Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12. Vom Disputieren

Als der fromme und gelehrte Rabbi Jechiel als Rabbiner nach Horodnja berufen wurde, begleitete ihn der heilige Israel Baal-Schem auf seiner Reise zum Amtsantritt. Sie fuhren an einem Donnerstagabend ab. Unterwegs verirrten sie sich. Es war sehr finster, und der Baal-Schem stieg vom Wagen und ging den Weg suchen. Etwas später stieg auch Rabbi Jechiel vom Wagen und machte sich ebenfalls auf die Suche nach dem Weg. Und er sah, wie der Baal-Schem auf der Erde ausgestreckt lag und unter Tränen betete, daß der Himmel ihn vor Entweihung des herannahenden Sabbats behüten möchte. Und Rabbi Jechiel sagte zu seinen Leuten: »Seht nur, wie fromm er ist! Er liegt und betet, daß er den Sabbat nicht entweihe, doch selbst will er sich nicht helfen!«

Sie kamen glücklich in Horodnja an, und Rabbi Jechiel hielt am Sabbat seine erste Predigt. In dieser Stadt lebte aber ein gelehrter Mann, namens Reb Michel, und dieser fing an, mit Rabbi Jechiel während seiner Predigt zu disputieren. Da bat ihn Rabbi Jechiel, er möchte bis zum Sabbatausgang warten; dann werde er ihm bei der Abendmahlzeit alle seine Fragen beantworten.

Die Gemeinde von Horodnja besaß eine eigene Stube, in der die gemeinsamen Sabbatabend-Mahlzeiten abgehalten wurden. Alle versammelten sich in dieser Stube, und Reb Michel setzte sich neben den neuen Rabbiner. Aber Rabbi Wolf Kizes, der sich unter den Begleitern des Baal-Schem befand, setzte sich an eine entfernte Tischecke. Da sagte ihm der Baal-Schem: »Ich liebe solche Bescheidenheit nicht. Setze dich zu uns!«

Rabbi Jechiel fing an, seine Predigt zu erklären, und Reb Michel begann mit ihm zu disputieren. Nun mischte sich auch Rabbi Wolf Kizes in das Gespräch ein, und Reb Michel mußte ihm unterliegen. Er fuhr aber fort zu streiten und disputierte mit unehrlichen Mitteln. Da sagte der Baal-Schem: »Hört doch auf und stört nicht die Mahlzeit!«

Am nächsten Tage fuhren der Baal-Schem, Rabbi Jechiel und Rabbi Wolf Kizes zu einer Beschneidungsfeier, und Reb Michel drängte sich ihnen auf und fuhr ebenfalls mit. Beim Festmahle fing Reb Michel an, über Astronomie zu reden, denn er dachte sich, daß es mit ihm darin niemand aufnehmen könne. Doch Rabbi Wolf Kizes zeigte ihm, daß er von Astronomie viel mehr verstand als Reb Michel selbst. Da sagte dieser: »Es ist doch wirklich seltsam, daß ein Chassid so viel von Astronomie versteht!«

Als der heilige Baal-Schem das Fest verließ, fürchtete er, daß Reb Michel den neuen Rabbiner Rabbi Jechiel durch sein Disputieren in den Augen der Gemeinde beschämen würde. Darum richtete er es so ein, daß Reb Michel plötzlich sein ganzes Wissen vergaß. Wie er einen Talmudband aufschlug, konnte er sich darin plötzlich gar nicht zurechtfinden; er glaubte, das käme daher, weil er etwas zu viel getrunken habe. Er schlug das Buch zu, steckte sich eine Pfeife an und disputierte nicht mehr. Als er am nächsten Morgen ins Bethaus kam und nach dem Beten seiner Gewohnheit gemäß ein Talmudkapitel durchnehmen wollte, merkte er wieder, daß er nichts mehr verstand. Da begriff er, daß das die Strafe war, weil er Rabbi Jechiel öffentlich beschämen wollte.

Nun reiste er sofort zum Baal-Schem und bat ihn, daß er ihm sein Wissen zurückgebe. Der heilige Baal-Schem strafte ihn für sein Benehmen. »Und doch«, fügte er hinzu, »hat der Herr, gesegnet sei sein Namen, dem Volke Israel die Thora gegeben, damit man über sie disputiert und einander besiegt.« Reb Michel versprach, von seiner Art zu disputieren zu lassen, und wurde von nun an ein ehrlicher Mann.


 << zurück weiter >>