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Das Schulfest

»Kommt einmal her, Kinder, ich muß euch etwas sagen!« wandte sich der Lehrer an uns, einen Tag vor Lag-B'aumer. Lag-B'aumer: Das Schulfest am 33. Tage der Erntezeit.

Wir horchten auf. Was kann er uns wohl sagen?

»Was haben wir morgen für einen Feiertag?« fragte er mit leierndem Ton, indem er den Kopf senkte und ein Auge schloß.

»Lag-B'aumer!« antworteten wir im Chor.

»Was bedeutet Lag-B'aumer?«

»Der dreiunddreißigste Tag der Erntezeit.«

»Was machen die Knaben am Lag-B'aumer?«

»Die Schüler sammeln an diesem Tage für einen gemeinsamen Schmaus.«

»Was tun sie noch an diesem Tage?«

»Sie nehmen Pfeil und Bogen und gehen zur Stadt hinaus.«

»Richtig, meine Jungens,« sagte der Lehrer, indem er das Auge öffnete, »ihr kennt die Bedeutung, dafür habe ich euch gern, dafür werde ich euch freilassen für anderthalb Tage!«

Als wir hörten, daß wir für anderthalb Tage freigelassen wurden, erhoben wir uns wie ein Mann von unseren Plätzen und schickten uns an, nach Hause zu rennen. Aber ein Blick des Lehrers genügte, um uns an unsere Plätze zu fesseln.

»Aha!« Wandte sich der Lehrer an uns, nunmehr in einem ganz andern Ton. »So benehmt ihr euch? Seht mal an, wie flink ihr seid! Kaum habt ihr gehört, daß ihr frei seid, da habt ihr die Schule vergessen und wollt losspringen, wie wilde Ziegen! Ich warne euch, wenn Gott behüte … ihr erratet doch, was ich meine? Wenn ich eine zerrissene Jacke oder eine Kratzwunde, eine Beule oder irgendetwas in der Art sehe, schlage ich euch braun und blau.«

Um von dieser Kunst einen Beweis zu geben, machte der Lehrer eine Probe. Er nahm die Peitsche aus dem Talmudbuch heraus, besah sie, schwang sie ein paar Mal durch die Luft, schnupfte Tabak und schickte sich an, die Arbeit zu beginnen. Wir ließen uns nicht lange bitten, erhoben uns der Reihe nach von den Plätzen, traten an die Bank heran, legten uns still, ohne ein Wort zu sagen, nieder, bekamen unsere Tracht aufgelegt und traten zur Seite, um dem nächsten Platz zu machen. Ausnahmen gab es nicht, sogar Lipa, der Bräutigam, entrann dem allgemeinen Schicksal nicht; selbst die silberne Uhr, die er von der Braut als Geschenk bekommen hatte, schützte ihn nicht davor.

Nachdem der Lehrer seine Arbeit beendet hatte, sagte er: »Nun, lebt wohl! Macht die Hosen zu, wascht die Hände, betet und – marsch – nach Hause! Aber, nicht rennen, anständig und langsam gehen, wie es sich für wohlerzogene Knaben schickt … Übermorgen früh habt ihr alle wieder hier zu sein, aber pünktlich! Wehe, wenn ich bei irgendeinem einen Fleck oder ein Härchen sehe!! Gute Nacht, ich wünsche euch ein frohes Fest! …«

*

Am nächsten Morgen zog der Herr die Sonne aus ihrer Schale und schenkte uns einen schönen, hellen, fröhlichen Sommertag. Einen jener Tage, da selbst in unserem unglücklichen Städtchen Masepowka, das am Ufer des Schweineflüßchen liegt, die Luft frisch und wohlriechend ist. Der Himmel ist klar und blau. Die Vögel singen. Man möchte hinaus, ins weite Feld, heraus aus der schmutzigen Stadt, dorthin, wo das Gras grünt, wo die Bäume mit frischen Blättern bedeckt sind, wo die Vöglein hüpfen, springen, singen und zwitschern. An diesem Morgen standen wir früh auf, ich und mein Bruder Mottl, wuschen uns rasch, aßen Frühstück und begaben uns zu Lipa. Bei Lipa sollte sich unsere Gesellschaft versammeln, weil Lipa der älteste Schüler in unserem »Cheder«, der Elementarschule, war; außerdem war er Bräutigam und besaß eine silberne Uhr, und schließlich befand sich in dem Hause, in dem Lipa wohnte, ein großer Hof. Auf diesem Hof pflegten wir am Freitag nachmittag, wenn wir keinen Unterricht hatten, zu spielen: Verstecken, Katze und Maus, auf einem Fuße springen usw.

