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Chanukageld

Chanuka ist der schönste Festtag. Man bedenke nur: acht Tage hintereinander nicht in die Schule gehen, Pfannkuchen mit Schmalz essen, den Kreisel drehen und von allen Leuten Chanukalgeld kriegen. Kann es ein schöneres Fest geben?

Es ist Winter. Draußen herrscht Kälte. Schneidender Frost. Die Scheiben sind zugefroren, mit dem schönsten Eisblumenmuster verziert, – im Hause ist es angenehm warm. Die silberne Chanukalampe wartet schon seit Mittag. Der Vater geht, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer umher und sagt das Abendgebet; nachdem er »achtzehn Segenssprüche« gesagt hat, nimmt er die dickste Wachskerze – den »Diener« aus dem Tischchen und wendet sich, ohne sein Gebet zu unterbrechen, an uns – meinen jüngeren Bruder und mich – in hebräischer Sprache. (Jiddisch zu sprechen ist während des Betens verboten!)

»Ih! Oh! Nu! Na!«

Wir verstehen nicht, was er will und fragen ihn: »Was, ein Zündholz?«

Der Vater zeigt mit der Hand auf die Küchentür. »Ih! Oh! Oh! Nu!«

»Was? Das Küchenmesser? Die Schere? Die Fußbank?«

»Ach, Oh … nu …! Pfui!«

Nachdem er noch einige ähnliche unartikulierte Laute ausgestoßen hatte, die angeblich hebräisch sein sollten, sagte er nunmehr deutlich, da auch sein Gebet inzwischen zu Ende war:

»Die Mutter, die Mutter sollt ihr rufen!«

Ich und mein Bruder Mottl rennen um die Wette zur Mutter.

»Mama! Rasch! Die Chanukalichter!«

»O weh mir! Chanukalichter!« ruft die Mutter, läßt ihre ganze Küchenarbeit liegen – die geschlachteten Gänse, aus denen das Fett ausgelassen und für den Pfannkuchenteig verwendet wurde – und rennt in die Stube. Hinter ihr her die Köchin Breine, eine schwarze Jüdin mit Schnurrbart, fettem Gesicht und ewig schmutzigen Händen. Die Mutter tritt zur Seite und macht eine fromme Miene. Breine bleibt an der Tür stehen, wischt die Hände an ihrer schmutzigen Schürze ab und fährt sich mit ihrer dicken Hand von oben bis unten über die Nase, auf der eine schwarze Spur zurückbleibt. Mottl und ich geben uns die größte Mühe, das Lachen zu unterdrücken.

Der Vater nähert sich mit dem angezündeten »Diener« der Chanukalampe, beugt sich und spricht das Gebet in dem üblichen Sington: »Gesegnet sei unser Herr«, und schließt mit den Worten: »Die Chanukalichter anzünden!« Die Mutter sagt andächtig und fromm: »Amen«, Breine nickt demutsvoll mit dem Kopf, wobei ihre Wangen sich so aufblähen, daß ich und Mottl fürchten, einander anzuschauen.

»Die Lichter, die wir anzünden …« singt der Vater für sich, indem er im Zimmer umhergeht und von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Lampe wirft. Das Lied zieht sich endlos hin. Wir können es kaum erwarten, daß er es zu Ende singt und endlich das Körbchen herausnimmt. Wir winken und blinzeln einander zu.

»Mottl, geh, bitte den Vater um Chanukageld.«

»Warum soll ich darum bitten?«

»Darum! Du bist der Jüngere, du hast also Chanukageld zu beanspruchen.«

»Nein! Du bist der Altere, also bitte du!«

Der Vater weiß genau, worüber wir unterhandeln, aber er tat, als höre er nichts. Gemach, ohne die geringste Eile, geht er an die Tischschublade und zählt das Geld. Ein Kälteschauer durchrieselt uns, unsere Hände zittern, die Herzen klopfen. Wir blicken zur Decke und krauen uns unter den Schläfenlocken, als ob es sich nicht um uns handle.

Der Vater räuspert sich.

»Hm … Kinder, kommt einmal her!«

»Ach! Was ist denn?«

»Hier habt ihr Chanukageld!« Er gibt mir einen Rubelschein und meinem Bruder einen halben Rubel.

Nachdem wir das Geld in Empfang genommen haben, entfernen wir uns wieder. Zuerst gehen wir langsam, wie es sich für anständige Knaben ziemt. Allmählich aber immer schneller, tänzelnd und hüpfend.

In unserem Zimmer angelangt, fangen wir an, Purzelbäume zu schießen, auf einem Fuß herumzuspringen, zu singen und vor lauter Freude und Begeisterung einander auf die Wangen zu klatschen.

Die Tür öffnet sich und Onkel Benja tritt ein.

»Nun, Kinder, ihr Schlingel, ihr habt Chanukageld zu bekommen?«

Onkel Benja nimmt zwei Fünfzigkopekenstücke aus der Westentasche und gibt sie uns.

