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V.

Und ist es nicht hübsch, so ist es doch wahr.

Wessel.

Wir wollen uns nun nach Fühnens alter Hauptstadt Odense begeben. Sie hatte damals noch einen eigenthümlichern Charakter als heutzutage. Man sah zu jener Zeit mehrere alte Herrenhäuser mit dicken Mauern, Basreliefs über den Fenstern, solide Treppen mit Geländer von Granit und ein schweres Kupferdach darüber, das fest in der Mauer saß. An einem Hause sah man die zwölf Apostel in Holz geschnitzt; an einem andern charakteristische Köpfe, welche an jedem vorstehenden Balken die Zunge heraus reckten; adelige Wappen schmückten die Mauern. Freilich mangelte der Stadt eine Eigenthümlichkeit, die sie jetzt bietet und die gewiß ganz eigen ist, nämlich die Art, wie sie die Gräber ihrer Verstorbenen schmückt. Tritt man auf den St. Kanuts-Kirchhof, so kann man das Wort des Dichters nicht anwenden: »Leicht wogt das Gras über unsern Gräbern!« Alle Gräber sind hier gepflastert, ganz wie man eine Straße pflastert. Die Ueberlebenden, welche ihre Todten besonders ehren wollen, sorgen dafür, daß die Pflasterung recht dauerbar ist und jeder Grashalm sorgfältig ausgereutet wird. Wie gesagt, diese Eigenthümlichkeit fehlte in jenem Jahre 1816, als wir Odense um Christians willen besuchten; aber manches Haus hatte sein alterthümliches Aussehen noch ziemlich unverändert erhalten; die Erker ragten noch ganz romantisch mit ihren spießbürgerlichen Madamen in die Straße, und die Zünfte zogen noch mit dem Harlekin voran in ihr neues Gildehaus. Jeden Ostermorgen ging der gemeine Mann auf den Nonnenfels, um die Sonne spielen zu sehen, weil Christus auferstanden! Freilich war beinahe immer eine Wolke davor, so daß man das Spielen nicht sehen konnte, aber Jedes glaubte doch, sie habe hinter den Wolken gespielt.

Eine der unansehnlichsten Kirchen Odense's ist die St. Johanniskirche und doch läßt das Volk die Sybille, welche den König Salomo besucht, prophezeien, daß sie einmal, wenn sie ganz voll von Menschen sei, sinken werde. Eine Galerie verbindet sie mit dem Schloß, dessen Gärten an den Kirchhof stoßen. An diesem liegen einige Wohnhäuser, von denen eines Herr Knepus inne hatte.

Ein rothbrauner Anzug, bestehend aus Kniehosen, Weste und Rock, an denen eine Reihe großer Metallknöpfe prangten, war seine gewöhnliche Kleidung. Eine Perrücke mit Zopf, ein kleiner dreieckiger Hut und ein großer Stock mit einem prächtigen Bernsteinknopf bildeten die Embleme. Zu jener Zeit besaß Odense noch ein paar solcher wunderlicher Gestalten aus einem vergangenen Jahrhundert. Herr Knepus gestattete nicht, daß man die Kleider ausklopfte und bürstete; sie würden ohnehin genug abgenutzt, sagte er. Bei der ersten Begegnung mit ihm bekam man sogleich einen Begriff von seinen Anschauungen.

Es war gegen Ende April, als Christian mit seinem kleinen Bündel unter dem Arm und mit einem Empfehlungsbrief von Peter Wik hier auf der Steintreppe stand und mit dem Eisenklöppel an die Thüre pochte, welche immer geschlossen gehalten wurde.

Eine schmächtige Frau mit flatternden, aber etwas schmutzigen Haubenbändern schloß auf; es war Madame Knepus.

»Sie sind wol Peter Wik's Pflegesohn?« rief sie, drückte ihm die Hand und führte ihn mit einem Strom von Beredtsamkeit durch den Flur, den der Besen zwar berührt, aber nicht ganz gesäubert hatte; doch war frischer Sand gestreut. Zwei alte Epitaphien, welche bei dem Abbruch der Kirche der Grauen Brüder gekauft worden und einige Leichensteine schmückten die nackte Mauer; man wußte nicht recht, kam man in eine Capelle oder in ein Wohnhaus.