Wir waren eine ziemlich große Anzahl: die Schüler zweier Schulen, mehr als vierzig Stück, kamen auf dem Hof zusammen.

»Fehlt noch einer? Nein. Also jetzt wollen wir einmal feststellen, was für Vorräte wir für unser Festessen haben!« sagte Lipa und nahm von jedem das Mitgebrachte in Empfang. Er rief jeden Knaben beim Namen und zählte laut auf, was jeder gegeben hatte.

»Mendel! Zeig mal, was du gebracht hast! Zwei Bretzel, ein Stück Pfefferkuchen, ein Ei und drei Kopeken.«

»Itzig! Du scheinst ein ganzes Lager zu haben, unberufen: zwei Kringel, drei Eier, ein Stück Wurst, ein paar Kuchen und Nüsse – ei weh! Und ein Fünfkopekenstück hast du auch mitgebracht! – Braver Bursche!«

»Jankel! präsentier' mal deine Schätze: eine Semmel, ein viertel Huhn, ein Gläschen Gänseschmalz … Und was ist das? … Eine Flasche Met? … Du bist ja der reine Zauberer! …«

»Mojschele! Komm mal hierher! Du hast Schnaps mitgebracht? Dafür hab ich dich gern, was wäre das sonst für ein Schmaus ohne Schnaps?«

»Kalmann! Zeig du mal, was du gebracht hast! Schäme dich nicht! Im ganzen ein halbes Ei? Ein Stück Brot mit Honig? Auch das ist gut! Gib her, das tut nichts, dafür ist heute Lag-B'aumer!«

»Toppell Tutaretu!« wandte sich Lipa an Koppel, der statt »k« »t« aussprach und statt »g« nur »d« sagen konnte. »Zeig, was du hast! Eine Topete und ein Stütt Semmel und ein Bündel Tnoblauch? Warum hat die Mutter dir so wenig dedeben? …«

Die ganze Bande freute sich über Lipas Witz und lachte laut.

»Nun, Eilik, jetzt bist du an der Reihe! Du hast sicher einen ganzen Vorrat, du bist doch nicht umsonst der Sohn eines Millionärs? Ja, habe ich richtig geraten? Wer sagt: Zwei Semmeln, eine halbe gebratene Ente, oh! Zehn Eier, Tee und Zucker, Nüsse, süße Schoten, Rosinen, Mandeln, Apfelsinen, sogar eine Zitrone! Komm nur näher, daß ich mich wenigstens bedanken kann!« Eilik tritt heran, die Hände auf dem Rücken, um von Lipa einen Nasenstüber in Empfang zu nehmen. Im Publikum erscholl lautes Lachen. »Jetzt wollen wir uns auf die Klötze setzen, Kinder, und schlampampen. Eßt und trinkt drauflos, ohne euch zu zieren! Hat jemand ein Schnapsgläschen? Wir wollen trinken. Warum sollen wir nicht trinken?

Bruder, eßt und trinkt
Heut mit frohem Mut'
Gila, auf dein Wohl!
Schnaps erwärmt das Blut!

Prosit, Noj, der Schnaps
Feind ist er dem Zecher.
Motka, auf dein Wohl
Leeren wir den Becher!

Trink, Teppel, Gott beschere dir alles dute, trint das danze Dlas leer, sonst dieße ich es dir in die Tehle, das wird schlimmer sein.«

Alle lachten, auch Koppel lachte mit.

»Kinder, wohin gehen wir jetzt?« fragte Lipa nach dem Schmaus.

