Alexis / Hitzig
Der neue Pitaval - Band 10
Alexis / Hitzig

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Schlieffen und die Adebar

um 1470

In der Stadt Colberg, in Pommern an der See, waren vor Alters zwei Geschlechter die gewaltigsten: die Schlieffen und die Adebare (Adebar).

Am Ausgang des funfzehnten Jahrhunderts lebten aus den beiden Geschlechtern zwei junge Männer in solcher Freundschaft miteinander, daß sie wie Brüder galten. Der von den Adebar hieß Benedictus und hatte des nachmaligen Bischofs zu Kamin Schwester zur Ehe. Der Andere von den Schlieffen hieß Niclas. Beide genossen aller Ehren guter Bürger und Edelleute.

Eines Abends waren sie miteinander in froher Gesellschaft, wo der Wein die Köpfe erhitzt haben mochte. Niclas Schlieff ging zu guter Zeit vor dem Anderen heim und legte sich, da er müde war, zu Bette. Etwa eine Stunde darauf kehrte auch Benedictus Adebar nach Hause, und es scheint, daß Beide in einem Hause gewohnt, wo nicht in einer Stube geschlafen haben.

Der Adebar klopfte an die Thür, und Schlieff, der aufwachte, hörte gleich, daß es der Freund war. Er sprang im Hemde auf, um ihn einzulassen. Aber Adebar, als er es hörte, wollte ihn, vielleicht in einer Weinlaune, erschrecken. Er stach also mit seinem Schwert durch die Thüre. Niclas Schlieff sah es nicht in der dunkeln Stube, und da er hastig nach der Thür stürzte, um dem Freunde zu öffnen, lief er ins Schwert.

Er schrie laut, doch öffnete er noch die Thür und sprach zum Adebare: Benedict, du hast mich hart erstochen!

Da erschrak Adebar und that, was an ihm, daß er dem armen Freunde helfe. Er verband ihm, oder, wie es heißt, er verstopfte ihm die Wunde, so gut er mochte, und bat und flehte ihn an, daß er's »aus keinem bösen Gemüthe, sondern aus Fürwitz gethan«. So führte er den Verwundeten in der Stille zum Arzte, der ihn verband.

Aber Schlieff fand sich sehr übel, »er vertrauete sich nicht lebendig zu bleiben«. Da nahm er alle seine Kraft zusammen und warnte seinen Bruder und Freund, daß er nicht in der Stadt bleiben, sondern schnell daraus weichen müsse, denn: »wenn seine (des Schlieffen) Freundschaft ihn erhaschete, müßte er wieder sterben, welches er ihm denn nicht gerne gönnte.«

Adebar war sehr unglücklich, daß er also wider allen seinen Willen seinen guten Gesellen und liebsten Freund in Todesgefahr gebracht und sich selbst in große Sorge. Und wie der Freund sagte, mußte es geschehen. Doch wich er nicht aus der Stadt, ob er es gleich in der Nacht noch gekonnt; er mochte nicht fort von dem Sterbenden und versteckte sich nur.

Niclas Schlieff starb bald an der Wunde, die tödtlich gewesen, und sobald er todt war, suchte seine Freundschaft, an der es nun war, den Todten zu rächen, mit allem Eifer nach Dem, der ihn getödtet. Sie finden ihn und setzen ihn ins Gefängniß.

Adebar's Freundschaft nahm nun auch die Sache auf sich und that, was an ihr war, um die Sache in Güte zu vertragen. Benedictus' Schwestermann, Dr. Martinus Carit, der nachmalige Bischof von Kamin, that »viel Bitte und Mühe um Adebar, daß er möchte auf gebührlichen Abtrag loswerden«. (Das heißt, er bot den Schlieffen nach der altgermanischen Sitte das Blutgeld an, daß sie ihr Recht sich abkaufen ließen und von ihrer Verfolgung abstünden. Eines der letzten Beispiele, die wir wenigstens in der Rechtspraxis von diesem uralten Herkommen finden; bei kleineren Vergehen in den untersten Classen der bürgerlichen Gesellschaft mag es noch öfters vorkommen.)

Aber die Schlieffen wollten ihr Recht und keine Abfindung. Sie zogen Benedict Adebar vor das Gericht, das feierlich gehegt ward, und die Richter fanden gegen ihn das Todesurtheil.

Erst nachdem er verurtheilt war, erklärten die Schlieffen: »nun wollten sie ihn losgeben, damit daß man sage, daß sie ihm das Leben geschenkt hätten.«

Nun aber wollte Adebar und seine Freundschaft es nicht annehmen, denn sie meinten: ein Verurteilter wäre des Lebens nicht weiter werth.

