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Bild: Hans Tegner

Däumelinchen

Es war einmal eine Frau, die gar zu gern ein Kindchen gehabt hätte. Aber sie wußte gar nicht, wo sie es herbekommen sollte. Da ging sie zu einer alten Hexe und sagte zu ihr: »Ich möchte gar zu gern ein Kindchen haben. Kannst du mir nicht sagen, wie ich mir eins verschaffen kann?«

»O ja, da können wir schon helfen«, erwiderte die Hexe. »Hier hast du ein Gerstenkorn. Es ist aber durchaus keins von der Art, wie es auf dem Felde des Bauern wächst oder womit man die Hühner füttert. Lege es nur in einen Blumentopf, dann wirst du bald etwas zu sehen bekommen.«

»Vielen Dank!« sagte die Frau und gab der Hexe acht Silbergroschen dafür. Dann ging sie nach Hause, pflanzte das Gerstenkorn, und sogleich wuchs eine große, herrliche Blume hervor, die vollkommen einer Tulpe glich. Aber die Blätter waren so fest geschlossen, als ob sie noch in der Knospe wären.

»Das ist eine schöne Blume«, sagte die Frau und küßte sie auf die prächtigen rot- und gelbgefärbten Blätter. Aber während sie diese küßte, ertönte plötzlich ein starker Knall, und die Blume öffnete sich. Es war, wie man nun sehen konnte, eine wirkliche Blume; allein mitten in der Blüte, auf dem grünen Griffel, saß ein winzig kleines, gar feines und liebliches Mädchen wie auf einem Stuhle. Es war nicht größer als ein Daumen und wurde daher »Däumelinchen« genannt.

Eine prächtige, lackierte Wallnußschale erhielt Däumelinchen als Wiege, blaue Veilchenblätter waren ihre Matratze und ein Rosenblatt ihr Deckbett. Darin schlief sie des Nachts. Aber am Tage spielte sie auf dem Tisch, auf den die Frau einen mit Wasser gefüllten und mit Blumen bekränzten Teller gestellt hatte. Die Blumenstiele standen im Wasser, und darin schwamm ein großes Tulpenblatt; auf dieses durfte Däumelinchen sitzen, und von der einen Seite des Tellers nach der andern fahren. Zum Rudern hatte sie zwei Roßhaare. Das sah wirklich allerliebst aus. Sie konnte auch singen, o, so zart und fein, wie es noch nie jemand gehört hatte.

Eines Nachts, als Däumelinchen in ihrem hübschen Bettchen lag, hüpfte eine häßliche Kröte durchs Fenster, an dem eine Scheibe zerbrochen war, herein. Die Kröte war schrecklich garstig, groß und naß. Sie hüpfte gerade auf den Tisch hernieder, wo Däumelinchen lag und unter dem roten Rosenblatte schlief.

»Das wäre eine reizende Frau für meinen Sohn!« sagte die Kröte. Darauf ergriff sie die Wallnußschale, worin Däumelinchen schlief, und hüpfte mit ihr durch die zerbrochene Scheibe in den Garten hinunter.

Da floß ein großer, breiter Bach; aber neben dem Ufer war es sumpfig und morastig. Hier wohnte die Kröte mit ihrem Sohne. Huh! der war ebenso garstig und häßlich wie seine Mutter und ihr zum Verwechseln ähnlich. »Krax, krax, breckekekex!« war alles, was er sagen konnte, als er das niedliche kleine Mädchen in der Nußschale erblickte.

»Rede nicht so laut, sonst erwacht sie!« sagte die alte Kröte. »Sie könnte uns am Ende noch entfliehen; denn sie ist so leicht wie Schwanenflaum! Wir wollen sie in den Bach hinaus auf eins der breiten Wasserlilienblätter setzen. Das ist für sie, die so klein und leicht ist, wie eine Insel. Da kann die nicht davonlaufen, während wir drunten im Sumpfe die Staatsstube, wo ihr wohnen und leben sollt, instand setzen.«

Bild: Hans Tegner

Nach der Mitte des Baches hin wuchsen viele Wasserlilien mit ihren breiten, grünen Blättern. Es sah aus, als ob diese auf dem Wasser schwämmen, und das Blatt, das am weitesten vom Ufer entfernt stand, war zugleich auch das allergrößte. Dorthin schwamm die alte Kröte und setzte die Nußschale mit Däumelinchen darauf.