»Wir führen ein stilles Leben!« sagte sie, »das Schützengildenfest und Königs Geburtstag sind die beiden einzigen Feste, an denen Knepus Theil nimmt; er hat seine eigene Unterhaltung, wie Sie sehen werden!«

Nun kam der Mann selbst; er hatte eine schmutziggelbe Zipfelmütze auf dem völlig kahlen spitzen Kopfe und einen etwas engen Rock mit Kragen, der den Dienst eines Schlafrocks versah und mit einem Ledergürtel um den Leib festgehalten wurde; nur ein Paar Unterbeinkleider bedeckten seine dünnen Beine.

Das Ehepaar sagte Sie zu einander.

Madame Knepus hatte für Christian das Dachzimmer nach dem Schloßgarten hinaus eingerichtet. Es war freilich die Bibliothek und Vorrathskammer des Hauses, aber man mußte sich behelfen, wie man konnte, denn ihn in dem Zimmer neben dem ihrigen schlafen zu lassen, fand sie, ginge nicht an, da er ein junger Mann war, welcher wachsen konnte und man dürfe dem Gerede der Leute keinen Anlaß geben. Also mußte er in den einen Giebel hinauf; Herr Knepus schlief in dem andern.

Schon um acht Uhr ging er im Winter, und dazu rechnete man diese Tage noch, zu Bette, um, wie es hieß, früh aufzustehen. Frau und Mädchen mußten sich eine Viertelstunde später einfinden. Christian that schon diesen Abend desgleichen und wurde so in das originelle Treiben eingeweiht.

Die Wände ringsumher waren mit Caricaturen beklebt und mit allerlei Instrumenten behängt; auf ein paar Borden lag Kinderspielzeug, aber der, für den es bestimmt war, das Kind, Herr Knepus selbst, lag zu Bette; vor diesem stand ein Tisch mit einem Kohlenbecken, auf dem eine Bowle dampfte. So oft er aus seinem Glas« trank, sah er in einen Guckkasten; das Mädchen mußte Acht haben, daß die Bilder wechselten, wenn er nickte; Madame Knepus las laut aus einem deutschen Classiker vor. Das nannte Herr Knepus seine »kindischen Stunden« und diese hatte er jeden Abend. Erst wenn er müde den Kopf in die Kissen zurücklegte, und Madame wahrend des Lesens leine Antwort auf ihr: »Schläfst du, mein Lämmchen?« erhielt, schlich sie und das Mädchen hinaus und man war sein eigner Herr.

Herr Knepus lag, wie gesagt, im Bette und da sie nun heute Abend ihrer so viele waren, schlug er vor, daß sie ein Pfänderspiel machen wollten, er im Bett und die Drei auf dem Boden, und das war sehr lustig. Christian wurde verurtheilt, Madame unter einem großen Teppich zu küssen, den Herr Knepus über sie warf. Christian schloß die Augen und ergab sich in sein Schicksal. Dann bekam er sein Glas Punsch und ging zuletzt in der heitersten Stimmung nach seinem kleinen Schlafzimmer. Es war eine niedere Kammer unter dem schrägen Dach, das recht gut mit Holz verschalt war; es erinnerte ihn lebhaft an Peter Wik's Kajüte. Den größten Raum darin nahm ein großes Regal mit Büchern ein, unter denen sich Wielands Werke und Schulz' Handbuch der Physik befanden; die übrigen handelten nur von Musik. Ein altes Epitaphium mit all' seinen ausgemeiselten Heiligen, das in einem Begräbniß im Kloster der Grauen Brüder geprangt hatte, aber beim Abbruch gekauft worden, stand als eine Art Schirmwand am Ende des ziemlich kurzen Bettes, das aus einem Mehltroge und einem Lehnstuhle zusammengesetzt zu sein schien. Hinter dem Epitaphium hing ein geräucherter Lachs und einige Bunde gezogener Lichter, dicht dabei stand ein Faß mit Butter. Zwei Stühle und ein Tisch bildeten das übrige Ameublement.

