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Die Geige

1.

»Kinder, ich spiele euch heute etwas auf der Geige vor. Nein, etwas Schöneres und Herrlicheres als Geigespielen gibts doch überhaupt nicht. Hab ich nicht recht?

Seitdem ich auf der Welt bin, sehne ich mich nach einer Geige und liebe die Musikanten. Wenn irgendwo im Städtchen Hochzeit ist, stelle ich mich als erster Gast ein, begrüße die Musikanten, schleiche mich hinter den Konterbaß, zupfe an der Saite – bumm! – springe zurück – bumm! Für dieses »Bumm!« habe ich von dem Bassisten Beril einmal eins ordentlich versetzt bekommen. Beril-Baß war ein jähzorniger Jude mit plattgedrückter Nase und strengem Blick; also einmal tat er so, als ob er nicht sähe, daß ich mich hinter den Kontrabaß schleiche, aber kaum hatte ich die dicke Saite berührt, als er mich am Ohr faßte und vor allen Leuten zur Tür hinaussteckte: »Lümmel, der du bist, hier kannst weiterspielen!«

Aber das schreckte mich nicht zurück; ich verließ die Musikanten nicht für einen Augenblick. Ich hatte sie alle gern, von dem Geigenspieler Schaje, einem Juden mit hübschem, schwarzem Bart und zarten, weißen Fingern, bis hinab zum buckligen Itzig, dem Trommelspieler mit einer Glatze, die bis an die Ohren reichte. Da sie mich gewöhnlich fortjagten, mußte ich mich mehr als einmal unter die Bank verstecken, um von dort aus dem Spiel der Musikanten zu lauschen; unter der Bank hervor sah ich Schajes dünne Finger, wie sie über die Saiten hüpften und lauschte den wundersamen Tönen, die er seiner Geige kunstvoll entlockte.

Tagelang ging ich dann wie berauscht herum: immer stand mir Schaje mit seiner Geige vor Augen. Nachts sah ich ihn im Traum, am Tage konnte ich keinen anderen Gedanken fassen. Wenn niemand neben mir war, stellte ich mir in der Phantasie vor, ich sei der Geiger Schaje, beugte den linken Arm, bewegte die Finger, strich mit der rechten Hand wie mit dem Bogen, warf den Kopf nach hinten, schloß ein wenig die Augen … – Schaje, wie er leibt und lebt – zum Verwechseln!

Mein Lehrer, Note-Leib, bemerkte während des Unterrichts, daß ich mit den Händen herumfuchtelte, mit dem Kopf wackelte und die Augen zusammenkniff; er haute mir also eine herunter:

»Ach, du Faulpelz! Statt lesen lernen, schneidet er Grimassen und fängt Fliegen!«

 

2.

Ich schwor bei mir, um jeden Preis mir eine Geige zu beschaffen. Woraus wird eine Geige hergestellt? – Aus Zedernholz. Aber wo nimmt man das Holz her, das ausschließlich in Palästina wachsen soll?

Mir kam ein glücklicher Gedanke! Wir hatten ein altes Sofa, ein Erbstück vom Großvater Reb Anschel. Um dieses Sofa haben sich meine Onkel mit meinem Vater lange herumgestritten. Onkel Benjamin meinte, er sei der älteste, das Sofa gehöre also ihm; Onkel Sander behauptete, das Sofa käme ihm, dem jüngsten Sohn, zu; aber mein Vater erklärte, daß er zwar nur der Schwiegersohn sei und keinen Anspruch auf das Sofa habe, aber da seine Frau, meine Mutter, die einzige Tochter des Alten sei und das Sofa sich ohnehin in unsrer Wohnung befinde, – es auch bei uns bleiben müsse. Dann mischten sich Tante Ite und Tante Golde in die Sache und verklatschten uns in der ganzen Stadt. Aber das Sofa blieb bei uns.

Es war ein einfaches Sofa mit Holzeinfassung, die stellenweise abgelöst war und hohl abstand. Diese oberste Schicht war nach der Meinung aller meiner Kameraden aus echtem Zedernholz. Das Sofa hatte einen großen Fehler; wenn man sich darauf setzte, konnte man nicht wieder aufstehen, weil es mit der Zeit ganz schief geworden war, – an der einen Seite stand es hoch und auf der anderen fiel es ein. Aus diesem Grunde setzte sich nie jemand darauf; das Sofa wurde in eine Ecke gerückt und ausrangiert. Das war für meine Zwecke sehr gut.