Das arme kleine Mädchen erwachte früh am nächsten Morgen, und als es wahrnahm, wo es war, begann es bitterlich zu weinen. Denn auf allen Seiten war das große, grüne Blatt von Wasser umgeben, und es war Däumelinchen unmöglich, ans Land zu kommen.

Die alte Kröte saß indessen unten im Sumpfe und schmückte ihr Zimmer mit Schilf und gelben Wasserrosen; denn für die neue Schwiegertochter sollte alles aufs hübscheste hergerichtet werden. Darauf schwamm sie mit ihrem häßlichen Sohne zu dem Blatte hinaus, wo Däumelinchen sich befand. Sie wollten deren niedliches Bett holen, das in das Brautgemach gestellt werden sollte, ehe die Braut selbst dessen Schwelle überschritt.

Die alte Kröte verneigte sich tief im Wasser vor ihr und sagte: »Hier stelle ich dir meinen Sohn vor, der dein Ehegemahl werden soll. Ihr werdet drunten im Sumpfe ganz herrlich wohnen.«

»Krax, krax, breckekekex!« war alles, was der Sohn hervorbrachte.

Nun nahmen sie das prächtige kleine Bett und schwammen damit fort. Däumelinchen aber saß einsam auf dem grünen Blatt und vergoß heiße Tränen. Sie wollte ja weder bei der häßlichen Kröte wohnen, noch ihren häßlichen Sohn zum Manne haben. Aber die kleinen Fische, die unten im Wasser schwammen, hatten die Kröte wohl gesehen und auch gehört, was sie zu Däumelinchen gesagt hatte. Sie streckten deshalb alle die Köpfe in die Höhe, denn sie wollten doch auch das kleine Mädchen sehen. Kaum hatten sie es erblickt, da fanden sie es wunderhübsch, und es war ihnen von Herzen leid, daß es zu der häßlichen Kröte hinunter sollte. Nein, das durfte nicht geschehen! Sie versammelten sich also unten im Wasser, rings um den grünen Stengel des großen Blattes, worauf Däumelinchen stand, und nagten den Stiel ab, und nun schwamm das Blatt mit Däumelinchen darauf den Bach hinab, weit, weit fort, wohin die Kröte nicht gelangen konnte.

Däumelinchen fuhr nun an vielen Städten vorüber. Die kleinen Vögel saßen in den Büschen, sahen sie und sangen: »Welch niedliches, kleines Mädchen!« Weiter und immer weiter schwamm das Blatt mit ihr, und so reiste Däumelinchen ins Ausland.

Ein hübscher, kleiner, weißer Schmetterling umflatterte sie beständig und ließ sich endlich auf dem Blatte nieder; denn Däumelinchen gefiel ihm gar zu gut. Diese war sehr glücklich, daß die Kröte sie nun nicht mehr erreichen konnte; und wo sie vorbeifuhr, war es überall wunderschön. Die Sonne glänzte auf dem Wasser, daß es wie flüssiges Gold leuchtete. Da nahm Däumelinchen ihren Gürtel, schlang das eine Ende um den Schmetterling und band das andere am Blatte fest. Dieses glitt nun noch weit schneller dahin und Däumelinchen mit; denn sie stand ja auf dem Blatte.

Bild: Hans Tegner

Plötzlich kam ein großer Maikäfer dahergeflogen. Der gewahrte sie, legte sofort seine Klauen um ihren schlanken Leib und flog mit ihr auf einen Baum. Das grüne Blatt aber schwamm den Bach hinab, und der Schmetterling flog mit, denn er war ja an das Blatt gebunden und konnte sich nicht losmachen.

O, wie sehr erschrak das arme Däumelinchen, als der Maikäfer mit ihr auf den Baum hinaufflog! Am meisten bekümmerte sie jedoch der Gedanke an den schönen weißen Schmetterling, den sie an das Blatt gebunden hatte. Wenn er nicht auf irgend eine Weise loskam, mußte er verhungern. Aber das war dem Maikäfer ganz einerlei. Er setzte sich mit ihr auf das größte grüne Blatt, bewirtete sie mit Blütenhonig und sagte ihr, sie sei wunderschön, obgleich sie durchaus nicht wie ein Maikäfer aussehe. Später kamen alle die andern Maikäfer, die auf dem Baume wohnten, zu Besuch. Sie beguckten Däumelinchen von allen Seiten, aber die Maikäferfräulein rümpften die Fühlhörner, und eins sagte: »Sie hat ja nur zwei Füße; das sieht doch zu ärmlich aus!« – »Sie hat keine Fühlhörner!« rief ein anderes. – »O, wie schlank sie um die Hüften ist!« spottete ein drittes. – »Pfui, sie sieht ja gerade wie ein Mensch aus!« riefen alle miteinander. Und doch war Däumelinchen allerliebst.