»Nun habe ich Ihnen Alles recht hübsch hergerichtet! sagte Madame Knepus. »In der Tischlade können Sie Ihre reine Wäsche haben und hier unter dem Bette ist ein Tornister für die schmutzige. Denn Ordnung ist ein gutes Ding. Herr Knepus geht jedesmal an den Brunnen hinab, wenn er sich waschen will, aber ein junger Mensch soll es haben, wie es Sitt' und Brauch ist. Hier ist eine Bierflasche mit Wasser, die können Sie sich zum Fenster hinaus über die Hände gießen. Später werden wir wol auch ein Wasserbecken anschaffen. Unsere Spiegel sind zu groß für das Zimmer, deshalb müssen Sie sich mit dieser Schachtel behelfen; da sitzt ein Glas im Deckel. Punkt sechs bekommen Sie Kaffee ins Bett, früher brauchen Sie nicht aufzustehen!«

Christian war nun allein in seiner neuen Heimat und fühlte sich so froh und behaglich; nun war er auf dem geraden Wege zu seinem Glücke. Er öffnete das Fenster und sah in dem klaren Mondschein über den kleinen Hof in den Schloßgarten. Unter dem dicken alten Baume lag ein grüner Platz mit einem großen Teiche, auf dem zwei Schwäne schwammen; anmuthig legten sie ihre langen weißen Hälse zurück über den Rücken. Alles war so unendlich still, der Mond schien auf das Wasser, wo die Schwäne schwammen. Er sah nach ihnen hinüber, er erinnerte sich alles Dessen, was er erlebt hatte und die Welt erschien wieder wie ein Märchen; die Schwäne auf dem Wasser in der Einsamkeit waren Feen, welche sein Glück und seine Dankbarkeit kannten.

Vom nächsten Morgen an wurde Christians Zeit aus das Allerweiseste eingeteilt; außer dem Hause genoß er mit andern Knaben den allgemeinen Schulunterricht und zu Hause mußte er in Türks Generalbaßschule studiren. Ordnung muß in Allem sein, meinte Herr Knepus, und Ordnung war nach seiner Anschauung die Seele des ganzen Hauses. Nur zu bestimmten Zeiten kam er zu seiner theuren Ehehälfte hinein und da spann, strickte oder nähte sie; das heißt, sie spann, strickte oder nähte nur in den Minuten, in denen er zugegen war und sobald er die Stube verließ, ruhte auch das Nähzeug und hielt der Rocken inne; eine arme Frau spann das Garn, das später Madame als Beweis ihres Hausfleißes zeigte; warum sollte sie auch, wie sie sagte, der armen Frau nicht die paar Schillinge gönnen. Sie las inzwischen Romane aus Limkildes und Hempels Leihbibliothek und folgte der Literatur so gut es sich in einer Provinzialstadt thun ließ.

Christian war in voller Thätigkeit und zu dieser gehörte, dem Herrn Knepus zum Fischen zu folgen und in aller Stille der Madame Stroh vor die Thüre legen zu helfen; sah sie später, daß das Stroh anders lag, so wußte sie, daß das Mädchen ihrem Vergnügen nachgegangen war. Auf seine Kammer hatte er ein altes Clavier bekommen, auf dessen innerem Deckel man Hirten und Hirtinnen zu Flöte und Schalmeien tanzen sah. Ach wie gerne hätte er nicht selbst nur mit einer Hand eine rasche, jubelnde Melodie gespielt, aber die Choralnoten zeigten ihre großen Köpfe und sagten wie Herr Knepus: »Immer langsam! immer langsam!« Bach und Händels Namen, die er früher nie gehört, klangen nun beständig wie musikalische Heilige vor seinen Ohren. O, wie Vieles war zu hören, war zu lernen.

