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XII.

»Hep! hep!« ein Spottruf, Hessen man sich in neuerer Zeit bei tumultuarischen Auftritten gegen die Juden bediente – Unerwiesen ist es, daß der Ruf schon bei den Judenverfolgungen des Mittelalters ungewandt worden sei, und die Deutung durch Hierosolyma est perdita, von dessen Anfangsbuchstaben das seltsame Hep allerdings gebildet wird, ist eine völlig verunglückte. Wahrscheinlich ist Hep das landschaftliche Wort für eine Ziege und soll auf eine spöttische Weise den bärtigen Juden bezeichnen. Sonderbar bleibt es, daß sich dieser Ruf selbst über die Grenzen unseres Vaterlandes verbreitete, z.B. nach Kopenhagen.

Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste von Ersch und Gruber.

Am Abend des 4. Septembers 1819 rollte Naomi nach Kopenhagen hinein. Welches Leben, welche Bewegung in den Straßen, doppelt auffallend, wenn man von der Provinz kommt. So lebendig wie es jetzt war, schien es ihr während der früheren Besuche niemals gewesen zu sein. Alle Menschen waren in großer Bewegung, wie das Blut eines Fieberkranken. Einzelne Volkshaufen drängten sich in den Seitengassen zusammen, Soldaten jagten vorbei: es waren die Staffetten, welche Depeschen nach dem königlichen Sommerschloß brachten. Das Ganze deutete auf etwas Ungewöhnliches.

Naomi ließ die Wagenfenster herab und sah hinaus. Die Oesterstraße, durch welche sie fahren sollten, war von Menschen vollständig gesperrt. Wildes Schreien ertönte, Scheiben klirrten, es fielen Schüsse. Der Kutscher mußte in eine Seitenstraße einbiegen. Ein paar ältere Damen aus Fühnen, welche mit Naomi reisten, waren athemlos vor Schreck.

Was ist das?« rief Naomi aus dem Wagen, Das Licht beleuchtete ihr Gesicht ganz. Ein Kerl aus den unten Classen stierte sie an.

Sie gehört auch zu Moses Familie,« rief er. »Das ist gewiß ein ganzes Judennest. das da davonfährt.«

»Hep hep!« schrie eine wilde Schaar, welche hinzuströmte; der Kerl riß die Wagenthüre auf und sah hinein; Naomi stieß die entgegengesetzte Thüre auf und sprang in ihrer ersten augenblicklichen Verwirrung auf die Straße; der Kutscher dagegen knallte mit der Peitsche und fuhr zu. Ein paar Husaren drangen mit gezogenen Säbeln auf die Menge ein in deren Mitte Naomi stand. Rasch gewann sie ihre Fassung wieder, hielt ihren Schrei zurück und ließ den Schleier fallen, da sie bis jetzt noch nicht mehr wußte, als daß hier ein Volksauflauf sei.

»Um Gottes willen, kommen Sie!« flüsterte eine Stimme dicht neben ihr. Ein Mann ergriff ihre Hand, zog sie aus dem Getümmel und in den nächsten Flur hinein.

»Hier ist seichtes Wasser.« sagte er. »nun setzen wir über den Hof und dann ist das Fräulein wie in ihrer Mutter Kommodeschublade aufgehoben.«

»Wem gilt dieser Volksauflauf?« fragte Naomi

»Ihrem Volke, das sie über Bord werfen wollen!« anwortete der Mann und nannte einen Namen, zu deren Familie sie nach seiner Meinung gehörte und mit der er einigermaßen befreundet war. Durch den Hof konnte er sie nach der Wohnung derselben bringen.

»Ich bin keine Jüdin!« sagte Naomi.

»Dann lügt wahrhaftig Ihre Flagge!« antwortete der Mann. »Ich sah sie ja auch aus dem Wagen springen. Mein Name ist Peter Wik und mein Schiff liegt in Neuhafen. Sie können sich mir ruhig anvertrauen.«

Naomi lächelte. »Wir sind mal früher zusammen über das Eis von Schweden herüber gereist!« sagte sie.

»Ganz richtig Da waren keine Balken drunter!« Nun waren sie alte gute Bekannte.

Sie nannte ihm den Ort, wo man sie erwartete und sie gingen durch eines von den kleineren Seitengäßchen.