Es entstand ein unsagbarer Lärm, ein Geschrei und ein Gedränge. Jeder schlug einen anderen Ausflugsort vor.

»Hinter den Friedhof!« riet einer.

»Zum Fluß!« schlug ein anderer vor.

»Zur Ziegelei! Zur Ziegelei!« schrien mehrere Knaben zugleich.

»Dort streifen Hunde umher. Habt ihr schon vergessen?« bemerkte Nisohn, ein blasser Junge mit erschrockenen Augen.

»Wer fragt nach ihnen? Sind denn Hunde so schlimm?« bemerkte unser Millionär Eilik tapfer.

»Du hast ja selber vor den Hunden Angst, wie vor dem Tode!« unterbrach ihn David mit der gespaltenen Lippe.

»Nicht nur vor Hunden, auch vor Katzen hat er Angst!« fügte Schepsel hinzu, der die verbrühte Wange hatte. Allgemeines Gelächter.

Eilik ließ sich den Schimpf nicht gefallen, er geriet in Zorn, stürzte auf Schepsel los, versetzte ihm einen Schlag vor die Nase und bekam als Antwort einen Hieb. Er beruhigte sich nicht, Ohrfeigen flogen hin und her. Zu anderer Zeit hätte es niemand gewagt, offenkundig gegen Eilik aufzutreten – man hätte es beim Lehrer oder auch zu Hause büßen müssen –, aber heute war Lag B'aumer! Da war alles erlaubt!

»Still!« rief Lipa, »genug herumgebalgt! Wißt ihr, Kinder, wohin wir gehen?«

»Wohin? Wohin?«

»Nach Galaganowka.«

»Nach Galaganowka! Nach Galaganowka!« schrien alle einstimmig. Sogar Koppel Kukareku schrie mit seinem kreischenden Stimmchen: »Nach Daladanowta! Nach Daladanowta!«

Dabei blieb es.

*

Das Dorf Galaganowka ist in der Nähe von Masepowka gelegen. Man muß es passieren, um nach Masepowka zu kommen. Wenn ein Jude durch das Dorf fährt, kommt ihm unbedingt ein Haufen Kinder in hohen Mützen entgegengelaufen, die hinter dem Wagen rennen, mit Steinen werfen, Grimassen schneiden und ein garstiges Lied singen:

Der Jud, der Jud, der räudige Jud …
Hat 'nen Bauernschuh verloren …
Ich ging daher,
Ich fand den Schuh,
Ich hob ihn auf,
Ich bracht ihn her …

Obgleich in den Worten dieses Liedes sehr wenig Sinn und noch weniger Schimpf enthalten ist, so berührt es dennoch peinlich. Nicht so sehr ist man durch das Lied selbst verletzt, als durch die Grimassen und Gebärden, die es begleiten; weniger durch die Gebärden, als durch die Steine, die einen treffen; weniger durch die Steine, als durch die Hunde, die auf den Reisenden gehetzt werden.

»Was werden wir tun,« fragte irgendeiner von uns, »wenn Gott behüte die Dorfburschen uns überfallen sollten?«

»Was haben wir zu fürchten, da wir doch vierundvierzig, mit Bogen, Pfeilen und Stöcken bewaffnete Mann sind? Mögen sie sich nur unterstehen, uns anzugreifen!«

»Wir werden ihnen zeigen, wer mehr kann!« sagte der Sohn des Millionärs, Eilik, der augenscheinlich die Anspielungen auf seine Tapferkeit vergessen hatte.

»Wir werden die Israeliten sein, und sie die Philistäer!« bemerkte mein Bruder Mottl.

Dieser Gedanke fand Gegenliebe.