Für einen Bogen hatte ich schon lange vorgesorgt (denn man soll sich nie auf den Zufall verlassen –): mein Schulfreund Simche, der Kutschersohn, versah mich mit Pferdehaar, und Kolophonium gab mir mein Kamerad Meier-Leib für ein Stück Stahl aus Mutters Krinoline, das ich auf dem Boden gefunden hatte. Als Meier-Leib das Stahlstück geschliffen und in ein Messer verwandelt hatte, hätte ich den Tausch gern wieder rückgängig gemacht. Aber mein Kamerad schimpfte los: »Seht, wie schlau! Ich habe mich drei Nächte lang abgemüht, hab mir beim Schleifen drei Finger kaputtgemacht und jetzt soll ich ihm das Messer wiedergeben!«

»Warum schreist du denn so? Wenn du nicht willst, so laß es sein. Stahl liegt genug bei uns auf dem Boden herum! Es reicht noch für Enkel und Urenkel.«

Also ich hatte alles, was man zu einer Geige braucht. Ich mußte nur noch in Besitz des Zedernholzes gelangen. Dazu wählte ich mir eine vortreffliche Zeit: die Mutter befand sich im Laden, der Vater machte am Nachmittag ein Schläfchen. Ich kroch in den Winkel und bohrte mit einem Nagel am Sofa herum. Der Vater hörte im Traum das Knarren, glaubte, es wären Mäuse und rief: Kusch! Kusch! … Ich bekam einen Totenschreck … Aber der Vater drehte sich auf die andere Seite und schnarchte weiter. Ich setzte meine Arbeit mit Eifer fort … Als ich aufblickte – steht der Vater neben mir; er wußte zuerst gar nicht, was hier vorging; als er aber das zerkratzte Holz am Sofa sah, zerrte er mich am Ohr aus dem Winkel heraus und schlug mich, bis ich die Besinnung verlor. Man begoß mich mit kaltem Wasser.

»Um Gottes willen, was hast du mit dem Kind gemacht?« rief die Mutter weinend.

»Dein Liebling! Er bringt mich noch lebendig ins Grab!« schrie der Vater, selber totenblaß, packte sich an der Brust und hustete mehrere Minuten lang.

»Nun, was regst du dich denn so auf?« sagte ihm die Mutter, »du kannst dich sowieso kaum mehr auf den Füßen halten! Sieh dich einmal an! Wie siehst du denn aus? Unseren Feinden wünsche ich solches Glück!«

 

3.

Die Leidenschaft zur Geige wuchs in mir und wie zum Trotz konnte ich jetzt jeden Tag Musik hören: Auf dem Weg von dem Cheder – unserer Religionsschule – nach Hause stand eine kleine Erdhütte, aus der drangen stets Stimmen und Töne von allen möglichen Instrumenten, meistens Geigenklänge. Dort lebte der Musikant Naftali Ohnebart, ein Jude mit Schläfenlöckchen hinter den Ohren, einer Riesennase, die wie angeklebt aussah, dicken schmutzigen Lippen, pockennarbigem Gesicht ohne den geringsten Haarwuchs. Er trug einen breitsäumigen Rock und hatte stets einen gestärkten Kragen um.

Seine Frau, eine kindergebärende Maschine, genannt »Urahne Eva«, hatte anderthalb Dutzend Kinder, wenn nicht mehr, in die Welt gesetzt; sie musizierten alle, vom kleinsten bis zum größten. Da gabs unter ihnen Geiger, Altisten, einen Klarinettisten, einen Balalaikaspieler, einen Harfenisten, einen Trommler; es gab solche, die ganze Lieder mit den Lippen, Zähnen, auf Gläsern, Töpfchen und Holzstückchen, ja sogar auf den Wangen hervorbringen konnten – mit einem Wort – ein ganzes Orchester! Ich lernte die Familie ganz zufällig kennen. Ich stand eines Tages vor ihrem Fenster und hörte zu, wie dort gespielt wurde. Einer von ihnen, Peine, ein fünfzehnjähriger Bursche, kam zu mir heraus und fragte mich, ob ihr Spiel mir gefallen habe.

»Wenn ich in zehn Jahren so spielen könnte!« antwortete ich seufzend.

»Du kannst es lernen,« sagte er und erklärte mir, daß sein Vater mich für zwei Rubel monatlich im Spielen unterrichten würde, sonst könnte auch er es mir beibringen. »Welches Instrument möchtest du spielen Geige?«

»Ja«, erwiderte ich. »Geige! Geige!«

»Bist du imstande, zwei Rubel zu bezahlen, oder bist du so reich, wie ich?«

»Ich kann zahlen,« sagte ich, »aber meine Eltern dürfen es nicht erfahren; überhaupt soll es niemand erfahren, besonders nicht der Lehrer.«

»Gott behüte!« sagte Peine, »wozu sollte man es austrompeten? … Hast du nicht eine Zigarette oder Tabak? Rauchst du nicht? … Dann borge mir einen Sechser, ich kaufe mir eine Zigarette. Aber sag es keinem Menschen, der Vater darf nicht wissen, daß ich rauche, und wenn die Mutter nur riecht, daß ich Geld habe, nimmt sie es mir sofort ab und kauft Frühstück dafür. Komm mit herein, warum sollen wir auf der Straße stehen?« sagte er zuletzt.

Vor Angst zitternd, mit klopfendem Herzen überschritt ich die Schwelle dieses kleinen Paradieses. Mein neuer Kamerad stellte mich seinem Vater vor:

»Acholem-Nochem Wewikow, ein reicher Junge, er will Geigenunterricht nehmen.«

Naftali Ohnebart schob seine Schläfenlocken und seinen Kragen zurecht und begann mit mir eine lange Unterhaltung über Musik im allgemeinen und über die Geige insbesondere, erklärte mir, daß die Geige das beste Instrument sei, es gebe nichts in der Welt, was wichtiger und älter wäre. Die Geige habe stets die Führung im Orchester, denn sie sei die Mutter aller Instrumente.