*

Niemand würde glauben, daß unser Vater und Onkel Benja Brüder sind. Der Vater ist groß und mager, Onkel Benja ist klein und dick, der Vater ist schwarz, Onkel Benja rot; der Vater ist ein schwermütiger, schweigsamer Mann, Onkel Benja – ein Spaßmacher und eine Plaudertasche: Tage und Nächte, Winter und Sommer redet er unausgesetzt. Aber trotzdem sind sie leibliche Brüder …

Der Vater nimmt einen großen Bogen Papier, zieht Karos in schwarz und weiß, und läßt sich aus der Küche weiße und schwarze Bohnen bringen. Die Mutter läßt in der Küche Schmalz aus und backt Pfannkuchen. Ich und mein Bruder Mottl drehen den Brummkreisel. Der Vater und Onkel Benja setzen sich zum Schachspiel.

»Ich bitte dich aber, Benja, ohne Rückzüge und ohne Mogelei. Ist der Zug einmal gemacht – dann ist er gemacht!« sagt der Vater.

»Ein Zug ist ein Zug,« sagt Onkel Benja und macht einen Zug.

»Ein Zug ist ein Zug«, sagt der Vater und schlägt einen Bauern des Onkels.

»Ein Zug ist ein Zug« sagt Onkel Benja und schlägt zwei Bauern.

Sie vertiefen sich immer eifriger ins Spiel, kauen an ihren Bärten, zittern unter dem Tisch mit den Füßen und brummen dieselbe Melodie.

»Ei, was tun, was tun, was tun?« singt der Vater mit talmudischem Singsang und an seinen Bartenden kauend, »gehe ich hierhin, geht er dorthin. Gehe ich dorthin, geht er hierhin, ich mache also diesen Zug.«

»Diesen Zug! Diesen Zug!« erwidert Onkel Benja singend.

»Was habe ich zu fürchten?« singt der Vater wieder, »schlägt er diesen Bauern, so schlage ich zwei. Wenn er aber drei Bauern schlägt?«

»Drei Bauern, drei Bauern, drei Bauern?« stimmt Onkel Benja in seinem Gesang ein.

»Ach, du bist ein Dummkopf, Benja!« singt der Vater und macht einen Zug.

»Bist selber ein Dummkopf, lieber Bruder, ein noch größerer Dummkopf!« singt Onkel Benja, macht einen Zug und will ihn sofort wieder zurückziehen.

»Pfui, Benja! Wir hatten doch verabredet, daß ein Zug, der einmal gemacht ist, stehenbleibt!« sagt der Vater, nicht mehr singend, und faßt den Onkel beim Ärmel.

»Schönes Geschäft!« sagt Onkel Benja, »solange ich den Bauern in der Hand halte, kann ich gehen, wohin ich will.«

»Nein«, sagt der Vater, »du darfst nur einmal ziehen. Wir hatten doch verabredet, Benja, ohne Rückzüge und ohne Betrug!«

»Rückzug?« sagt Onkel Benja, »wie oft kommt es vor, daß du zurückziehst?«

»Ich?« sagt der Vater, »siehst du, Benja, deshalb spiele ich mit dir nicht gern Schach!«

»Wer zwingt dich denn?«

»Nun, zankt ihr euch schon wieder um die Bohnen?« sagt die Mutter, die aus der Küche ins Zimmer tritt. Ihr Gesicht brennt. Hinter ihr folgt Breine mit einer großen Platte heißer Pfannkuchen mit Schmalz. Die Pfannkuchen dampfen. Alle stürzen zum Tisch. Ich und Bruder Mottl, die wir uns soeben furchtbar gezankt und wie Katzen gekratzt haben, versöhnen uns sofort wieder und machen uns mit großem Eifer über die Pfannkuchen her.

*

In der Nacht liege ich im Bett und denke: wieviel Chanukageld ungefähr werde ich wohl sammeln, wenn alle Onkel, alle Tanten und alle Verwandten uns Chanukageld schenken? Schenken werden sie uns alle etwas: Onkel Mojsche-Aron, der Bruder meiner Mutter, ein sehr geiziger, aber reicher Mann; Onkel Itzig und Tante Dwora, mit denen meine Eltern seit vielen Jahren böse sind; Onkel Beinus und Tante Ente; meine Schwester Eidel und ihr Mann Scholom Seidel. Und alle übrigen Verwandten …

»Mottl, schläfst du?«

»Ja, warum denn?«

»Wieviel, glaubst du, wird Onkel Mojsche-Aron uns geben?«

»Woher soll ich das wissen? Bin ich ein Prophet?«

Nach einer Minute:

»Mottl, schläfst du?«

»Ja, warum denn?«

»Hat noch irgend jemand so viele Onkel und Tanten wie wir?«

»Vielleicht ja … vielleicht auch nicht!«

Nach zwei Minuten:

»Mottl, schläfst du?«

»Ja, warum denn?«

»Wenn du schläfst, wie kannst du denn mit mir sprechen?«

»Wenn du fragst, muß ich doch antworten.«

Nach drei Minuten:

»Mottl, schläfst du?«

»Tsss … trrrr … chil chil chul … tsss …«

Mottl schnarcht, pfeift mit der Nase, ich aber setze mich im Bett auf; ziehe meinen Rubel heraus, rolle ihn glatt und betrachte ihn.

