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Die Geschichte einer Mutter

Bild: Hans Tegner

Eine Mutter saß tief betrübt am Bettchen ihres kleinen Kindes, denn dieses war sterbenskrank. Das Gesichtchen war todesblaß, die Augen waren geschlossen, leise und matt ging der Atem und wurde nur ab und zu von einem tiefen Zuge, der einem Seufzer glich, unterbrochen. Immer trauriger betrachtete die Mutter ihren kleinen Liebling.

Da klopfte es an die Türe, und herein trat ein armer alter Mann, der dem Anschein nach in eine große Pferdedecke gehüllt war.

Eine solche hält warm, und Wärme tat ihm wirklich not; denn es war um die Winterszeit, draußen war alles mit Eis und Schnee bedeckt, und ein rauher Wind schlug ihm entgegen.

Da der alte Mann vor Frost zitterte, und das Kind gerade einen Augenblick schlief, stellte die Mutter in einem kleinen Topfe etwas Bier in den Ofen, um es für den Fremden zu wärmen.

Der alte Mann setzte sich neben das Bettchen und begann das Kindlein zu wiegen, die Mutter ließ sich auf dem Stuhl neben ihm nieder und betrachtete ihr Kind, das nun schwer atmete, mit banger Sorge.

Dann ergriff sie sein Händchen und fragte den Mann: »Glaubst du nicht, daß es wieder gesund wird? Ach, der liebe Gott wird es mir doch nicht nehmen!«

Bild: Hans Tegner

Aber der alte Mann, der der Tod selbst war, nickte so sonderbar, daß es ebensogut ja als nein bedeuten konnte. Da schlug die Mutter die Augen nieder, und heiße Tränen rollten ihr über die Wangen herab, der Kopf wurde ihr schwer, denn sie hatte während dreier Tage und dreier Nächte kein Auge geschlossen, nun schlief sie ein, aber nur für einen Augenblick, dann fuhr sie, vor Kälte bebend, wieder auf. »Was ist das!« rief sie und sah sich nach allen Seiten um. Aber der alte Mann war fort, und ihr Liebling war auch fort; er hatte ihn mit sich genommen.

Drüben in der Ecke schnurrte das große Bleigewicht an der alten Uhr, es lief bis auf den Fußboden und bums! da stand auch die Uhr still.

Die arme Mutter lief zum Hause hinaus und rief nach ihrem Kinde.

Draußen im Schnee saß eine Frau in einem langen schwarzen Gewande und sagte: »Der Tod ist bei dir in deiner Stube gewesen, ich sah ihn mit deinem Kinde davoneilen; er schreitet schneller als der Wind, und nie bringt er das wieder zurück, was er mitgenommen hat.«

»Sage mir nur, welchen Weg er einschlug«, bat die Mutter dringend. »Wenn ich den Weg weiß, werde ich ihn schon finden.«

»Ich weiß, wohin du gehen mußt«, sagte die Frau in dem schwarzen Gewande, »aber ehe ich dir die Richtung angebe, mußt du mir alle die Lieder singen, die du deinem Kinde vorgesungen hast. Ich liebe sie, und ich habe sie schon früher gehört, denn ich bin die Nacht und sah alle deine Tränen, die du vergossest, während du sie sangst.«

»O, ich will sie dir alle, alle singen«, gab die Mutter zurück, »aber halte mich nur jetzt nicht auf, damit ich den Tod einholen und mein Kind wiederbekommen kann!«

Allein die Nacht saß stumm und unbeweglich da, die Mutter rang ihre Hände und weinte und sang nun alle Lieder. Ach! es waren deren viele, aber noch weit mehr waren es der Tränen, die ihr aus den Augen quollen.

Darauf sagte die Nacht: »Gehe hier zur Rechten in den dunklen Tannenwald hinein, dorthin hat sich der Tod mit deinem Kinde gewandt.«

Tief im Walde kam die Mutter an einen Kreuzweg, und nun wußte sie nicht, welche Richtung sie einschlagen sollte. Ein kahler Dornbusch stand da, ohne Blätter und Blüten, denn es war ja tiefer Winter, und dichter Reif lag auf den Zweigen.

»Hast du nicht den Tod mit meinem Kinde vorübergehen sehen?«

»Doch«, sagte der Dornbusch, »aber ehe ich dir sage, welchen Weg er einschlug, mußt du mich an deinem Herzen erwärmen, sonst erfriere ich hier und werde zu lauter Eis.«

Da drückte sie den Dornbusch an ihr Herz, um ihn recht zu erwärmen, und die Dornen drangen ihr ins Fleisch, daß das Blut in großen Tropfen hervorquoll. Aber siehe da! der Dornbusch trieb frische, grüne Blätter, ja, sogar Blüten erschlossen sich in der kalten Winternacht; so warm ist es am Herzen einer betrübten Mutter. Darauf beschrieb ihr der Dornbusch den Weg, den sie einschlagen mußte.