So hielt Naftali Ohnebart eine lange Predigt, fuchtelte mit den Händen und arbeitete mit der Nase, und ich stand dabei, blickte ihm in den Mund, sah seine schmutzigen Zähne und verschlang hungrig seine Worte.

»Die Geige, mußt du wissen,« fuhr Naftali mit seinem Vortrag, scheinbar sehr zufrieden, fort, »ist das älteste aller Instrumente. Der erste Geiger war Tubal-Kain oder Methusalem, ich erinnere mich nicht mehr genau, du weißt es wahrscheinlich besser, du lernst doch in der Schule. Der zweite Geiger war König David; der dritte war Paganini, ebenfalls ein Jude. Alle berühmten Geiger der Welt sind Juden: Stempenju, Fidelmann und andere. Von mir rede ich nicht, obgleich, wie man sagt, ich nicht schlecht spielen soll. Aber mit Paganini kann ich mich natürlich nicht vergleichen! Der soll dem Teufel seine Seele für eine Geige verkauft haben. Paganini soll nicht gern vor großen Leuten, Königen und Bischöfen gespielt haben, obwohl sie ihn vergoldet hätten; er zog die armen Leute vor, spielte in Wirtshäusern, auf dem Lande, manchmal auch im Walde für Tiere und Vögel. So war Paganini.«

»Na, Kinder, Schlingel, an die Instrumente!« wandte sich Naftali Ohnebart plötzlich an seine Kinder. Die Schar versammelte sich im Nu, jeder ergriff sein Instrument.

Naftali erhob sich, stieß mit dem Bogen auf den Tisch, umfaßte die ganze Gesellschaft und jeden besonders mit einem strengen Blick, dann setzten alle zugleich auf allen Instrumenten mit solchem Feuer ein, daß ich beinahe umgefallen wäre. Jeder wollte alle übrigen übertönen, den größten Lärm machte der kleine Chemel, ein dünner Junge mit nassem Näschen und geschwollenen, bloßen Füßchen. Chemel spielte auf einer Art Sack; wenn er aufgebläht wurde, brachte er einen Ton hervor, wie eine m Katze, der man auf den Schwanz trat. Chemel trat mit dem linken Fuß den Takt dazu, schaute mich mit seinen kleinen Spitzbubenaugen an und zwinkerte mir zu, als wollte er sagen:

»Nicht wahr, ich pfeife schön?«

Naftali Ohnebart arbeitete für drei: er spielte, dirigierte gleichzeitig mit dem ganzen Körper, knirschte bei dem geringsten Fehler mit den Zähnen und schrie wütend:

»Forte, Lümmel! Forte! Fortissimo! … Im Takt, Halunke! Takt! … Eins, zwei, drei! Eins, zwei, drei! Eins, zwei drei!

 

[4.]

Ich verabredete mit Naftali Ohnebart, daß er dreimal in der Woche zu anderthalb Stunden für zwei Rubel monatlich mich unterrichten solle. Ich bat ihn noch einmal, es geheimzuhalten, sonst – sei ich verloren! Er gab mir sein Ehrenwort, daß nicht einmal ein Spatz es erfahren würde. »Wir sind solche Menschen,« erklärte er stolz, indem er an seinem Kragen rückte, »daß … die kein Geld haben, aber mehr Gewissen und Ehre im Leibe haben, als so mancher reiche Mann! Haben Sie nicht etwas Geld bei sich?« fügte er hinzu.

Ich zog einen Rubel aus der Tasche und gab ihm den Schein. Naftali ergriff ihn mit zwei Fingern, wie ein Professor, rief die »Urahne Eva«, blickte zur Seite und sagte:

»Da, kauf etwas zum Frühstück!«

»Urahne Eva« ergriff den Schein mit beiden Händen und allen Fingern, musterte ihn von allen Seiten und fragte den Gatten, was sie kaufen sollte.

»Ganz egal,« erwiderte er, als ginge es ihn nichts an, »kauf ein paar Semmeln, zwei, drei Heringe, vergiß die Zwiebel nicht, Essig und Butter nicht, und etwas Schnaps …«

Als all die Sachen auf dem Tisch erschienen, aß ich mit und ich erinnere mich nicht, je mit größerem Vergnügen gegessen zu haben.

Nach dem Frühstück gab Ohnebart der Gesellschaft ein Zeichen, die Instrumente zu erfassen. Sie spielten mir zu Ehren eine eigene Komposition von Naftali Ohnebart. Sie trugen sie mit soviel Geschmack vor, daß die Musik mir in den Ohren klingelte und im Kopf rumorte. Den nächsten Tag flimmerte es mir in der Schule vor den Augen, die Komposition wollte mir nicht aus den Ohren. Im Traume erschien mir Paganini, auf einem Satan reitend, und plötzlich schlug er mich mit der Geige auf den Kopf. Ich erwachte mit einem Schrei und Kopfschmerz und plapperte ein furchtbares Zeug durcheinander. Meine ältere Schwester Pesja erzählte mir später, was ich phantasierte; die Worte hatten gar keinen Sinn, sie klangen ganz fremd: Paganini, Komposition … Die Schwester erzählte mir noch, daß ein barfüßiger Junge von Naftali Ohnebart ein paarmal bei uns vorgesprochen habe, um sich zu erkundigen, wie es mir ginge. Aber sie hätten ihn fortgejagt und gesagt, er solle sich nicht unterstehen, wiederzukommen. »Wozu kam der barfüßige Knabe des Musikanten zu dir?« forschte die Schwester. Ich behauptete immer: »Ich weiß nicht, ich weiß wirklich nicht; woher soll ich es wissen?«

