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Bild: Hans Tegner

Die Störche

Auf dem letzten Hause eines Dörfchens war ein Storchennest. Die Storchenmutter saß darin bei ihren vier kleinen Jungen, die die Köpfchen mit den schwarzen Schnäbeln – denn sie waren noch nicht rot geworden – hervorstreckten.

Ein wenig entfernt davon stand auf dem Dachfirste stolz und steif der Storchenvater. Er hatte das eine Bein emporgezogen, um doch auch ein wenig Mühe zu haben, während er Schildwache stand. Man hätte meinen können, er sei aus Holz geschnitzt, so still stand er da.

»Es sieht gewiß recht vornehm aus, daß meine Frau eine Schildwache vor dem Neste hat«, dachte er. »Die Leute können ja nicht wissen, daß ich ihr Mann bin, und glauben sicherlich, ich sei hierher kommandiert worden. Es sieht wirklich ganz feudal aus.« Und unermüdlich stand er auf einem Bein.

Unten auf der Straße spielte eine Schar Kinder. Als sie die Störche erblickten, sang einer der kecksten Knaben, und allmählich alle zusammen, das alte Storchenlied, so gut sie sich daran erinnern konnten:

Auf einem Beine steht der Storch,
klappert mit dem Schnabel, horch!
Die Störchin sitzt im Neste gut
Und hütet ihre junge Brut.
Das eine wird gehenkt, das andre wird gesengt.
Das dritte wird gespießt, das vierte man erschießt!«

»Höre nur, was die kleinen Jungen singen«, sagten die kleinen Storchenkinder. »Sie sagen, wir würden gespießt und verbrannt.«

Bild: Hans Tegner

»Ihr braucht euch nichts daraus zu machen«, rief die Storchenmutter, »höret nur nicht darauf, dann schadet es euch nichts!«

Aber die Knaben sangen den Vers immer von neuem und deuteten dabei mit Fingern nach den Störchen. Nur ein Knabe, namens Peter, sagte, es sei eine Sünde, sich über die Tiere lustig zu machen, und sang nicht mit.

Die Storchenmutter tröstete ihre Kinder, indem sie sagte: »Kümmert euch doch nicht darum; seht nur, wie ruhig euer Vater dasteht, und zwar auf einem Bein!«

Bild: Hans Tegner

»Ach, wir fürchten uns!« riefen die jungen Störche und zogen die Köpfe tief ins Nest zurück.

Als am nächsten Tag die Kinder wieder zum Spielen zusammenkamen und die Störche erblickten, begannen sie sofort wieder zu singen: »Das eine wird gehenkt, das andre wird versengt ...«

»Werden wir wohl gehenkt und versengt?« fragten die Storchenkinder.

»Nein, ganz gewiß nicht«, erwiderte die Storchenmutter. »Aber fliegen sollt ihr lernen; ich werde euch Unterricht geben. Dann fliegen wir hinaus auf die Wiesen und statten den Fröschen einen Besuch ab. Diese verneigen sich vor uns im Wasser und singen ›quak, quak!‹, und dann verspeisen wir sie. Das wird eine Lust werden!«

»Und was dann?« fragten die Storchenkinder.

»Dann versammeln sich alle Störche, die hier im Lande wohnen, und darauf beginnt die große Herbstübung. Da muß man gut fliegen, das ist von großer Wichtigkeit; denn wer nicht fliegen kann, wird von dem General mit seinem Schnabel totgestochen. Gebt euch deshalb recht Mühe, wenn der Fliegunterricht beginnt.«

»Dann werden wir ja aber doch gespießt, wie die Knaben behaupten; und höre nur, jetzt rufen sie es schon wieder!«

»Hört auf mich und nicht auf sie«, sagte die Storchenmutter. »Nach der großen Übung fliegen wir in die heißen Länder, weit fort von hier über Berge und Wälder. Ja, nach Ägypten fliegen wir, wo es dreieckige Steinhäuser gibt, die in eine Spitze auslaufen und bis in die Wolken hineinragen. Sie heißen Pyramiden und sind älter, als irgend ein Storch sich vorstellen kann. Dort ist auch ein Fluß, der aus seinen Ufern tritt und das ganze Land mit Schlamm überzieht. Dann watet man im Schlamm herum und verspeist Frösche.«

»O!« riefen die Jungen.