Das fand nun der Maikäfer auch, der sie entführt hatte. Da aber alle andern sie einstimmig häßlich fanden, glaubte er es zuletzt selbst und wollte sie nun gar nicht mehr haben. Sie konnte gehen, wohin sie wollte. Darauf flogen die Maikäfer mit ihr vom Baume hinunter und setzten sie auf ein Gänseblümchen. Da vergoß Däumelinchen bittere Tränen darüber, daß sie so häßlich sei, daß nicht einmal die Maikäfer sie unter sich dulden wollten. Und doch war sie über alle Begriffe schön, so fein und zart wie das herrlichste Rosenblatt.

Den ganzen Sommer hindurch lebte das arme Däumelinchen ganz allein in dem großen Walde. Sie flocht sich ein Bett aus Grashalmen und hing es unter einem breiten Klettenblatte auf, so daß sie gegen den Regen geschützt war. Blütenhonig war ihre Speise und der Morgentau ihr Trank. So verstrichen Sommer und Herbst; aber nun kam der Winter, der kalte, lange Winter. Alle die Vögelein, die ihr so schön vorgesungen harten, flogen davon; die Bäume verloren die Blätter; die Blumen verwelkten; das große Klettenblatt, unter dem sie gewohnt hatte, schrumpfte zusammen, und es blieb nur ein gelber vertrockneter Stengel übrig. Sie fror entsetzlich. Ihre Kleider waren zerrissen und sie selbst war ja so gar zart und klein – das arme Däumelinchen mußte erfrieren. Es begann zu schneien; und jede Schneeflocke, die auf sie fiel, war für sie eine ebensogroße Masse, als wenn man auf uns eine ganze Schaufel voll wirft. Denn wir sind groß, sie aber war nur so lang wie ein Daumen. Da hüllte sie sich in ein welkes Blatt; aber das erwärmte sie nicht, sie zitterte vor Kälte.

Dicht am Waldessaume, den Däumelinchen jetzt erreicht hatte, lag ein großes Kornfeld. Das Korn war längst eingeheimst; nur die nackten, trockenen Stoppeln ragten aus der gefrorenen Erde hervor. Ihr kamen sie wie ein großer Wald vor, den sie durchwandern mußte; und sie bebte nur so vor Kälte. Da gelangte sie an die Türe der Feldmaus, deren Wohnung aus einer kleinen Höhle unter den Stoppeln bestand. Hier wohnte die Feldmaus warm und behaglich, hatte die ganze Stube voll Korn und eine prächtige Küche und Speisekammer. Das arme Däumelinchen stellte sich wie ein Bettelmädchen vor die Türe und bat um ein kleines Stück Gerstenkorn; denn sie hatte seit zwei Tagen nicht das geringste gegessen.

»Du arme Kleine!« sagte die Feldmaus, die im Grunde genommen eine gute alte Feldmaus war, »komm herein in meine warme Stube und iß mit mir.«

Da sie nun Gefallen an Däumelinchen fand, sagte sie: »Du kannst meinetwegen den Winter über bei mir bleiben. Aber du mußt die Stube hübsch sauber halten und mir Geschichten erzählen; das ist meine größte Freude.«

Däumelinchen tat, was die gute alte Feldmaus verlangte, und so hatte sie es ausgezeichnet bei ihr.