»Das ist ja unwürdig, das ist ja – nu, man muß sagen: unanständig,« sagte die Mutter, »du bist ein erwachsener Bursche, siehst ganz menschlich aus, man trägt dir bereits eine Braut an, und du gibst dich mit dummen Jungen, mit barfüßigem Lumpenpack, mit den Musikanten ab? Was hast du mit den Musikanten zu tun? Was wollte Naftalis Junge von dir?

»Was für ein Naftali?« fragte ich mit erstaunter Stimme. »Was für Musikanten?«

»Seht doch mal den Heuchler an!« mischte sich der Vater drein. »Er versteht nicht einmal, wovon gesprochen wird. Ein Unschuldslamm! Ich war in deinem Alter schon Bräutigam, und du gibst dich noch mit kleinen Jungen ab. Zieh dich an und marsch in die Schule! Wenn du Herschel Baal triffst und er dich fragen sollte, was dir fehlte, so sag, du hättest Fieber gehabt. Hast du verstanden? – Fieber!«

Ich habe nicht ein Wort verstanden. Warum sollte Herschel Baal mich gerade plötzlich anreden?

Nach einigen Wochen hat sich alles aufgeklärt.

 

[5.]

Herschel Baal der Taxator, der diesen Beinamen führte, weil er in der Fleischhalle, die seine Familie seit Generationen in Pacht hatte, die Taxe machte, – war ein Mann mit rundem Bäuchlein, feuchten Augen, rotem Bart und einer breiten, weißen Stirn, die auf Klugheit deutete. In der Stadt galt er als gebildeter Mann, der sich in der Bibel gut zurechtfand. Man sagte, daß er schön schreiben könne. Außerdem hatte er schönes Geld und eine einzige Tochter, ein Mädchen mit rotem Haar und feuchten Augen, dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hieß Esther. Sie war sehr zart, als Kind fürchtete sie uns Schulbuben schlimmer als das Feuer, weil wir sie immer anulkten und einen Vers auf sie gemacht hatten:

»Esther! Estherchen!
Rotes Pflästerchen!
Kleines, dünnes Estherchen,
Wo ist denn dein Schwesterchen?«

Der Vers hat doch nichts Beleidigendes. Aber sobald Esther das Lied hörte, hielt sie sich die Ohren zu und lief weinend davon; sie versteckte sich in dem entlegensten Zimmer und fürchtete sich, wieder auf die Straße zu kommen.

Aber damals war sie, wie gesagt, noch ein Kind. Jetzt ist sie ein erwachsenes Mädchen, sie hat den roten Zopf aufgesteckt und geht immer nach der letzten Mode gekleidet. Meine Mutter kann sie nicht genug loben, sie nennt sie die »sanfte Taube«. Esther besuchte am Sonnabend manchmal meine Schwester Pessel, wenn sie mich sah, wurde sie noch röter als gewöhnlich und senkte die Augen. Pessel rief mich absichtlich, als ob sie mich nach etwas fragen wollte, und sah uns beiden in die Augen.

Eines Tages kam mein Vater mit Herschel Baal, dem Taxator, in unsere Religionsschule; hinter ihnen schleppte sich der Heiratsvermittler Reb Scholom-Schachne, ein Jude mit zerzaustem, schwarzem Bart und sechs Fingern an einer Hand, sonst aber ein furchtbar armer Teufel. Als mein Lehrer Reb Sorach solche Gäste sah, zog er schnell seinen Rock an und setzte die Mütze auf. Bei der Eile wollte die Mütze nicht richtig sitzen und ließ die Hälfte des Käppchens unbedeckt, eine Schläfenlocke verkroch sich hinter dem Ohr, Reb Sorach wurde rot und verlegen. Es war nicht schwer zu erraten, daß die Gäste ungelegen kamen. Nicht ohne Grund war Scholom-Schachne in letzter Zeit oft bei uns erschienen; er ließ sich jedesmal mit dem Lehrer in ein Gespräch ein, sie tuschelten miteinander, fuchtelten mit den Händen und seufzten am Ende:

»Nun, ich kann nur sagen, wenn es bestimmt ist, kommt es zustande. Was kann man im voraus wissen?«

Als die Gäste kamen, wußte Reb Sorach nicht, was er machen und wohin er sie setzen sollte. Er packte die Küchenbank, auf der seine Frau gewöhnlich das Fleisch einsalzte, stellte sie von einer Stelle auf die andere, dann setzte er sich selbst darauf, sprang wieder in die Höhe, als hätte er sich verbrannt, und betastete die Hintertasche seines Rockes, als hätte er Geld verloren.