»Das ist eine gute Zeit für die Glaser!« sagte Peter Wik. »Es gehen mehr Scheiben als blos die der Juden entzwei. Ja, die haben's gut, die auf dem Dache wohnen, da hab' ich auch mein Weibsvolk. Ja, ich habe zwei bei mir, die die Stadt sehen sollen, da ich nur ein paar Tage hier liege. Der Junge ist auch hier; ja, nun ist er aufgeschossen und kann die Geige besser kneifen! Da droben sitzen sie!« Und er zeigte auf eines der Seitengebäude.

»Haben die Unruhen heute Abend begonnen?« fragte Naomi.

»Ja freilich, aber sie legen sich nicht so geschwind. In Hamburg haben sie mit dem Commers angefangen und das ist wie ein Lauffeuer hierher gekommen. Nun heißt es, auf der Rhede lägen zwei Schiffe mit Judenfamilien, welche sich hier niederlassen wollen. Es ist zwar eine Lüge, aber das Voll glaubt es doch!«

Während er noch sprach, strömte ein Haufe von Menschen aus der nahen Hauptstraße in die, in welcher sie sich befanden, und sperrte ihnen den Weg; es fielen einzelne Schüsse. Peter Wik stand einen Augenblick rathlos da. Da hörte er, wie ein Troß Buben gerade auf sie zulief. Dicht bei ihnen klirrten Fensterscheiben.

»Ich glaube, daß wir von der Dachtraufe in den Regen gekommen sind!« sagte er.

»Aber wir müssen durch!« meinte Naomi.

»Ja, wenn wir nur nicht einen Stein in den Nacken bekommen!« sagte Peter Wik. »Ich fürchte, es kommen nicht alle Steine von der Gasse. Es kann gar leicht einer von des Nachbars Dache fallen. Diese Landstürme sind schlimmer als die zur See. Ich meine, es wäre das Beste, das Fräulein nähme mit meiner Frauenzimmer-Gesellschaft vorlieb, während ich einen Wagen herbeischaffe.«

Das Gedränge vorn und hinten nahm immer mehr zu, indem die kleinen Straßen, welche mit der Hauptstraße in Verbindung standen, wie Canäle die überströmende Menge hierher ableiteten.

»Wenn das Fräulein mich am Rockschoß halten will,« sagte Peter Wik, »so werde ich Laterne sein!« und sie stiegen eine dunkle schmale Treppe hinauf. Er pochte an eine Thür und eine weibliche Stimme fragte ängstlich, wer da sei. »Ich, dumme Gans!« sagte Peter Wik und sie traten in das kleine Zimmer.

Lucie stand mit dem Lichte in der Hand da, während ihre Mutter, halb bäuerisch gekleidet, mit der Wirthin und Christian bei dem dürftigen Abendbrode saßen.

»Wische einen Stuhl ab für das Fräulein!« sagte Peter Wik, »ich werde inzwischen den Wagen holen!« Damit verließ er in Eile die kleine Gesellschaft, in der die gegenseitige Verwunderung auf allen Seiten gleich groß war. Alle drei waren indessen aufgestanden, hatten jedoch noch kein Wort gesagt.

Naomi bat wegen der Störung, die sie verursache, um Entschuldigung und erzählte ihr Abenteuer. Erst dann wurden die Andern etwas mittheilsamer.

Alle waren in Angst, namentlich Lucie, die mit ihrer Mutter zum ersten Male nach Kopenhagen gekommen war, um doch auch einmal die prächtige Stadt zu sehen. Die Wittwe, bei der sie wohnten, war eine alte Freundin der Mutter; die Beiden hatten in ihren jungen Jahren zusammen gedient. Peter Wik hatte sie und Christian mitgenommen, da sein Aufenthalt nur acht bis vierzehn Tage dauern würde; die Hälfte der Zeit war bereits um.

Wie Paris in den Julitagen dem ruhigen Nordländer vorkam, so erschien Kopenhagen diesen stillen Provinzbewohnern. Aber welche Pracht, welchen Reichthum hatten sie hier nicht gesehen! Das gab Stoff zum Gespräch für ein ganzes Leben. Die königlichen Ställe mit Marmorpfeilern und gewölbter Decke übertrafen jede Dorfkirche, die sie kannten. Die Börse mit all' ihren Läden, welche zwei Straßen bildeten, war ja wie eine kleine Stadt unter Dach. Sie hatten die königliche Familie mit Musik durch die Canäle im Garten von Friedrichsberg fahren sehen; sie waren an Bord eines Linienschiffes gewesen, das so groß und weitläufig war, daß man sich wirklich eine Vorstellung von der Arche Noah machen konnte, welche alle Thiere der Erde in sich faßte.