Im Juni fand ein Fest statt, an welchem Herr Knepus Theil nahm, aber kurz zuvor bereitete der Zufall eines, das wir nicht übergehen dürfen, da es außer der Regel lag, ja außer aller Regel war; es war eine Art Reinigungsfest, das im Hause, ja in der ganzen Nachbarschaft Epoche machte. Es wurde nach mehrjähriger Anspielung darauf endlich mal in Herrn Knepus' Zimmer rein gemacht und die Ausbeute war so groß, daß sie mehrere Fässer füllte, was bei der Herrschaft selbst großes Gelächter hervorrief, ja Madame lud zwei Nachbarsfrauen ein, um sich den Schmutz zu besehen, und bei dieser Gelegenheit erhielten sie Kaffee.

Aber wir wollten von dem größern Feste, dem der Schützengilde sprechen; es hatte noch zu unserer Zeit in Odense all' seine Eigenthümlichkeit. In früher Morgenstunde marschiren die ehrbaren Bürger unter türkischer Musik aus der Stadt. Es sind Ehrenpforten errichtet, die sogenannte Westerport ist bekränzt und mit Inschriften geschmückt. Alle Schulen und Werkstätten feiern und gegen Abend, wenn der Einzug stattfindet, sind alle Fenster in der Hauptstadt mit Zuschauern angefüllt.

Gerade an diesem Festtage kam Peter Wik nach der Stadt, um Herrn Knepus und Frau zu besuchen oder eigentlich um zu sehen, wie es Christian ging.

»Ich habe von Stettin,« sagte er, »einen kleinen Anker Bier, um inwendig damit zu vergolden, mitgebracht und einiges Zuckerwerk in der Bütte für Madame! Es ist wol zwölf Jahre her, seit ich zuletzt hier war, und noch nicht mal ein kleiner Knepus im Hause! Nun, er wird schon kommen, dann soll's heißen: Vivat die Mutter!«

Madame lachte laut.

»Knepus ist heute bei dem Schützenfest!« sagte sie, »Sie müssen mit mir hinaus!«

»Da gibt es wol mehr Löcher in der Flasche, als in der Scheibe!« sagte Peter Wik. »Wo steht man am sichersten draußen? Ich denke bei der Scheibe, weiter weg bekommt man alle Kugeln in die Weichen! Aber sagen Sie mir mal etwas von dem Jungen. Er führt sich wol gut auf?«

»O, er ist so gut und dabei so recht unschuldig noch. Das fehlt sich nicht.«

»Fehlte er, so wollte ich ihm eines aufs Fell geben,« sagte Peter Wik.

»Jetzt ist er auf dem Schützenfest. Sie werden sehen, wie hübsch ihm die grüne Schleife an der Mütze steht. Er ist der von den Jungen, muß ich Ihnen sagen, der den Königsgewinnst, den Silberpokal, im Zuge trägt. Es war ein großer Streit, denn ein Sohn des Kronprinzen, das heißt ein Sohn von dem, der den nächsten Schuß nach dem Königsschuß that, suchte auch darum an, den Pokal tragen zu dürfen, aber Knepus hat gesiegt, sein Eleve trägt ihn.«

Im selben Augenblick kam das Mädchen athemlos hereingestürzt; der Waschfrau kleiner Junge war dagewesen, um zu sagen, daß seine Mutter von dem Wächter gehört, der draußen bei der Leine Wache habe, daß Herr Knepus dicht neben das Schwarze geschossen, und daß Niemand als der Büchsenmacher besser schießen könne und der Büchsenmacher weiter vom Schwarzen geschossen, Herr Knepus würde also König werden.