»Ja, dort ist es herrlich. Den ganzen Tag tut man nichts anderes als immerfort essen, und während wir es so gut haben, ist hierzulande nicht ein grünes Blatt auf den Bäumen. Es ist dann so kalt hier, daß die Wolken in Stücke gefrieren und in kleinen weißen Läppchen herunterfallen.«

Damit meinte die Storchenmutter den Schnee; sie konnte sich nicht deutlicher ausdrücken.

»Frieren dann auch die unartigen Knaben in lauter Stücke?« fragten die Storchenkinder.

»Nein, in Stücke gefrieren sie gerade nicht, obgleich es oft nahe daran ist; aber sie müssen in der dunklen Stube und hinter dem Ofen sitzen. Ihr dagegen könnt in fremden Ländern umherfliegen, wo es Blumen und warmen Sonnenschein gibt.«

Inzwischen war schon einige Zeit verstrichen, und die Jungen waren jetzt so groß, daß sie aufrecht im Nest stehen und weit umherschauen konnten. Der Storchenvater kam jeden Tag mit hübschen Fröschen und kleinen Schlangen angeflogen, und allen möglichen Storchleckereien, die er nur finden konnte.

Wie vergnügt waren die Jungen, wenn er ihnen Kunststücke vormachte! Er verstand es, den Kopf gerade auf den Schwanz zu legen, und konnte mit dem Schnabel klappern wie mit einer Knarre, und dann erzählte er ihnen Geschichten, die alle vom Sumpfe handelten.

»Jetzt müßt ihr aber das Fliegen lernen!« sagte eines Tages die Storchenmutter, und dann mußten alle vier Junge auf den Dachfirst hinaus. O, wie sie schwankten, wie sie sich mit den Flügeln im Gleichgewicht zu erhalten suchten und doch nahe daran waren, hinunterzufallen!

»Seht nur auf mich!« sagte die Mutter. »So müßt ihr den Kopf halten! So müßt ihr die Beine setzen! Eins, zwei! Eins, zwei! Das wird euch in der Welt vorwärts helfen!«

Darauf flog sie eine kurze Strecke, die Jungen machten einen kleinen, plumpen Satz und bums! da lagen sie, denn sie waren noch zu schwerfällig.

»Ich will nicht fliegen«, sagte das eine Junge und kroch wieder in das Nest hinein. »Ich mache mir nichts daraus, nach den heißen Ländern zu kommen.«

»Dann willst du also hier im Winter erfrieren? Oder sollen dich etwa die Knaben aufhängen und verbrennen und aufspießen? Dann will ich sie nur gleich rufen!«

»Nein, nein!« rief das Storchenkind und hüpfte wieder auf das Dach zu den andern.

Am dritten Tag konnten sie auch schon ganz ordentlich fliegen, und nun meinten sie, sie könnten auch schweben. Sie versuchten es, aber bums! da plumpsten sie wieder und mußten schnell wieder ihre Flügel in Bewegung setzen. Nun liefen die Knaben auf der Straße zusammen und begannen ihr Lied:

»Auf einem Beine steht der Storch ...«

»Sollen wir hinfliegen und ihnen die Augen aushacken?« fragten die Jungen.

»Nein, das laßt nur bleiben!« antwortete die Mutter, »hört auf mich, das ist weit wichtiger! Eins, zwei, drei! nun fliegen wir rechtsum! Eins, zwei drei! nun links um den Schornstein! Seht, das war recht gut! Der letzte Flügelschlag war so hübsch und so richtig, daß ihr morgen mit mir in den Sumpf fliegen dürft. Dort kommen mehrere nette Storchenfamilien mit ihren Kindern zusammen. Zeigt dann, daß die meinigen die wohlerzogensten sind, und haltet euch recht aufrecht und gerade; das sieht gut aus und gibt ein gewisses Ansehen.«

»Aber sollen wir uns denn gar nicht an den unartigen Kindern rächen?« fragten die Storchenkinder.