»Nun bekommen wir wohl bald Besuch!« sagte die Feldmaus. »Mein Nachbar pflegt mich jede Woche einmal zu besuchen. Der ist noch viel wohlhabender als ich. Er hat große Säle und trägt einen herrlichen schwarzen Samtpelz. Wenn du den zum Manne bekommen könntest, dann wärest du gut versorgt. Aber er ist blind, und du mußt ihm die allerschönsten Geschichten erzählen, die du weißt.«

Aber daraus machte sich Däumelinchen nichts. Sie wollte den Nachbar gar nicht haben; denn es war ein Maulwurf. Er kam auch richtig in seinem schwarzen Samtpelze daher, um der Maus einen Besuch abzustatten. Er sei sehr reich und sehr gelehrt, sagte die Feldmaus; auch sei seine Wohnung wohl zwanzigmal größer als die ihrige. Er besaß auch in der Tat eine ganz bedeutende Gelehrsamkeit, aber die Sonne und die schönen Blumen konnte er gar nicht leiden. Er wußte nur Schlimmes über sie zu sagen, weil er sie nie gesehen hatte. Nun sollte Däumelinchen singen, und sie sang sowohl: »Maikäfer flieg!« als auch: »Der Mönch geht auf die Wiese!« Ihrer schönen Stimme wegen verliebte sich der Maulwurf sofort in Däumelinchen, sagte aber vorerst noch nichts, denn er war ein gar besonnener Mann.

Vor kurzem hatte er von seinem Hause bis zur Wohnung der Feldmaus einen langen Gang gegraben, und nun gab er seiner Freundin und Däumelinchen die Erlaubnis, so oft sie wollten, darin spazieren zu gehen. Er sagte ihnen nur, sie sollten vor einem toten Vogel, der mitten im Gange liegt, ja nicht erschrecken. Es sei nämlich ein ganzer Vogel mit Federn und Schnabel, der erst kürzlich, zu Anfang des Winters, gestorben sein könne und nun gerade da, wo er seinen Gang angelegt habe, begraben liege.

Der Maulwurf nahm ein Stück faules Holz ins Maul – denn das schimmert im Dunkeln wie Feuer – ging dann voran und leuchtete den beiden in dem langen, finstern Gange. Als sie zu der Stelle gelangten, wo der tote Vogel lag, drückte der Maulwurf mit seiner breiten Nase gegen die Decke und stieß die Erde auf, so daß ein großes Loch entstand, wodurch das Licht hereinschimmerte. Mitten auf dem Boden lag eine tote Schwalbe. Ihre schönen Flügel waren fest an die Seiten gedrückt, die Beine und der Kopf unter die Federn gezogen. Der arme Vogel war gewiß erfroren. Däumelinchen hatte inniges Mitleid mit ihm. Sie liebte all die kleinen Vögel; sie hatten ihr ja den ganzen Sommer hindurch so schön vorgesungen und vorgezwitschert. Aber der Maulwurf stieß ihn mit seinen kurzen Beinen an und sagte: »Nun pfeift er nicht mehr! Es muß doch jämmerlich sein, als solch ein kleiner Vogel geboren zu werden. Gott sei Dank, daß keins meiner Kinder je ein Vogel werden kann! Außer seinem ›Quivit‹ hat er ja gar nichts und muß im Winter elendiglich verhungern!«

Bild: Hans Tegner

»Ja, das könnt ihr als ein vernünftiger Mann wohl sagen!« entgegnete die Feldmaus. »Was hat nun so ein Vogel für all sein ›Quivit‹, wenn der Winter kommt? Er muß hungern und frieren. Doch das soll ja vornehm sein!«

Däumelinchen sagte nichts. Als aber die beiden andern dem Vogel den Rücken wandten, neigte sie sich hinab, schob die Federn, die über seinem Kopfe lagen, zur Seite und küßte ihn auf die geschlossenen Augen. »Vielleicht war er es, der mir im Sommer so schön vorsang«, dachte sie. »Wieviel Freude hat er mir bereitet, der liebe, schöne Vogel!«

Nun stopfte der Maulwurf das Loch an der Decke wieder zu und begleitete dann die Damen nach Hause. Aber in der Nacht konnte Däumelinchen nicht einschlafen. Da erhob sie sich von ihrem Bette und flocht aus Heu einen großen, schönen Teppich. Den trug sie hinunter, breitete ihn über den toten Vogel und legte noch weiche Baumwolle, die sie im Zimmer der Feldmaus fand, dicht neben den Vogel, damit er in der kalten Erde recht warm liegen möchte.

»Lebe wohl, du schöner, lieber Vogel!« sagte sie. »Lebe wohl und habe Dank für deinen herrlichen Gesang im Sommer, als die Bäume grün waren und die liebe Sonne so warm auf uns herabschien!« Darauf legte sie ihr Köpfchen an des Vogels Brust, fuhr aber sogleich erschrocken zurück; denn es war fast, als ob etwas darin klopfte. Das war das Herz des Vogels. Der Vogel war nicht tot; er war von der Kälte nur erstarrt, und jetzt, da er erwärmt worden, kam wieder Leben in ihn.