Nach einiger Zeit kam sie an einen großen See, allein da war weder ein Schiff noch ein Boot zu sehen, und die Eisdecke auf dem Wasser war noch nicht fest genug, um sie zu tragen, und selbst wenn kein Eis darauf gewesen wäre, war der See doch zu tief zum Durchwaten gewesen. Aber hinüber mußte die Mutter, koste es, was es wolle, sie mußte ihr Kind finden. In ihrer Verzweiflung legte sie sich nieder, um den See auszutrinken, und das ist doch unmöglich für einen Menschen.

Allein die betrübte Mutter dachte, es werde vielleicht ein Wunder geschehen.

»Nein, das kannst du nicht«, sagte der See, »wir wollen lieber einen Vertrag miteinander schließen. Ich habe eine Vorliebe für Perlen, und deine Augen sind die beiden klarsten, die ich je gesehen habe. Willst du sie in mich ausweinen, dann will ich dich nach dem großen Treibhause hinüberbringen, wo der Tod wohnt und Blumen und Bäume zieht. Jedes Menschenleben hier auf der Erde wächst dort als eine Pflanze.«

»O, was gäbe ich nicht, um zu meinem Kinde zu gelangen!« rief die weinende Mutter. Und nun flossen ihre Tränen noch reichlicher, bis ihre Augen auf den Grund des Sees hinabsanken und dort zwei kostbare Perlen wurden. Der See aber hob die Mutter auf, als ob sie in einer Schaukel säße, und mit einer einzigen Schwingung trug er sie an das jenseitige Ufer, wo ein viele Meilen langes, merkwürdiges Haus stand. Man wußte nicht recht, ob es einen Berg mit Wäldern und Grotten vorstellte, oder ob es ein Werk von Menschenhand war; doch die arme Mutter konnte nichts sehen, sie hatte sich ja die Augen ausgeweint.

Bild: Hans Tegner

»Ach, wo werde ich den Tod finden, der mit meinem Liebling davonging?« seufzte sie.

»Hier ist er noch nicht angekommen«, sagte eine alte Frau, die mit der Aufsicht über die großen Treibhäuser des Todes betraut war. »Wie hast du den Weg hierher finden können, wer hat dir dabei geholfen?«

»Mir hat der liebe Gott geholfen«, erwiderte sie, »er ist barmherzig gewesen, ach, sei du es nun auch! Wo kann ich mein Kind finden?«

»Ich kenne es nicht«, sagte die Frau, »und du kannst ja nicht sehen. Viele Blumen und Bäume sind in dieser Nacht verwelkt, und bald wird der Tod kommen und sie verpflanzen. Du weißt doch, daß jeder Mensch, je nachdem seine Anlagen beschaffen sind, seinen Lebensbaum oder seine Lebensblume hier hat, sie sehen ganz wie andere Gewächse aus, nur daß in ihrem Innern ein Herz schlägt. Auch Kinderherzen können schon klopfen. Richte dich darnach und gehe zu den Blumen hin, vielleicht kannst du den Herzschlag deines Kindes erkennen; doch was willst du mir geben, wenn ich dir sage, was du außerdem noch tun mußt?«

»Geben kann ich dir zwar nichts mehr«, sagte die betrübte Mutter, »aber bis ans Ende der Welt will ich für dich gehen!«

»Dort habe ich nichts zu besorgen«, versetzte die Frau, »allein du kannst mir ja dein langes, schwarzes Haar geben. Es ist schön und gefällt mir recht gut. Du sollst mein weißes dafür bekommen, das ist doch immer etwas!«

»Ist das alles?« entgegnete die Mutter. »Das gebe ich dir mit Freuden!« Und so gab sie ihr schönes, schwarzes Haar hin und erhielt dafür das schneeweiße der Alten.

Darauf gingen sie in die großen Gewächshäuser des Todes, wo Blumen und Bäume in merkwürdigem Gemisch durcheinander wuchsen. Da standen unter Glasglocken feine Hyazinthen und große prunkende Päonien; da wuchsen Wasserpflanzen, von denen die einen ganz frisch, die andern aber schon halb verwelkt waren; auf diesen lagerten sich Wasserschlangen, und schwarze Krebse umklammerten deren Stengel. Auch herrliche Palmen standen da, sowie Eichen und Platanen, und dann wieder Petersilie und blühender Thymian.

Jeder Baum und jede Blume hatte ihren besonderen Namen, denn jedes von ihnen war ein Menschenleben, und der Mensch, den die Pflanze vorstellte, lebte noch, der eine in China, der andere in Grönland, ja, überall auf der ganzen Erde ringsumher; auch waren da große Bäume in kleinen Töpfen, so daß sie eingezwängt dastanden und die Scherben fast zersprengten.

An manchen Stellen sah man auch eine kleine kränkliche Blume in fettem Boden, von allen Seiten mit Moos umgeben und sorgsam gepflegt.