»O nein,« sagte Madame innerlich froh, »er soll nur Kronprinz werden, es kostet so viel, wenn man König wird, da muß man tractiren! Der Kronprinz bekommt einen Vorlegelöffel und das möchten wir haben.«

»Da müssen wir hinaus!« sagte Peter Wik. »Ich führe die Königin!« Er nahm Madame unter den Arm. »Wir gehen langsam. Mein Fußwerk ist gerade für Festzüge eingerichtet.«

Gegen Abend sah man alle Fenster mit Menschen angefüllt. Das Schießen war vorbei und die durchschossene Scheibe im Aufstreich versteigert und dann nach alter Sitte den Straßenjungen der Stadt überlassen, sie nach Hause zu tragen. Sechs der größten und stärksten nahmen, nachdem sie ihren Schnaps getrunken, die Scheibe auf die Schulter, zwei muthige Kameraden sprangen oben auf, plünderten die Ehrenpforten und geschmückt mit Guirlanden und Inschriften trug man sie im Triumph davon. Der ganze übrige Bubentroß folgte jubelnd nach mit den grünen Zweigen in den Händen; zuletzt stellten sie sich in doppelter Reihe auf, um die ehrbare Bürgerschaft zu empfangen. Diese näherte sich mit voller Musik.

Der Scheibenkönig und die Beiden, welche nach ihm am besten geschossen hatten, der Kronprinz und der Erbprinz mit großen, mit Silberplatten besetzten Bändern über die Schulter, gingen voran. Die Knaben trugen die Gewinnste voran. Christian hielt den Pokal stolz vor Herrn Knepus in die Höhe.

»Das ist mein Mann!« mehr konnte Madam Knepus nicht sagen.

»Ja, nun hat er den Pokal!« sagte Peter Wik, »nun darf er die Andern freihalten.«

Christian sah vergnügt nach allen Fenstern und über die wogende Menge hin.

Auf den Steintreppen standen die Leute fest zusammengedrängt wie Hopfenköpfe und alle Gesichter strahlten vor Freude. An einer Ecke war das Gedränge sehr groß und mitten aus demselben ragte ein Mann hervor mit blassem, kränklichem Gesicht: er starrte Christian fest an und nickte ihm bekannt zu.

»Herr Jesus!« seufzte der Knabe und schlug die Augen zu Boden. Es war ja sein Vater, den er sah, sein Vater, der im Kriege gefallen war. Noch einmal sah Christian hin. Ja, hoch oben auf der Ecktreppe, über die Andern hervorragend, stand sein Vater, den man als todt beweint hatte. Die Hände des Knaben zitterten, beinahe wäre ihm der Pokal aus den Händen gefallen. Der Jubel ringsumher klang ihm nun abscheulich.

Der Zug ging nach dem Club, wo das Fest mit einem Schmaus geschlossen werden sollte, der drei Tage dauerte. Da wurde dann Toast auf Toast getrunken und die Trompeten bliesen aus den offnen Fenstern, während Einer aus dem Volke, als Harlekin verkleidet, mit geschwärztem Gesichte und die Pritsche in der Hand alles that, um die Lustigkeit zu unterhalten.

Sobald der Zug den Club betreten, durchzogen die Buben mit der Scheibe, auf der noch die lustigen Dioskuren standen, die Gassen bis zu des Schützenkönigs Thüre, wo Madame sich vor ihnen verneigte; dann gingen sie zum Bürgermeister und zum Stadthauptmann, gefolgt von dem ganzen Schwarme, welcher die grünen Zweige schwang. Es war der wandernde Wald, wie Macbeth ihn sah.

Während all' der Lustbarkeit befand sich Christian in des Festes Mittelpunkt, dem Clubsaale. Hundert Gleichalterige würden ihn um dies Glück beneidet haben; er stand unempfindlich für die Freude da: das blasse, lächelnde Gesicht, das er in dem Gewimmel gesehen, versteinerte ihn wie ein Medusenhaupt.