Im Herbste fliegen alle Schwalben nach den warmen Ländern. Wenn sich aber eine verspätet, friert sie so, daß sie wie tot zur Erde fällt und da liegen bleibt, wo sie gerade hinfällt, um dann vom kalten Schnee bedeckt zu werden.

Däumelinchen bebte am ganzen Körper, so sehr war sie erschrocken; denn der Vogel war ja ihr gegenüber, die kaum einen Daumen lang war, entsetzlich groß. Aber bald faßte sie wieder Mut, legte die Baumwolle noch dichter um die Schwalbe, holte dann ein Krauseminzblatt, das ihr selbst als Decke gedient hatte, und legte es über den Kopf der Schwalbe.

In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zur Schwalbe hinaus, und da war diese lebendig, aber so matt, daß sie nur einen Augenblick ihre Augen öffnen und Däumelinchen anzusehen vermochte, die, weil sie kein anderes Licht hatte, mit einem Stückchen faulen Holzes in der Hand neben ihr stand.

»Innigen Dank, du niedliches, liebes Kind!« sagte die kranke Schwalbe zu ihr. »Ich bin vortrefflich erwärmt! Bald bekomme ich meine Kräfte wieder und kann dann aufs neue draußen im warmen Sonnenschein umherfliegen.«

»Ach!« erwiderte Däumelinchen, »es ist draußen noch bitter kalt; es schneit und friert! Bleibe nur in deinem warmen Bettchen, ich werde dich schon pflegen.«

Darauf brachte sie der Schwalbe Wasser in einem Blumenblatte. Diese labte sich daran und erzählte dann, daß sie sich an einem Dornbusche einen ihrer Flügel verletzt habe und darum nicht so schnell wie die andern Schwalben habe fliegen können, als diese weit fort nach den wärmeren Ländern gezogen seien. Schließlich sei sie auf die Erde gefallen. Aber an das Weitere konnte sie sich nicht mehr erinnern und wußte auch gar nicht, wie sie hierhergekommen war.

Den ganzen Winter blieb die Schwalbe nun da unten, und Däumelinchen nahm sich ihrer aufs beste an und gewann sie herzlich lieb. Weder der Maulwurf noch die Feldmaus erfuhr das geringste davon; denn sie konnten ja die arme Schwalbe nicht leiden.

Sobald der Frühling kam und die Sonne die Erde erwärmte, sagte die Schwalbe Däumelinchen Lebewohl. Diese öffnete nun das Loch, das der Maulwurf oben in der Decke gemacht hatte. Die Sonne schien freundlich herein, und die Schwalbe fragte Däumelinchen, ob sie nicht Lust habe, mitzukommen. Sie könne sich auf ihren Rücken setzen und dann wollten sie weit hinaus in den grünen Wald fliegen. Aber Däumelinchen wußte, daß es die alte Feldmaus betrüben würde, wenn sie auf diese Weise davonginge.

»Nein, ich kann nicht!« sagte Däumelinchen.

»Lebe wohl, lebe wohl, du gutes, liebes Mädchen!« zwitscherte die Schwalbe und flog hinaus in den Sonnenschein. Däumelinchen sah ihr nach, und die Tränen traten ihr in die Augen; denn sie hatte die arme Schwalbe sehr lieb gewonnen.

»Quivit, quivit!« sang der Vogel und flog in den grünen Wald hinein.

Däumelinchen war tief betrübt. Sie durfte nie in den warmen Sonnenschein hinausgehen. Das Korn, das auf dem Acker über der Wohnung der Feldmaus gesät war, wuchs nun auch hoch empor, und für das arme kleine Mädchen, das kaum Daumenlänge hatte, war es ein großer, dichter Wald.