»Kommt, wir wollen aus uns zwei Abteilungen machen. Die eine Hälfte unter Lipas Anführung, soll »Das Lager der Judas« heißen, – mit den Schülern des Lehrers Juda, des Ohrabschneiders, – die zweite – unter der Führung Mendels, »Das Lager der Ephraims«, mit den Schülern Ephraims des Henkers.«

»Nu? Er hat recht, er hat recht!« stimmten mehrere Kameraden zu, »als der Urahne Jakob mit Isaak in den Krieg zog, tat er dasselbe. Denn er dachte: Während der Feind ein Lager vernichtet, kann das andere sich flüchten ….«

»Niemand, kein einziger von uns wird die Flucht ergreifen!« sagte Lipa. »Wir schlagen die Philistäer kurz und klein. Kinder, ergreift die Waffen und auf zu den Philistäern!«

»Ein Lied, Kinder, ein Lied!«

»Ein Lied! Ein Lied!«

Der Sohn des Schlächters Noj begann mit wohlklingender Stimme:

Omar Adonaj L'Jakob Das Liedchen besteht im Original aus hebräischen Sätzen und der russischen Übersetzung, wie es vom jüdischen einfachen Volk gesungen wird.
Der Herr Gott sagte zu Jakob:
Al tiro awdi Jakob
Fürchte dich nicht, Jakob! …

Und wir fielen alle im Chor auf russisch ein:

Nein, nein, wir fürchten nichts,
Wir fürchten niemand,
Nur Gott den Herrn allein! …

*

»Ach, wenn uns jetzt ein paar Philistäer in die Hände geraten würden!« sagte Eilik, indem er seinen Bogen spannte, der aus einem halben Reifen hergestellt war.

»Wir würden mit ihnen abrechnen!« rief Jankel, mit seinem Bogen zielend.

»In Stücke würden wir sie reißen!« sagte Abraham-Mojsche und zeigte mit den Händen, wie er sie zerreißen würde.

»Still, Kinder! Da kommt, glaube ich, ein Philistäer, auf einem Ochsenpaar.«

Wirklich, nach einigen Minuten erschien ein Bauer mit einer großen Lammfellmütze, ruhig auf seinem Wagen sitzend, eine Pfeife rauchend, die Peitsche schwingend und die Ochsen antreibend:

»He, he, hall! He Nachtigall!«

»Kinder, den Bogen spannen!« kommandierte Lipa dem Judalager.

»Kinder, zielt direkt auf den Philistäer!« rief Mendel seinem Lager zu.

Wir spannten die Bogen, zielten, während Noj sang:

Bochar Adonaj Ben Jakob –
Es wählte der Herr Ben Jakob!
AI tiro awdi B'Jakob!
Fürchte dich nicht, Herre Jakob!

Und wir fielen im Chor ein:

Nein, nein, wir fürchten nichts,
Wir fürchten niemand,
Nur Gott, den Herrn, allein!

Der Philistäer erschrak scheinbar tüchtig vor unserer Heerschar; er nahm die Mütze ab, bekreuzte sich dreimal, spie nach der Seite und rief mit klingender Stimme:

»Was wollt ihr, Judenbengel, verfluchte Antichristen?!«

Er schimpfte in seiner Muttersprache und wollte vom Wagen herunterspringen, um den Kampf mit uns aufzunehmen.

»Wißt ihr?« wandte sich Eilik zu uns, »wir wollen diesen Philistäer in Ruhe lassen! Was hat er uns Schlimmes angetan? Wir wollen ja nur die kleinen Philistäer angreifen …«

»Das ist wahr, jawohl, das ist wahr!« schrien wir zufrieden, schnallten unsere Gürtel um und rannten wie Helden davon, immer noch weiter singend:

»Goal Adonaj es Jakob –
Es rettete der Herr Gott Jakob,
Al tiro awdi Jakob –
Erschrecke nicht, Herre Jakob! …«

»Nein, nein, wir fürchten nichts,
Wir fürchten niemand,
Nur Gott, den Herrn allein! …«

»Jetzt ist Zeit auszuruhen, Kinder!« kommandierte der Führer. Wir hoben die Schöße hoch und setzten uns auf die Wiese nieder, um auf dem grünen Gras auszuruhen; wir streckten uns auf der Erde aus und reckten uns und schauten zu dem klaren, blauen Himmel empor, über den leichte Dunstwolken dahinzogen … Vögel flogen in langer Reihe über unseren Köpfen, nahmen ein Luftbad und verschwanden.

»Wo sind wohl die Vögel jetzt hin?« fragte ein Knabe den andern und sah zum Himmel.

