doch überall war das gleiche Rauschen. Und als wir in eines der höchsten Himmelsgemächer kamen, wurde uns befohlen: &›Steigt hinab und stillet die Tränen des heiligen Israel Baal-Schem!‹ Nun wollen wir Euch sagen, daß alle Leiden, die der Mensch in seinem Leben erleidet, nichts sind im Vergleich mit den Martern, die wir nach unserm Tode, mit dem wir den Namen des Herrn heiligten, gelitten haben. Denn der Böse Trieb trübte unsere Gedanken, obwohl wir ihn mit beiden Händen wegstießen. Wie sehr wir uns auch wehrten, machte er sein böses Zeichen auf unseren Gedanken, und wir mußten für eine halbe Stunde in die Hölle. Und alle Marter, die wir auf der Welt gelitten haben, sind nichts gegen die Marter, die wir in dieser halben Stunde in der Hölle erfuhren.«

»Und als wir später ins Paradies kamen, sagten wir uns: &›Nun wollen wir Rache an unsern Feinden nehmen!‹ Man sagte uns aber: &›Ihre Zeit ist noch nicht gekommen. Wenn ihr aber dennoch sofort Rache nehmen wollt, so müßt ihr in einer neuen Verwandlung noch einmal auf die Erde zurückkehren.‹ Doch wir antworteten: &›Wir loben den Herrn, gesegnet sei sein Name, und danken ihm, daß wir den Märtyrertod erlitten haben. Wir haben schwere Marter erlitten und waren eine halbe Stunde in der Hölle. Und wenn wir jetzt wieder in einem neuen Dasein auf die Erde kommen, werden wir vielleicht schlechter werden, als wir waren. Darum wollen wir nicht aufs neue verwandelt werden.‹ Nun bitten wir Euch, Rabbi, daß Ihr Euren Beschluß zurücknehmt und uns nicht zwingt, Rache zu nehmen!«

Da fragte der heilige Baal-Schem: »Warum hatte man mir nicht vom Himmel gesagt, daß ihr erschlagen sein werdet? Es sah doch gar nicht so bedenklich aus.«

Und sie antworteten: »Man fürchtete im Himmel, es Euch zu sagen, damit Ihr durch Eure Fürbitte den himmlischen Beschluß nicht umstößt. Denn hättet Ihr das getan, so wäre ein noch viel größeres Unglück geschehen. Darum gab man Euch keine Nachricht.«


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