»Hier ist eine Bank, setzen Sie sich!« sagte er endlich zu den Gästen. »Lassen Sie sich nicht stören, behalten Sie Ihren Platz,« sagte mein Vater. »Wir sind nur für einen Augenblick herangekommen, Reb Sorach; er will hören, ob mein Junge die Bibel kennt«. Bei diesen Worten zeigte mein Vater auf Reb Herschel Baal, den Taxator.

»Sehr gern! Warum nicht?« sagte Reb Sorach, ergriff die Bibel und reichte sie Reb Herschel mit einer Miene, als wollte er sagen: »Mach, was du willst.«

Herschel Baal, der Taxator, nahm die Bibel zur Hand wie ein Kenner, neigte den Kopf zur Seite, schloß ein Auge, blätterte lange in dem Buch und zeigte mir schließlich die ersten Verse aus dem »Hohen Lied«.

»Also das Hohe Lied, meinetwegen,« sagte mein Lehrer mit einem Lächeln, das besagen sollte: »Etwas Schwierigeres konnten Sie nicht finden?!«

»Ja, das Hohe Lied,« erwiderte Herschel Baal, »es ist gar nicht so leicht, wie Sie denken. Das Hohe Lied will verstanden sein.«

»Sehr richtig!« bestätigte Reb Scholom-Schachne lächelnd.

Der Lehrer machte mir ein Zeichen, ich ging an den Tisch heran und begann, mit dem Körper wackelnd, laut, in singendem Ton:

»Das Hohe Lied, d. h. das Lied, das alle übrigen übertrifft: Alle anderen Lieder sang der Prophet, dies aber – des Propheten Sohn; alle anderen Lieder sang der König – dies aber – des Königs Sohn; alle anderen Lieder sang der Weise – dies aber – des Weisen Sohn usw.«

Während ich las, beäugelte ich die Zuhörer. Jedes Gesicht hatte einen anderen Ausdruck. Auf dem Antlitz des Vaters malte sich Stolz und Freude. Auf dem Antlitz des Lehrers sah man helle Angst, daß ich steckenbleiben oder Fehler machen könnte; er sprach jedes Wort flüsternd mit. Reb Herschel Baal, der Taxator, saß mit gesenktem Kopf, den roten Bart zwischen den Zähnen, hielt ein Auge geschlossen, guckte mit dem anderen nach der Decke und horchte wie ein großer Kenner. Reb Scholom-Schachne ließ mich während der ganzen Zeit nicht aus den Augen; er neigte sich mit dem Vorderkörper zu mir herüber, half mir wackeln, endlich hielt er es nicht länger aus, unterbrach mich und rief lachend, hustend und mit seinem Doppelfinger fuchtelnd: »Was ist da lange zu reden! Ein Meister ist er – daran ist nicht zu rütteln!«

Nach einigen Tagen wurden Teller zerbrochen, und man gratulierte mir: ich wurde der Bräutigam Esthers, der einzigen Tochter Herschel Baals, des Taxators.

 

[6.]

Es kommt vor, daß ein Mensch an einem Tage sich mehr erhöht und entwickelt, als andere in zehn Jahren. Kaum war ich Bräutigam geworden, als ich fühlte, daß ich plötzlich »erwachsen« war, ganz etwas anderes, als früher. Angefangen von meinen jüngsten Schulkameraden bis zu meinem Lehrer Reb Sorach, – waren sie eitel Achtung; alles, weil ich ein Bräutigam und Besitzer einer Uhr war. Der Vater schimpfte mich nicht mehr; von Ohrfeigen gar nicht erst zu reden. Wie kann man einen Bräutigam, der eine goldene Uhr hatte, schlagen! Nur einmal ist es vorgekommen, daß ein Bräutigam in der Schule Prügel bekam; es war Elia, der mit christlichen Knaben Schlittschuh gelaufen war. Es wurde lange darüber in der Stadt geredet; als die Braut von diesem Vorfall hörte, weinte und jammerte sie so lange, bis die Verlobung aufgelöst wurde; Elia wollte vor Schande und Verzweiflung sogar ins Wasser gehen, aber glücklicherweise war der Fluß mit Eis bedeckt … Ebensolches Unglück wäre beinahe auch mir widerfahren, nicht wegen der Ohrfeige oder wegen Schlittschuhlaufens, sondern wegen der Geige.

Die Sache trug sich so zu:

Ein häufiger Gast in unserem Kellerloch war der Kapellmeister Teschek, den wir »Herr Hauptmann« nannten, ein gesunder, großgewachsener Mann mit großem, rundem Bart und seltsamen Augenbrauen; während der Unterhaltung bewegten sich seine Augenbrauen nach oben und nach unten; wenn er die Brauen herunterließ, wurde sein Gesicht finster wie die Nacht; wenn er sie aber emporzog, wurde das Gesicht hell wie der Tag, und ein paar hellblaue gute Augen zeigten sich unter den Brauen; er sprach einen seltsamen Dialekt, der aus mehreren Sprachen zusammengemischt war; den Namen Hauptmann verdankte er der Uniform mit goldenen Knöpfen. Uns besuchte er sehr oft, weil mein Vater aus Rosinen vortrefflichen »Ungerwein« zu bereiten verstand, für den Teschek sich begeisterte. Er pflegte seine Riesenhand dem Vater auf die Schulter zu legen und zu sagen:

»Pan Kellermeister! Sie haben den besten Ungerwein. In Budapest gibt es nicht solchen Wein. Bei Gott!«

Mich behandelte Teschek sehr gut, er lobte mich für meinen Fleiß, prüfte oft meine Gelehrsamkeit, fragte, wer Adam war, oder Isaak oder »Schosef«?