Benedict Adebar trat vor die Richter und Schöppen und die anklagende Sippschaft hin und erklärte offen und freien Muthes, er wolle viel lieber bei seinem guten Gesellen und Bruder, dem erschlagenen Schlieff, sein, denn so länger leben.

Und damit war der Proceß abgethan, sein Urtheil war gefunden, er hatte die Gnade des Anklägers nicht angenommen, eine andere gab es nicht, noch hätte sie der Verurtheilte angerufen. Also mußte Benedict Adebar sterben; aber nicht als ein Missethäter.

Der Nachrichter und seine Diener durften ihn nicht anrühren, sondern er ging gutwillig den letzten Weg, und der gesammte Rath von Colberg und die ganze Stadt begleitete ihn, »und Alle betrübten sich seinethalben«.

Adebar's Schwester, die Aebtissin war im Jungfrauenkloster zu Colberg, trat ihm am Thore mit einem Crucifix in der Hand entgegen und sprach mit fester Stimme zu ihm: er solle auf Gott trauen und in seinem Glauben sterben.

So kam der Zug aus dem Thore hinaus und ging nach dem Kirchhof. Weil er kein Missethäter war, war ihm vergönnt worden, daß er nicht auf der Richtstätte, sondern auf einem Kirchhof sich den Kopf abhauen lasse. So geschah es.


Diese einfache, rührende Criminalgeschichte, die uns Cantzow in seiner Pomerania aufbewahrt hat, nehmen wir nicht als eine den von uns erzählten Fällen ebenbürtige, vielmehr als ein merkwürdiges Gegenstück, als die Reliquie von Rechtserscheinungen und einem Rechtsverfahren auf, welches uns als das gerade Widerspiel zu dem unseren erscheint. So spiegelt sich, nach Ausgang des funfzehnten Jahrhunderts, noch kurz vor der Reformation, in dieser Geschichte die germanische Vorzeit wieder in ihrer rührenden und unbeholfenen Kindlichkeit der Begriffe von Recht und Unrecht, Begriffe, die nach den unsern zum hellen Unrecht wurden; aber das starke und gläubige Geschlecht fügte sich in einem Gehorsam darunter, der durch stumme Willigkeit erhebend wird. Nicht die Absicht macht in allen rohen Völkern das Verbrechen, sondern der Fatalismus der That. Der Freund muß den Tod des Freundes büßen, nicht wegen des unvorsichtigen Spieles mit dem Schwert, sondern weil es sein Schwert war, in das der Freund rannte. Wer Menschenblut vergießt, deß Blut muß wieder vergossen werden, gleichviel ob es aus böser Absicht, schwerer Verschuldung oder nur aus einer Nachlässigkeit geschah. Diesem Fatum unterwirft sich der Thäter ohne Murren. Aber die Vergeltung ist nicht Sache der bürgerlichen Gesellschaft, des Staates, der Obrigkeit; das Leben des Einzelnen gehört ihm und seiner Familie. Deren Aufgabe, Ehrenpflicht ist es, für das geraubte Leben, für das vergossene Blut ihres Blutsfreundes Rache zu nehmen. So sehen wir hier in einem germanisirten Lande, spät ins Mittelalter hinein, noch einen Anklang an die Blutrache. Der Richter muß das Leben des Thäters dem gekränkten Kläger zusprechen, aber in dessen Berechtigung ist es, wie zur Heidenzeit, das Blutgeld, die Abfindung, die Compensation dafür anzunehmen. Die Familie weigert sich, sie will ihr volles Recht, und dem Angeklagten kommt es nicht in den Sinn, es ihr zu bestreiten. Als die Freundschaft ihr Recht hat, will sie es erlassen, als ein Geschenk dem Gerichteten sein Leben wieder geben. Nun aber will er es nicht, er fühlt sich ehrlos dadurch, daß er vor Gericht gestanden und verurtheilt worden, er will nicht das entehrende Gefühl eines geschenkten Lebens, das Gefühl der Unfreiheit, das, dem freien Germanen fürchterlicher war, als der Tod. Darum geht er in den Tod, freiwillig, freudig, unter dem Bedauern Aller, der Freunde, Feinde und der Gleichgültigen. Aber es geht nicht anders, es ist Alles in der Ordnung, es muß so sein, und daher fügt sich Jeder darein wie in die Schläge des Schicksals, die kein Sterblicher abzuwenden vermag. Erinnert sich der Leser des Lesurques'schen Falles nicht unwillkürlich an denselben, und findet er nicht eine merkwürdige Parallele und doch zugleich einen moralisch schlagenden Gegensatz zwischen den beiden Nothwendigkeiten, die hier und dort ein für unsere Begriffe schreiendes Unrecht zum Recht erhoben?


 << zurück weiter >>