»Es war mein Vater, den ich gesehen! Und doch ist er ja todt und meine Mutter wieder verheirathet. Aber es war keine zufällige Ähnlichkeit. Nein, er war es! Er sah mich an, winkte mir zu. O, das ist schrecklich!«

Es war elf Uhr, als er heimkam in sein kleines, einsames Zimmer Mit ungewöhnlicher Angst sah er in jede dunkle Ecke. Das alte Epitaphium, das am Ende des Bettes als Schirmbret diente, hatte ihm zum ersten Male etwas Unheimliches. Der abgemalte Geistliche mit seinen drei Frauen und Kindern, die perspectivisch hinter einander aufgestellt waren, stierten ihn steif und gespenstisch von der Leinwand an. Die geschnitzten buntbemalten Heiligenbilder in den Rahmen hatten denselben dämonischen Ausdruck, er hing deshalb seine Kleider darüber. Das Licht wurde ausgelöscht und nun war ihm, als ob die häßlichen Gestalten noch immer von der Wand und durch das geschlossene Fenster schauten. Er konnte nicht schlafen; er hörte jedes Viertel auf dem Kirchthurm schlagen. Es war Mitternacht.

Da hörte er einen sonderbar schabenden Ton vor dem Fenster; wäre es an einem andern Abend gewesen, würde er kaum darauf geachtet haben, aber nun – er sah nach dem Fenster. Ein Kopf kam draußen zum Vorschein.

»Es ist meine Einbildung, die das macht,« sagte er sich und richtete sich auf.

Nun sah er die Gestalt deutlicher, sie war weiß. Sie pochte leise an das Fenster und Christian hörte seinen Namen nennen. Die Haare standen ihm vor Schreck zu Berge; wie versteinert saß er aufrecht im Bette.

»Schläfst du?« fragte die Gestalt. »Schließe auf!«

Nun kannte er die Stimme: es war Madame Knepus.

Das Giebelzimmer, in dem er schlief, war ja freilich nicht höher vom Boden, als die Decke des niedrigen Erdgeschosses; auf einer kleinen Leiter konnte man leicht heraufkommen, und dennoch – weshalb kam sie auf diesem Wege und zu dieser Zeit?

Er sprang aus dem Bette und öffnete das Fenster. Ja, es war Madame, welche auf der Leiter stand. Es heißt in dem alten Liede von Agnese: »Von oben eine Frau, von unten wie ein Fisch,« aber von Madame Knepus' Anzuge konnte man sagen: Von oben weißer Kattun, von unten Bombasin!

»Ich habe dich wol zu Tode erschreckt!« sagte sie mit gedampft lachender Stimme. »Hilf mir nur hinein!«

Christian stellte den Stuhl unter das Fenster und faßte Madame an der Hand, ohne zu verstehen, was das Ganze bedeuten sollte.

»Ich will stehlen!« sagte sie und balancirte nun kühn hinein durchs Fenster zu unserm Helden, der in demselben nächtlichen Costüme dastand, wie Gilblas und andere Helden.

Das leichte Fegen der Flur, wo Sand über den alten hingestreut war; der Hausfleiß von Madame in den wenigen Minuten, welche der Gatte bei ihr zubrachte, so wie die vielen kleinen Züge ähnlicher Art, werden einen Begriff davon gegeben haben, wie es mit dem Hauswesen bestellt war. Diese Nachtwanderung mag als ein entsprechendes Supplement dazu dienen.

Das Mädchen konnte nicht mit der Butter auskommen, die sie wöchentlich erhielt; Madame sagte, das sei Unsinn, und um es ihr zu beweisen, hatte sie eine Wette von drei Mark eingegangen, daß sie es mit dem Gegebenen eine Woche lang bestreiten wolle. Damit die Madame nun nicht von dem Vorrath hole, der, wie wir wissen, in Christians Zimmer stand, bekam das Mädchen den Schlüssel dazu, sobald er zu Bette war. Nun war es inzwischen Madame nicht gelungen, aber die Wette wollte sie nickt verlieren, es galt ja drei Mark und die Ehre und deshalb voltigirte sie in das Giebelfenster, um sich selbst zu bestehlen.

»Das ist eine schreckliche Situation!« sagte sie. »Wenn die Leute mich in ein Giebelfenster zu einem jungen Mann hineinsteigen sehen! Aber ich thue es um der Ehre willen und für den Reinen ist Alles rein!«

Und Madame bekam ihre Butter.


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