All' dies wurde Naomi in einer Art von Sprachduett zwischen Mutter und Tochter mitgetheilt, aber die Mutter hatte die erste Stimme, die nur durch einzelne Schreier auf der Straße oder durch den Hufschlag der Pferde unterbrochen wurde, wenn die Patrouillen vorbeiritten; dann bekreuzte sie sich und sagte aufathmend ein »Herr Jesus!« Lucie konnte Naomi nicht genug betrachten; Christian hatte ihr so viel von derselben erzählt.

Beinahe eine Stunde war verflossen, aber Peter Wik kehrte nicht zurück. Es war gewiß schwer, einen Wagen zu bekommen. Draußen schien Alles wieder ruhig geworden zu sein. Man wartete vergeblich. Bei jedem Wagen, der sich hören ließ, glaubte man, es sei der bestellte, aber sie rollten alle vorbei. Vergeblich begann man ein neues Gespräch, es wollte nicht recht in Gang kommen; unruhig sahen sie nach der Thüre, aber Peter Wik kam nicht. Naomi kam es nach und nach unheimlich bei den fremden Menschen in der kleinen, engen Stube vor.

Der Nachtwächter rief elf Uhr an; noch saßen sie in ihrer Einsamkeit.

»O Gott!« seufzte Lucie, »wenn sie ihn erschossen haben! Wie leicht können sie nicht fehlschießen.«

»Es ist ja nur blind geladen!« sagte Naomi. »Uebrigens fürchte ich mich nicht mehr zu gehen, wenn nur Christian mich begleitet!«

»Nein, nein!« sagten die Andern. »Das geht nicht. Laßt uns doch warten.«

Die Wirthin brachte ein Spiel Karten, um sich die Zeit zu vertreiben.

»Aber wenn Christian hinabginge und nach ihm sähe?« sagte Naomi. Er war dazu bereit und versprach baldigst zurück zu kommen.

»Um Gottes willen, nimm dich in Acht!« rief Lucie. »O, ich habe so bange um ihn.«

»Es ist ja ein erwachsener Mensch!« sagte Naomi; »wenn ich ihn recht kenne, so geht er ja auch nicht weiter als bis zur Hausthüre!« Es war indeß nicht der Fall.

Die Frauen waren nun allein.

»Wie der Nachtwächter tutet!« seufzte Lucie. »O, wie es doch unheimlich in einer so großen Stadt ist, wenn man so hoch droben wohnt! Eine Familie über der andern! Ich wollte, wir wären wieder zu Hause in unserm ruhigen Heim!«

»Aber da langweilt man sich!« sagte Naomi.

»O nein!« antwortete Lucie. »Im Sommer ist man ja immer draußen bei gutem Wetter, und im Winter da hat man so viel zu schaffen. Ich sehne mich recht wieder darnach, nur des Nachbars Giebel zu sehen und seine schiefen Fenster, die jahraus jahrein die Aussicht von meiner Stube sind. Ja, ich sehne mich ordentlich darnach, denn da habe ich nicht die Herzensangst wie hier. Anfangs machte es mir Spaß, all' das Neue und Prächtige zu sehen, aber selbst während ich es sah, hatte ich doch ein ängstliches Gefühl zwischen all' diesen vielen Menschen. Nicht Einer von ihnen kennt mich. Ich bin ihnen allen gleichgiltig. Das ist ein wunderlicher Gedanke!«

Christian war inzwischen auf die Straße gekommen. Alles war im Augenblick still. Thür und Thor waren nach Befehl geschlossen; aber durch die Fenster sah man überall Licht und zeigte, daß man noch nicht zu Bette war. Jedes Haus schien ein stummer Schlafgänger, in dessen Innerem Leben und Gedanken sich regten. Nur auf dem Tanzboden war es dunkel; kein Strahl fiel durch die ausgeschnittenen Heizen in den Fensterladen. Christan dachte an Steffen-Karreet. Nun lag die kalte Erbe längst auf ihrem Sarge. Von Peter Wik sah er nichts und bei dem Kutscher war geschlossen. Niemand öffnete die Thür, als er klopfte. Es war also nur ein trauriger Bescheid, den er den Wartenden bringen konnte.

Naomi faßte ihre Mission von der romantischen Seite auf, und das war die einzige, von der sie etwas Anziehendes hatte. Lucie war nahe daran zu weinen.