Die betrübte Mutter beugte sich nun über die kleinsten Pflanzen und lauschte auf deren Herzschlag, und aus Millionen heraus erkannte sie das Herz ihres Kindes.

»Das ist es!« rief sie und streckte die Hand über eine kleine blaue Krokusblüte aus, deren Blätter auf die Erde herabhingen.

»Rühre die Blume nicht an!« warnte die alte Frau, »stelle dich aber hierher, und wenn der Tod, der jeden Augenblick kommen kann, erscheint, dann lasse ihn die Pflanze nicht ausreißen, sondern drohe ihm damit, daß du es mit den andern Pflanzen ebenso machen würdest. Dann wird er erschrecken, denn er muß dem lieben Gott Rechenschaft ablegen, ohne dessen Erlaubnis darf keine ausgerissen werden.«

Plötzlich zog ein eiskalter Hauch durch den Saal, und die blinde Mutter merkte, daß der Tod nahte.

»Wie hast du denn den Weg hierher gefunden?« fragte er. »Wie konntest du schneller als ich kommen?«

»Ich bin eine Mutter!« lautete ihre Antwort. Nun streckte der Tod seine lange, hagere Hand nach der kleinen blauen Blume aus, sie aber hielt schützend ihre Hand darüber, aber doch mit zärtlicher Sorgfalt, damit sie keins der Blätter berühre. Da hauchte der Tod auf ihre Finger, und sie fühlte, daß sein Odem kälter war als der kälteste Wind, und ihre Hand sank matt herab.

»Du vermagst doch nichts gegen mich!« sagte der Tod.

»Nein, aber Gott ist mächtiger als du!« entgegnete sie.

»Ich tue nur, was er will«, erwiderte der Tod, »denn ich bin sein Gärtner. Ich nehme nur seine Blumen und Bäume und verpflanze sie in den großen Garten des Paradieses, in das ›unbekannte Land‹. Wie sie aber dort wachsen, und wie es dort aussieht, darf ich dir nicht sagen.«

»O, gib mir mein Kind zurück!« flehte die Mutter weinend, und plötzlich ergriff sie zwei schöne Blumen an ihrer Seite und rief dem Tod zu: »Ich reiße alle deine Blumen aus, denn ich bin an der Verzweiflung!«

»Rühre sie nicht an!« rief der Tod. »Du sagst, du seiest unglücklich, und nun willst du eine andere Mutter ebenso unglücklich machen!«

»Eine andere Mutter!« seufzte die arme Frau und ließ sogleich die Blumen los.

»Da hast du deine Augen wieder«, sagte der Tod, »ich habe sie aus dem See ausgefischt, weil sie so hell glänzten; ich wußte nicht, daß es die deinigen waren. Nimm sie zurück, sie sind jetzt noch klarer als vorher, und nun komm mit und schaue hier in den tiefen Brunnen neben dir. Ich will dir die Namen der beiden Blumen, die du ausreißen wolltest, nennen, du wirst dann ihre ganze Zukunft, ihr ganzes Menschenleben sehen und erkennen, was du zerstören und vernichten wolltest!«

Die Mutter schaute in den Brunnen hinab und sah die Zukunft der beiden Menschenkinder, deren Blumen sie hatte abreißen wollen. Welch ein Gefühl der Freude erfüllte sie, als sie wahrnahm, wie das eine ein Segen für die Welt wurde und Glück und Freude um sich verbreitete! Aber das Leben des andern, welch ein Schmerz! Sein Dasein brachte nur Kummer und Not, Jammer und Elend!

»Beides ist Gottes Wille«, sagte der Tod.

»Welche von ihnen ist die Blume des Unglücks und welche die des Segens?« fragte die Mutter.

»Das darf ich dir nicht sagen«, erwiderte der Tod, »aber soviel sollst du erfahren, daß die eine Blume die deines eigenen Kindes war; das Schicksal deines Kindes also war es, das du sahest, ja, die Zukunft deines eigenen Lieblings.«

Da schrie die Mutter laut auf vor Entsetzen: »Welche von ihnen war mein Kind? Sage es mir! O, erlöse mein unschuldiges Kind! Nimm es lieber fort, trage es in das Reich Gottes! Vergiß meine Tränen, vergiß mein Flehen und alles, was ich gesagt und getan habe!«

»Ich verstehe dich nicht«, sagte der Tod. »Willst du dein Kind zurück haben, oder soll ich mit ihm in das unbekannte Land gehen, von dem nie jemand zurückkehrt?«

Da rang die Mutter ihre Hände, fiel auf ihre Knie und sandte ein heißes Gebet zu Gott empor: »Nicht mein, sondern dein Wille geschehe, o Gott, erhöre mich nicht, erhöre mich nicht, wenn ich gegen deinen Willen bitte, er allein ist der beste!«

Und sie neigte ergeben ihr Haupt auf ihre Brust.

Der Tod aber ging mit ihrem Kinde in das »unbekannte Land«.

Bild: Hans Tegner

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