»Joseph?« sagte ich, »der keusche Joseph?«

»Schosef,« sagte er.

»Der schöne Jjjoseph,« verbesserte ich ihn noch einmal.

»Bei uns heißt er Schosef, bei euch Joscheph,« erwiderte er … »Ganz egal, ganz egal …«

»Kchi, chi, chi! …« Ich versteckte das Gesicht in meinen Fäusten und lachte. Aber sobald ich Bräutigam wurde, behandelte Teschek mich nicht mehr wie einen Jungen, er erzählte mir von dem Regiment und den Musikanten … Der Herr Hauptmann hatte einen gehörigen Vorrat von Worten und keinen anderen Zuhörer als mich. Eines Tages, als wir uns über Musik unterhielten, fragte ich ihn:

»Herr Hauptmann, spielen Sie selbst auf einem Instrument?«

»Auf allen Instrumenten!« antwortete er und zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Auch auf der Geige?« fragte ich, und ich fühlte bereits, wie der Hauptmann sich in meinen Augen in einen Engel verwandelte.

»Komm einmal zu mir, ich werde dir etwas vorspielen,« sagte er.

»Ich kann nur am Sonnabend kommen, Herr Hauptmann, aber unter der Bedingung, daß es niemand erfährt. Versprechen Sie mir das?«

»Vor Gott!« erwiderte er mir, indem er die Brauen emporzog.

 

[7.]

Teschek wohnte weit draußen vor der Stadt, in einem kleinen, weißen Stübchen mit kleinen Fenstern und bunt angestrichenen Fensterläden. Aus dem Garten schauten wichtig hohe, gelbe Sonnenblumen heraus; ihre Köpfe neigend, lockten sie: »Hierher, zu uns, junger Bursche! Hier ist es luftig, geräumig, warm und frisch, hier ist es hell und gemütlich!«

Aus dem ewigen Geruch, der Hitze und dem Staub in der Stadt, aus der Enge, dem Lärm und Geschrei in der Schule sehnt man sich wirklich hinaus, dorthin, wo es hell und warm, frisch und gemütlich ist! Man möchte rennen und schreien, springen und singen oder sich mit dem Gesicht in das duftende, grüne Gras werfen. Aber leider ist das nichts für euch, jüdische Kinder! Gelbe Sonnenblumen, duftendes Grün, frische Luft, saubere Erde, heller Himmel! – das wächst nicht auf eurem Kehrichthaufen!

Ein großer, schwarzer, zottiger Hund mit blutunterlaufenen Augen kam mir entgegen: er warf sich auf mich mit solcher Wut und solchem Geheul, daß ich vor Angst beinahe gestorben wäre. Zum Glück war er angebunden. Auf das Hundegebell kam Teschek ohne Uniform und beruhigte den Hund. Dann faßte er mich bei der Hand, führte mich zu dem schwarzen Hund und sagte mir, ich brauche mich nicht zu fürchten, er rühre mich nicht an. – »Versuch, streichle ihm einmal das Fell,« sagte er und hatte im selben Augenblick meine Hand erfaßt und streichelte mit ihr den Hund, indem er ihn mit verschiedenen zärtlichen Namen bedachte. Der Hund zog den Schwanz ein, senkte den Kopf, beleckte sich, aber er warf mir böse Seitenblicke zu, als wollte er sagen: »Dein Glück, daß der Herr hier ist, sonst würde es dir schlecht ergehen, mein Junge!«

Nachdem ich den Schreck überwunden hatte, betrat ich mit dem Herrn Hauptmann das Haus und erstarrte: Alle Wände waren von oben bis unten mit Waffen behängt, auf dem Boden lag ein Fell mit einem Löwen- oder Leopardenkopf, aus dem fürchterliche, scharfe Zähne heraussahen. Mit dem Löwen ging es noch an, – der war immerhin tot, … aber die Waffen, die Waffen! Ich konnte weder die frische Sahne herunterschlucken noch die schmackhaften Äpfel, mit denen mich der Hauptmann bewirtete, – meine Augen liefen von Wand zu Wand … Aber dann, als Teschek aus einem kleinen Kasten seine Geige herausnahm, eine kleine, runde Geige, mit einem seltsamen Boden, sein langes, breites Kinn darauf stützte und seine gesunde, feste Hand um den schlanken Hals der Geige legte, ein paar Bogenstriche machte, hinauf und hinunter, hinauf und hinunter, und eine Melodie sich ergoß, – da vergaß ich den schwarzen Köter, den furchtbaren Löwen und die ausgehängten Waffen. Ich sah nur Tescheks Bart, seine dichten Augenbrauen, die runde Geige mit dem sonderbaren Bäuchlein und die Finger, die so lebhaft auf den Saiten herumsprangen, daß ich sie nicht einholen konnte … Wo nimmt ein Mensch soviele Finger her? … Schließlich verschwand auch Teschek mit seinen Wunderfingern, ich sah nichts mehr, ich hörte nur noch Gesang, Stöhnen, Weinen, Schluchzen, ein Klingen und Geschwirr; Töne, die ich nie zuvor gehört, süß wie Honig, weich wie Butter, flossen ohne Ende in mein Herz hinein; die Seele entfloh der Erde in eine andere Welt, weit, weit, in ein Paradies von Tönen und reinen Liedern.