»Kommt der Oheim nicht vor Zwölf nach Hause,« sagte sie, »dann Gnade Gott, dann ist ein Unglück geschehen!«

»Unser Herr ist gut und gnädig!« sagte Luciens Mutter und legte die Karten, um zu sehen, was sie sagten.

»O Mutter!« rief Lucie, »lege die Karten weg. Es liegt, wie mir vorkommt, etwas Gotteslästerliches darin, an einem solchen Abend mit Karten in der Hand da zu sitzen.«

Die Uhr schlug dreiviertel auf zwölf, sie zählten jeden Schlag. Wie Columbus' Mannschaft hatten sie eine bestimmte Zeit festgesetzt, wo jede Hoffnung aufhören mußte; jene letzten Tage, diese eine Stunde fest, und diese war zwölf Uhr.

Der ehrliche Peter Wik hatte auch die Viertel gezählt, aber zwei Stunden früher als sie; nun war er resignirt; übrigens befand er sich in großer Gesellschaft, auf welche man in keiner Hinsicht Goethe's Worte anwenden konnte:

»Gute Gesellschaft hab' ich gesehn, man nennt sie die gute,
Weil sie zum kleinsten Gedicht nicht die Gelegenheit gibt.

Nein, gut konnte sie in keiner Weise genannt werden, aber sie war sehr brauchbar für die Poesie, namentlich die romantische, und bestand aus einer Art von gemischten Charakteren, eine kleine Gesellschaft, wie sie die Polizei in einer unruhigen Nacht zu sammeln pflegt. Sie befanden sich alle in einem großen, geräumigen Saal, der bei Tag zum Verhör benutzt wurde. Durch ein Glasfenster über der Thüre drang Licht hinein. Alle, welche an diesem Abend als Störer der öffentlichen Ruhe ergriffen worden waren lagen oder saßen hier in verschiedenen Gruppen.

»Das Gesetz muß seinen Gang haben!« sagte Peter Wik; »es war ein kleiner Fehlgriff, daß ich hier heraufkam aber was soll man sagen. Morgen wird es sich schon finden.« Er dachte an die zu Hause und an Naomi, welche auf den Wagen wartete. »Ja, sie kann lange warten!« Hatte er es nicht deutlich genug den Husaren gesagt, als sie ihn im Gedränge mitnahmen. Sie waren gar so rasch bei der Hand. Nichts wollten sie hören! auch der Polizeiwachtmeister nicht. Hinein in die Krapüle muß man und dann die Eisenstange vor die Thüre. Es blieb nichts übrig, als zu schlafen. Morgen wollte er die Sache schon ins Reine bringen.

Als es zwölf schlug, schlief er schon den Schlaf des Gerechten; zu Hause aber war man fest überzeugt, daß ihm ein Unglück begegnet. Was sollte man thun! Naomi war resignirt, sie lehnte den Kopf an den Rücken ihres Lehnstuhls und, müde von der Reise, schlief sie bald ein. Erst als sie schlief, ließ Lucie ihren Thränen freien Lauf, bis auch ihr Kopf herabsank; aber sie träumte nicht wie Naomi von einzelnen sonnenhellen Tagen in Fühnen, von Hünengräbern und Luft durchsegelnden Wolken, sie träumte von der unruhigen See, über die sie gesegelt war und von der unruhigen Stadt, in der sie sich befand; deshalb holte sie so tief Athem und ihre Brust hob sich wie die einer Kranken. Das stille, sanfte Mädchen war im Schlaf ein Bild der Leidenschaft, während die wilde Naomi ein stilles anmuthiges Geschöpf schien, bei dem Alles Frieden und Ruhe athmete. Christian betrachtete Beide. Die unruhigen Träume, die mit galvanischer Kraft auf Lucie wirkten, riefen bei ihm die Erinnerung an jene Nacht bei der Quelle wach, und es war ihm, als ob sie in ihrem Schlaf in jenen Seelenzustand zurückgewiegt würde. Es war ihm ängstlich, das mit anzusehen.

Unwillkürlich stellte er sich dicht neben Naomi und stierte sie an, bis sein Blut zu Feuer wurde; er fühlte einen Drang, einen wilden Instinct, seine Lippen auf die ihrigen zu drücken. In der Betrachtung des Mädchens sog er das starke Gift der Liebe ein. Sie lag unbeweglich da; das schöne Medusenhaupt versteinerte ihn nicht, sondern schmolz seine Brust, während Lucie ihm nur Schrecken und Angst einflößte.

Das Licht brannte im Leuchter herab, er merkte es nicht, bis es noch einmal beim Erlöschen emporflackerte.


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