»Sie haben sich auf dem Gipfel des Berges Ararat niedergelassen,« antwortete der andere überzeugt.

»Warum auf dem Ararat?«

»Weil der Ararat höher ist als alle übrigen Berge!« antwortete jener mit dem Ton eines Allwissenden.

Ich lag und dachte bei mir: Wieso kommt der Berg Ararat hierher? Der Ararat liegt doch im heiligen Land, und wir sind in der Verbannung. Aber ich beruhigte mich sofort wieder mit folgendem Gedanken: von den Philistäern heißt es auch, daß sie im heiligen Land leben, und dennoch greifen wir sie jetzt im Kampf an …

Die beiden Knaben hörten aber nicht auf, sich zu unterhalten. Der eine fragte, der andere antwortete.

»Was wird sein, wenn wir mit Gottes Hilfe die Philistäer besiegen?«

»Was möchtest du denn haben, das sein soll?«

»Was werden wir mit ihrem Land anfangen?«

»Was sollen wir denn anfangen?«

»Werden wir ihr Land verwüsten, die Städte verbrennen, ihre Frauen und Kinder mit dem Schwert niedermachen?«

»Warum die Städte verbrennen? Und tut es dir nicht leid um die armen Mädchen?«

»Gott behüte, so steht es doch in der heiligen Schrift.«

»Was ist dabei! Das war einstmals, jetzt ist es anders. Es wird genügen, wenn wir ihnen einen Tribut auferlegen, daß sie uns Steuern zahlen müssen …«

Die Unterhaltung dieser Knaben, die weiche, warme Luft, der tiefblaue Himmel, das grüne Gras, der Duft der Erde erfüllte uns mit süßem Wohlbehagen; eine sanfte Mattigkeit ergoß sich in unsere Glieder. Wir wären den ganzen Tag so liegengeblieben, wenn einer nicht plötzlich mit dem Schrei aufgesprungen wäre:

Die Philistäer! Die Philistäer!

*

Als wir uns von der Erde erhoben, sahen wir eine Herde Schafe und mehrere Hirtenknaben. Diese standen mit langen Stäben in den Händen, betrachteten uns und tuschelten miteinander:

»Wer sind die?«

»Ein Heidenvolk?«

»Nein, Judenjungen aus Masepowka.«

»Nichtchristen … hündisches Volk!«

»Noch dazu mit Stöcken, seht mal an!«

»Los, Jungen, wir verprügeln sie!«

»Wir hetzen die Hunde auf sie!«

»Halt, Jungen!«

»He, Jungen, Jungen!«

»Nun, Kinder, macht euch bereit!« kommandierten unsere Führer. Wir spannten unsere Bogen. Noj fing an zu singen:

Dorach Keichew mi Jakob –
Ein Stern ging auf aus Jakob,
Al tiro awdi Jakob
Fürchte dich nicht, Herre Jakob! …

Wir stimmten laut ein:

Nein, nein, wir fürchten nichts,
Wir fürchten niemand,
Nur Gott den Herrn allein …

Die Schlacht zwischen den Israeliten und Philistäern begann.

*

Zwingt mich nicht, meine Lieben, zu erzählen, wie die Schlacht verlaufen ist. Fragt nicht, wer den anderen besiegt hat, Warum alte Wunden aufdecken? … Ich kann nur bezeugen, daß die Israeliten wie die Löwen gekämpft haben, wie die Rehe gerannt sind, sich wie echte Helden auf Tod und Leben geschlagen haben, daß sogar Toppel Tuturetu mitten ins Feuer sprang und kreischte:

»Junnen, haut sie! Mit Stötten! Mit Boden! Debt tein Pa'don!«

Aber o weh! Was konnten die Israeliten tun, als sich die Hunde, die Hunde der Philistäer in den Kampf mischten! Sie brachten Verwirrung in unsere Reihen, die Israeliten mußten mit Schmach das Schlachtfeld verlassen … Eilik war der erste, der wie ein Pfeil davonschoß … Wir flohen nicht vor den Philistäern, sondern vor ihren Hunden, die uns verjagten, bis vor die Stadt … O weh, o weh! Unsere beiden Lager schmolzen zusammen! Wo war da Schlachtordnung? Wo war da Disziplin? Wir waren ein Durcheinander. Wir sangen nicht mehr: »Fürchte dich nicht, Herre Jakob!« Nein. Neue Worte entkamen unserer Kehle:

»Hilfe! Rettung! Polizei!«

*

Es dämmerte bereits, als wir nach Hause kamen. Ich und Mottl schlichen uns ganz leise, einzeln, nach Hause, krochen in die Ecke, saßen still wie zitternde Tauben, voll Angst, daß die Spuren der Schlacht, unsere zerrissenen Jacken, bemerkt werden könnten. Aber unglücklicherweise schickte der Herr einen Gast, eine Tante aus Jampol, die die Mutter seit anderthalb Jahren nicht mehr gesehen hatte.

»Kinder!« rief die Mutter, »die Tante ist gekommen!«

Wir rührten uns nicht von der Stelle.

»Wo habt ihr euch verkrochen?« schrie die Mutter, »warum habt ihr euch versteckt?«

Wir schwiegen.

Die Mutter kam näher, sah uns an und schlug die Hände zusammen: »Weh mir! Ich Unglückliche! Jerachmiel, wo bist du? Sieh dir mal die Kinder an!«

Der Vater erschien, ein kränklicher Mann. Immer, seit ich denken kann, hustete er. Der Vater blieb stehen und besah uns von Kopf bis zu Füßen. Nun ging die Sache erst los. Der Vater verlangte Antwort: »Wo wart ihr gewesen? Was habt ihr gemacht? Mit wem habt ihr euch geschlagen? …« Ich und Mottl standen, die Augen zu Boden gesenkt und dachten: »Wenn sich doch ein Grab öffnen würde vor uns, jetzt, da, in dieser Stunde, uns von diesen Qualen zu befreien!« … Der Vater fuhr fort, uns auszuforschen.

»So sagt doch endlich: Wo ihr gewesen wart? Was habt ihr getan? Mit wem habt ihr euch geschlagen?«

Die Mutter stand daneben und hörte nicht auf, in den Vater hineinzureden: »Das will ein Vater sein! Hat er ihnen wenigstens ein Wort gesagt? Bei anderen Leuten hätte der Vater die Jungen übers Knie gelegt und ordentlich verprügelt! Damit die Kinder sichs merken! Damit sie es fühlen! Damit sie es wissen!«

Aber der Vater schlug uns nicht! Er schlug uns niemals. Er wirkte durch das Wort. Er hörte nicht auf zu fragen: Was wird aus uns werden! Was hat dieses Benehmen für einen Sinn! Er war gewöhnlich sehr bekümmert, hustete und sagte, daß wir seine Tage auf Erden verkürzten. Wir weinten leise, aber erzählten kein Wort.

»Wartet nur, wartet, liebe Jungens!« sagte die Mutter. »Laßt uns nur den morgigen Tag erleben. Ich werde mich um euch schon bemühen, beim Lehrer …«

*

Als wir am Tage nach Lag-B'aumer in die Schule kamen, trafen wir dort unsere Mutter und noch mehrere andere Mütter an, die schon vor uns gekommen waren, um sich beim Lehrer über ihre Kinder zu beklagen. Unser Lehrer, Reb Juda, der Ohrabschneider, ließ sich nicht lange bitten und bedachte uns, seinem Versprechen gemäß, mit den Gaben seiner freigebigen Hand. Als die Reihe an Lipa kam, mußte der Lehrer lange mit dem eigensinnigen Schüler ringen. Lipa, ein erwachsener Bursche und vor allem Bräutigam mit einer silbernen Uhr, wollte sich auf keinen Fall in Anwesenheit der Mütter hinlegen. Die Mütter verzogen sich, und dann erst zählte ihm der Lehrer fünfzig Rutenschläge auf.

Seitdem gelobten wir uns, – und ich kann es euch Kindern auch nur raten, mit den Philistäern nie wieder einen Kampf zu beginnen.


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