»Während des Sommers sollst du an deiner Aussteuer nähen!« sagte die Feldmaus zu ihr; denn nun hatte der Nachbar, der langweilige Maulwurf, sich um Däumelinchen beworben. »Du sollst sowohl wollene als auch leinene Sachen bekommen. Ich gebe dir alles recht reichlich, da du nun die Frau des Maulwurfs wirst.«

So mußte Däumelinchen die Spindel drehen, und die Feldmaus stellte auch noch vier Spinnen an, die Tag und Nacht spinnen und weben mußten. Jeden Abend kam der Maulwurf zu Besuch und sprach nur immer davon, daß er, sobald der Sommer vergangen und die Sonne nicht mehr so heiß brenne – denn jetzt brenne sie ja die Erde fest wie Stein – ja, wenn der Sommer endlich vorbei sei, dann wolle er Däumelinchen heiraten. Sie aber war gar nicht vergnügt; denn sie hatte den langweiligen Maulwurf keineswegs lieb. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, und jeden Abend, wenn sie unterging, schlich sie sich zur Türe hinaus, und wenn dann der Wind die Kornähren auseinanderwehte und sie den blauen Himmel sehen konnte, dachte sie, wie schön es doch hier draußen sei, und dann wünschte sie so innig, die liebe Schwalbe wiederzusehen. Aber ach, die kam nie wieder. Sie war gewiß weit fort und flog in dem schönen, grünen Wald umher.

Als es nun Herbst wurde, war Däumelinchens Aussteuer fertig.

Bild: Hans Tegner

»In vier Wochen soll die Hochzeit sein!« sagte die Feldmaus zu ihr. Aber Däumelinchen begann zu weinen und sagte, sie wolle den langweiligen Maulwurf gar nicht haben.

»Ach, Schnickschnack!« sagte die Feldmaus, »sei nur nicht widerspenstig, sonst muß ich dich mit meinen weißen Zähnen beißen. Du bekommst einen ganz vortrefflichen Mann. Solch einen schwarzen Samtpelz hat selbst die Königin nicht. Seine Küche und sein Keller sind alle beide wohlbestellt. Du hast allen Grund, Gott zu danken, daß er dich zur Frau will.«

Nun sollte die Hochzeit gefeiert werden. Der Maulwurf war schon gekommen, um Däumelinchen zu holen. Sie sollte nun bei ihm tief drunten in der Erde wohnen und würde nie wieder in den warmen Sonnenschein hinauskommen, weil er ihn nicht leiden konnte. Das arme Kind war tief betrübt. Nun sollte sie also der schönen Sonne Lebewohl sagen, die sie bei der Feldmaus doch wenigstens von der Türe aus hatte sehen dürfen.

»Lebe wohl, du helle Sonne!« sagte sie und streckte die Arme hoch empor. Sie ging auch eine kleine Strecke vom Hause der Feldmaus fort; denn nun war die Ernte vorüber und nur die dürren Stoppeln standen noch auf dem Felde. »Leb wohl, leb wohl!« rief sie wieder und schlang ihre Ärmchen um eine kleine rote Blume. »Grüße die liebe Schwalbe von mir, wenn du sie jemals siehst!«

»Quivit, quivit!« erklang es in diesem Augenblick über ihrem Kopfe. Sie blickte auf; es war die Schwalbe, die gerade vorüberflog.

Sobald die Schwalbe Däumelinchen gewahrte, freute sie sich über die Maßen. Und die Kleine erzählte nun der Schwalbe, wie ungern sie den garstigen Maulwurf zum Manne nehme, und daß sie dann tief drunten in der Erde wohnen solle, wo kein Sonnenstrahl je hineindringe. Dabei konnte sie sich der Tränen nicht erwehren.

»Nun wird es bald wieder Winter«, sagte die Schwalbe, »und da ziehe ich in die warmen Länder fort. Willst du mich begleiten? Du kannst auf meinem Rücken sitzen! Binde dich nur mit deinem Gürtel fest. Dann fliegen wir von dem garstigen Maulwurf und seiner finsteren Behausung fort, weit, weit über die Berge nach den warmen Ländern, wo die Sonne schöner scheint als hier, wo ewiger Sommer herrscht und wo immer prächtige Blumen blühen. Fliege nur mit mir, du süßes kleines Däumelinchen, das mir das Leben rettete, als ich erfroren in der finsteren Erde lag!«

Bild: Hans Tegner

»Ja, ich will mit dir ziehen«, sagte Däumelinchen. Sogleich setzte sie sich auf den Rücken der Schwalbe, stützte ihre Füßchen auf seine ausgebreiteten Flügel, band ihren Gürtel an einer der stärksten Federn fest, und nun erhob sich die Schwalbe hoch in die Lüfte und flog über Wälder und Seen und hoch über die großen Gebirge, wo ewiger Schnee liegt. Däumelinchen fror zwar in der kalten Luft, verbarg sich aber unter den warmen Federn des Vogels und streckte nur das Köpfchen hervor, um all die Herrlichkeiten unter sich betrachten zu können.