»Möchtest du Tee?« fragte mich Teschek, nachdem er die Geige beiseitegelegt hatte und indem er mich auf die Schulter klopfte. Ich stürzte aus allen Himmeln auf die Erde.

Seitdem ging ich regelmäßig jeden Sonnabend nachmittag zu ihm. Ich ging jetzt mutig, fürchtete niemanden, mit dem schwarzen Köter war ich so befreundet, daß er mit dem Schwanz wedelte, wenn er mich von weitem sah, und sich auf mich stürzte, um mir die Hand zu lecken. Doch die Hand gab ich ihm nicht: bei aller Freundschaft drei Schritt vom Leibe!

Zu Hause weiß natürlich niemand, wo ich den Sonnabend verbringe, – einen Bräutigam fragt man eben nicht aus; sie hätten es bis auf den heutigen Tag nicht erfahren, wenn mir nicht ein neues Unglück zugestoßen wäre.

 

[8.]

Es scheint, daß es niemanden etwas angehen sollte, wenn ein jüdischer junger Mann am Sonnabend einen Spaziergang außerhalb der Stadt unternimmt? Gibt es wirklich nichts Wichtigeres, als fremdes Tun zu verfolgen? Doch, was hilfts, es scheint in unserer Natur zu liegen: einander zu beobachten und zu kritisieren, Mängel herauszusuchen und Ratschläge zu erteilen; zum Beispiel zu einem fremden Menschen während des Gebets herangehen und ihm das Gebettuch zurechtzurücken; einen Menschen, der einen eiligen Geschäftsgang hat, anzuhalten, um ihm zu sagen, daß seine Hosen umgestülpt seien; wenn jemand ein Schloß öffnen will, seine Hand fortschieben: »Lassen Sie mich, Sie verstehen es nicht, ich werde es machen;« vor einem im Bau begriffenen Hause stehenbleiben und dem Wirt zeigen, daß die Decke zu hoch, die Zimmer zu groß, die Fenster unglaublich breit seien, als ob jener daraufhin den Bau herunterreißen und ein neues Haus aufbauen würde. So geht es bei uns immer zu, fast seit den ersten sechs Tagen der Schöpfung; und dabei – wir werden die Welt ja doch nicht ummodeln, wir sind nicht einmal dazu verpflichtet …

Nach dieser Einleitung werden Sie wohl verstehen, daß Efraim Klotz, ein mir völlig fremder Mensch, mir nachspürte, mich umwitterte, ausforschte, wohin ich ging und mir den Freundschaftsdienst erwies, meinem Vater zu erzählen, daß ich beim Hauptmann Unerlaubtes esse und am Sonnabend rauche. »So wahr, wie er Gutes erleben will; er will nicht ankommen, wohin er geht, wenn er sich nur im geringsten irren sollte; seine Zunge soll sich ihm verdrehen und die Augen auf die Stirn treten! …« schwor er.

»Amen! Gott gebe es!« sagte ich und bekam vom Vater eine Extra-Ohrfeige für die Frechheit.

Übrigens gehe ich den Dingen voraus, ich müßte vorher erklären, wer Efraim Klotz ist und wie sich alles zugetragen hat.

Am Ende der Stadt, nahe der Brücke, lebt ein Mann, namens Efraim Klotz. Er hat früher mit Holz gehandelt, aber es ereignete sich, daß man bei ihm einen fremden Klotz mit fremdem Stempel fand. Die Sache wurde laut, er entkam noch gerade dem Gefängnis. Er gab den Holzhandel auf, aber der Beiname »Klotz« blieb ihm. Nachdem er seinen Handelsberuf aufgegeben hatte, begann er sich sozial zu beschäftigen: er beobachtete die Gesellschaft, die Fleischstände, die Synagoge … In der ersten Zeit ging das Geschäft nicht ganz glatt, es gab Unannehmlichkeiten; aber allmählich drängte er sich überall hinein und gab zu verstehen, daß er wisse, wo sich die »notwendige Tür« öffne, und er wurde ein unentbehrlicher Mensch, ohne den man nicht mehr auskam. So drängt sich ein Wurm in einen Apfel hinein, macht sich dort breit und bequem, als wenn er Herr und Gebieter wäre.

Efraim war ein kleines Männchen mit kurzen Beinen, kleinen Händen und roten Wangen; er ging schnell, hüpfend und nickte dabei mit dem Kopf; er sprach sehr schnell mit zischendem Ton, und wenn er lachte, hörte es sich an gleich fallenden Erbsen. Ich konnte ihn nicht leiden, er flößte mir Ekel ein, ich weiß nicht, warum. Jedesmal, wenn ich zu Teschek ging, begegnete ich ihm auf der Brücke. Er spazierte, die Hände auf dem Rücken, und summte mit dünner Stimme eine Melodie; den langen Sommermantel, den er nur am Sonnabend trug und um die Schultern geworfen hatte, schleppte er auf der Erde nach.