»Laßt sie schreien, so viel sie wollen! Ihr fliegt ja doch zu den Wolken empor und kommt in das Land der Pyramiden, während sie frieren müssen und weder ein grünes Blatt noch einen süßen Apfel haben.«

»Aber wir wollen uns rächen!« flüsterten sie einander zu, und dann wurde wieder fleißig geübt.

Von allen Knaben auf der Gasse war keiner mehr darauf aus, das Spottlied zu singen, als der, der es zuerst angestimmt hatte, und das war dazu ein ganz kleiner Knirps, der gewiß nicht mehr als sechs Jahre alt war. Die Storchenkinder meinten freilich, er sei mindestens hundert, weil er so viel größer als ihr Vater und ihre Mutter war. Was wußten denn sie davon, wie alt Kinder und erwachsene Menschen sein können!

Ihre ganze Rache sollte also diesen Knaben treffen; er hatte mit dem Lied angefangen und fuhr immer noch damit fort. Die jungen Störche waren recht aufgebracht über ihn, und je größer sie wurden, destoweniger wollten sie seinen Spott dulden. Die Mutter mußte ihnen zuletzt versprechen, daß sie gerächt werden sollten. Diese Rache sollte jedoch erst am letzten Tag ihres Aufenthalts im hiesigen Land vollzogen werden.

»Wir müssen doch erst sehen, wie es euch bei der großen Vorstellung geht! Macht ihr eure Sache schlecht, so daß der General euch den Schnabel in die Brust stoßen muß, dann haben die Knaben ja recht, wenigstens in einer Hinsicht! Laßt uns also zuerst sehen!«

»Ja, das sollst du!« sagten die Jungen und gaben sich nun erst recht Mühe. Sie übten sich jeden Tag und flogen schließlich so niedlich und leicht, daß es eine wahre Lust war.

Nun kam der Herbst, und die Störche versammelten sich allmählich, um nach den warmen Ländern zu fliegen. Das war ein Üben und Vorbereiten! Über Wälder und Städte mußten sie hinfliegen, nur um zu sehen, wie sie es aushielten; denn es stand ihnen ja eine gar große Reise bevor.

Unsere jungen Störche machten ihre Sache so gut, daß sie das Zeugnis »Ausgezeichnet mit Frosch und Schlange« erhielten.

Das war nun das beste Zeugnis, und den Frosch und die Schlange durften sie verzehren, was sie auch taten.

»Jetzt wollen wir uns rächen!« sagten sie.

»Jawohl«, sagte die Storchenmutter. »Ich habe mir auch schon etwas ausgedacht, und das ist gerade das richtige. Ich weiß, wo der Teich ist, in dem alle die kleinen Menschenkinder liegen, bis der Storch kommt und sie ihren Eltern bringt. Die hübschen kleinen Kinder träumen und schlafen dort süß wie nachher niemals wieder. Alle Eltern wollen gern so ein Mädchen, und alle Kinder ein Schwesterchen oder ein Brüderchen haben. Wir wollen nun nach dem Teich hinfliegen und für jedes der Kinder, die das abscheuliche Lied nicht gesungen und sich nicht über die Störche lustig gemacht haben, eines holen.«

»Aber der böse Junge, der zu singen angefangen hat, was machen wir mit ihm?«

»Dort im Teich liegt auch ein totes Kindchen, das sich zu Tode geträumt hat; das wollen wir zu ihm hintragen, dann muß er weinen, weil er ein totes Brüderchen bekommen hat. Allein der gute Junge, den ihr gewiß noch nicht vergessen habt, derjenige, welcher sagte, es sei eine Sünde, sich über die Tiere lustig zu machen, dem wollen wir sowohl ein Brüderlein als auch ein Schwesterlein bringen, und da der Knabe Peter heißt, so sollt ihr von jetzt an auch alle Peter heißen.«

Und wie die Storchenmutter gesagt hatte, so geschah es: seitdem heißen alle Störche Peter und werden noch heute so genannt.

Bild: Hans Tegner


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