Endlich kamen sie in den warmen Ländern an. Dort leuchtete die Sonne viel heller als hier; der Himmel erschien doppelt so hoch, und an Gräben und Hecken wuchsen die prächtigsten grünen und blauen Weintrauben. In den Wäldern hingen Zitronen und Apfelsinen; überall duftete es nach Myrthen und Krauseminze, und auf den Landstraßen sprangen die niedlichsten Kinder und spielten mit großen bunten Schmetterlingen. Aber die Schwalbe flog immer weiter, und es wurde immer schöner. Unter prachtvollen grünen Bäumen an einem blauen See stand ein altes Schloß aus blendend weißem Marmor. Weinreben rankten sich an den hohen Säulen empor, und oben an diesen hingen unzählige Schwalbennester. In einem davon wohnte die Schwalbe, die Däumelinchen trug.

»Hier ist mein Haus!« sagte die Schwalbe. »Wähle du dir aber eine der prächtigen Blumen, die da unten wachsen. Ich werde dich dann hineinsetzen, und du wirst es so gut haben, als du dir nur wünschen kannst.«

»O wie herrlich!« rief sie und klatschte in die Händchen.

Da lag eine große weiße Marmorsäule, die umgestürzt und in drei Stücke zerborsten war, und zwischen diesen wuchsen wunderschöne große weiße Blumen. Dorthin flog die Schwalbe mit Däumelinchen und setzte sie auf eins der breiten Blätter. Aber wer beschreibt ihr Erstaunen: mitten in der Blume saß ein Männlein, das war so weiß und durchsichtig, als ob es von Glas wäre. Auf dem Kopfe hatte es eine niedliche goldene Krone und wunderschöne glänzende Flügel an den Schultern. Es war nicht größer als Däumelinchen. In jeder der Blumen wohnte solch ein kleiner Mann oder eine Frau, das Männlein in der weißen Blume aber war der König über alle.

»Lieber Gott, wie schön er ist!« flüsterte Däumelinchen der Schwalbe zu.

Der kleine Prinz erschrak gewaltig vor der Schwalbe. Denn im Vergleich zu ihm, der so klein und zart war, erschien sie wie ein wahrer Riesenvogel. Als er aber Däumelinchen gewahrte, wurde er gar froh. Sie war ja das allerschönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Deshalb nahm er die goldene Krone von seinem Haupte, setzte sie ihr auf und fragte sie, wie sie heiße und ob sie seine Gemahlin werden wolle. Sie werde alsdann Königin über alle Blumen sein.

Ja, das war fürwahr ein anderer Mann als der Sohn der Kröte oder der Maulwurf mit dem schwarzen Samtpelz! Däumelinchen gab deshalb dem schönen Prinzen das Jawort, und darauf kam aus jeder Blume eine Dame oder ein Herr hervor. Die waren so niedlich, daß es eine wahre Lust war, sie anzusehen. Jedes brachte Däumelinchen ein Geschenk, aber das beste von allen war doch das schöne Flügelpaar einer großen weißen Fliege. Die Flügel wurden Däumlinchen am Rücken befestigt, und nun konnte auch sie von Blume zu Blume fliegen. Nun herrschte überall große Freude, und die Schwalbe saß oben in ihrem Neste und sang ihnen vor, so gut sie es vermochte, obgleich sie im Innern recht betrübt war; denn sie hatte Däumelinchen innig lieb und hätte sich am liebsten nie wieder von ihr getrennt.

Bild: Hans Tegner

»Du sollst fortan nicht mehr Däumelinchen heißen!« sagte der Engel der Blumen zu ihr. »Das ist ein häßlicher Name, und du bist doch so schön! Wir wollen dich Maja nennen.«

»Lebe wohl, lebe wohl!« zwitscherte die Schwalbe, und zog wieder fort aus den warmen Ländern, weit fort bis in unser Vaterland hier im Norden. Da hatte sie ein kleines Nest oben am Fenster, wo der Mann wohnt, der Märchen erzählen kann. Diesem sang sie ihr »Quivit, quivit!« vor, und daher wissen wir die ganze Geschichte.


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