»Guten Sabbath!« sagte ich.

»Guten Sabbath!« erwiderte er, »wohin gehst du denn?«

»Nirgends,« sagte ich, »ich gehe nur spazieren.«

»Spazieren? Ganz allein?« sagte er und blickte mich mit einem Lächeln an, das man verschieden deuten konnte: daß es kühn wäre, allein außerhalb der Stadt zu schlendern, oder daß es sehr klug oder auch dumm wäre …

 

[9.]

Als ich eines Tages zu Teschek ging, bemerkte ich, daß Efraim Klotz mich seltsam musterte; ich blieb auf der Brücke stehen und schaute in das Flüßchen: Efraim blieb auch stehen und schaute auch ins Wasser: ich ging in die Stadt zurück, – er auch; ich kehrte um, wieder zur Stadt hinaus, – er ebenfalls; dann verschwand er. Als ich dann bei Teschek saß und Tee trank, hörte ich, wie der Hund plötzlich aufbellte und am Strick zerrte; ich sah zum Fenster hinaus und es schien mir, daß etwas Kleines, Schwarzes auf kurzen Beinchen dahinlief und verschwand. Nach dem Gang erkannte ich Efraim Klotz.

Ich kam ziemlich spät nach Hause, ganz rot vor Erregung, und traf Efraim bei uns an. Er saß am Tisch, erzählte lebhaft und lachte mit seinem häßlichen Lachen. Als er mich sah, verstummte er und begann mit seinen kurzen Fingern auf dem Tisch zu trommeln. Gegenüber saß der Vater, blaß wie der Tod, zupfte seinen Bart und riß sich ein Härchen nach dem andern aus – ein sicheres Zeichen seines Zorns.

»Woher kommst du jetzt?« fragte mich der Vater, indem er Efraim ansah.

»Was denkst du, woher ich komme?« sagte ich.

»Wie kann ich das wissen,« entgegnete der Vater. »Sag's allein, du wirst es sicher besser wissen.«

»Aus der Synagoge,« antwortete ich.

»Und wo warst du den ganzen Tag?«

»Wo soll ich gewesen sein?«

»Wie soll ich das wissen? Sag, du weißt es besser!«

»In der Synagoge.«

»Was hast du dort gemacht?«

»Was soll ich in der Synagoge machen?«

»Wie kann ich wissen, was du gemacht hast?«

»Ich habe gelernt …«

»Was hast du gelernt?«

»Was sollte ich lernen?«

»Weiß ich, was du lernst?«

»Den Talmud habe ich gelernt,« sagte ich.

»Welches Buch hast du studiert?«

»Welches sollte ich studieren?«

»Wie soll ich wissen, was du studierst?« meinte er.

»Das Sabbathbuch habe ich studiert …«

Efraim Klotz hielt es nicht länger aus und lachte mit seinem kleinen Lachen, mein Vater aber sprang auf und gab mir zwei Ohrfeigen. Sie knallten, daß mir heiß wurde, die Funken sprühten mir aus den Augen. Die Mutter hörte es im Nebenzimmer und rannte schreiend zu uns herein:

»Nochum! Um Gotteswillen! Was machst du denn? Er ist doch Bräutigam, die Hochzeit ist bald … Denke nur, wenn der Heiratsvermittler es erfährt?!«

*

Die Mutter hatte recht. Herschel Baal der Taxator erfuhr von der ganzen Geschichte. Efraim Klotz erzählte ihm selbst alles und rächte sich so für altes Unrecht; er stand sich mit Herschel immer wie auf Messerspitzen …

*

Am nächsten Tag schickte mir die Braut meine Geschenke zurück. Ich war nicht mehr Bräutigam. Das kränkte den Vater so sehr, daß er krank wurde, lange zu Bett lag und mich nicht vor Augen sehen wollte, so sehr die Mutter ihn auch überzeugen und mich rechtfertigen wollte.

»Nein! Diese Schande!« wiederholte er. »Ich ertrage diese Schmach nicht!«

»Großes Unglück!« beruhigte ihn die Mutter, »Gott wird ihm eine andere Braut schenken, wenn es nicht anders ist! Deshalb sich krank zu machen? – Sie ist ihm wahrscheinlich nicht bestimmt …«

Unter den Personen, die meinen Vater während seiner Krankheit aufsuchten, befand sich auch der Kapellmeister Teschek. Als der Vater ihn erblickte, nahm er sein Käppchen vom Kopf, richtete sich im Bett auf, streckte ihm seine dürre, blasse Hand hin, sah ihm in die Augen und sagte:

»Ach, Pan Hauptmann, Pan Hauptmann!«

Sonst brachte er kein Wort hervor; die Tränen und der Husten würgten ihn.

Zum erstenmal sah ich den Vater weinen. Mir wurde schwer und bange ums Herz. Ich stand da, blickte zum Fenster und verschluckte die Tränen. In diesem Augenblick empfand ich ehrliche Reue, ich gelobte mir, den Vater nie mehr zu ärgern und ihm keine Unannehmlichkeiten zu bereiten – –

– Schluß mit der Geige!


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