»Solch ein Zettel sieht aus,« denke ich, »wie Papier, wie ganz gewöhnliches Papier, aber was kann man sich nicht alles dafür kaufen: Spielsachen, Federmesser, Lineale, Nüsse, Konfekt, Rosinen, Datteln und alles mögliche!«

Ich verstecke den Rubel unter dem Kissen und sage das Abendgebet … Plötzlich tritt Breine mit einer Platte voll mit Rubeln ein … Breine geht nicht, sie schwebt in der Luft und singt: »Und die Lichter, die wir anstecken …«, während Mottl die Rubel verschlingt, als wären es Klößchen. »Mottl!« schreie ich aus ganzer Kehle, »was fällt dir ein, um Gottes willen! Mottl! Was machst du denn? Das sind doch Rubel!« …

Ich erwache: »Pfui, pfui, pfui, was für ein Traum!«

Und ich schlafe wieder ein.

*

Am nächsten Morgen standen wir früh auf. Wir beteten und frühstückten in Eile. Man zog uns unsere Wintermäntel, mit Katzenfell gefüttert, an und band uns große, warme Tücher über die Mützen um den Kopf. Wir machten uns auf den Weg, um Chanukageld einzusammeln. Der erste Besuch galt dem Onkel Mojsche-Aron.

Onkel Mojsche-Aron ist leidend, er hat unausgesetzt mit dem Magen zu tun. Wann auch immer man zu ihm kommt: man trifft ihn am Waschtisch. Er wäscht die Hände und brummt »Ascher Ojzar«, – das Gebet, das man nach gewissen Verrichtungen zu sagen pflegt.

»Guten Morgen, Onkel!« rufen wir, ich und mein Bruder Mottl. Tante Pessel kommt uns entgegen, eine kleine Frau mit einer schwarzen und einer weißen Augenbraue. Tante Pessel nimmt uns die Mäntel und die Tücher ab und wischt uns mit ihrer Schürze die Nasen.

»Schnäuzt euch!« sagt Tante Pessel, »tüchtig, ordentlich! Gebt alles her! Noch! Noch! So ist's gut!«

Onkel Mojsche-Aron steht am Waschtisch, angetan mit einem alten katzenfellgefütterten Kaftan, auf dem Kopf ein wattiertes Käppchen, in den Ohren Watte. Er wäscht die Hände, runzelt das Gesicht, blinzelt mit den Augen und verrichtet fromm sein Gebet.

Ich und Mottl sitzen, als hätten wir den Mund voll Wasser. Wir zittern immer vor Angst und Kälte, wenn wir hierherkommen. Tante Pessel setzt sich neben uns, faltet die Hände auf der Brust und fängt an, uns auszufragen:

»Wie geht es dem Vater?«

»Ganz gut.«

»Wie geht es der Mutter?«

»Ganz gut.«

»Habt ihr Gänse geschlachtet?«

»Ja.«

»Und Schmalz ausgelassen?«

»Ja.«

»Pfannkuchen gebacken?«

»Ja.«

»War Onkel Benja bei euch?«

»Ja.«

»Haben sie Schach gespielt?«

»Ja.«

Und so weiter.

Tante Pessel wischt uns noch einmal die Nasen und wendet sich an den Onkel:

»Mojsche-Aron! Man muß ihnen Chanukageld geben.«

Der Onkel hört nicht. Er reibt sich die Hände und spricht sein Gebet zu Ende.

Tante Pessel versucht, ihn noch einmal zu mahnen.

»Mojsche-Aron! Chanukageld für die Kinder!«

»Wie? Was?« fragt der Onkel, indem er die Watte aus einem Ohr ins andere legt.

»Chanukageld für die Kinder!« schreit ihm Tante Pessel ins Ohr.

»Ei, mein Bauch, mein Bauch!« sagt Onkel Mojsche-Aron und faßt sich mit beiden Händen an den Bauch. »Chanukageld wollt ihr? Wozu brauchen Kinder Geld? Was wollt ihr mit dem Geld anfangen? Ihr werdet's vergeuden! Wie? Wieviel Chanukageld habt ihr vom Vater bekommen?«

»Ich einen Rubel,« sage ich, »er einen halben.«

»Einen Rubel?!! Hm … Die Leute verwöhnen die Kinder … sie verderben allein ihre Kinder! Was machst du mit dem Rubel? Was? Du wechselst ihn? Was? Paß auf, daß du ihn nicht wechselst! Hörst du, was ich dir sage? Willst du ihn wechseln?«

»Ob er ihn wechselt, oder nicht, was geht es dich an?« sagt Tante Pessel. »Gib ihnen, was ihnen zukommt und mögen sie gesund weitergehen.«

Onkel Mojsche-Aron begibt sich in sein Zimmer, schlurrt mit seinen Pantoffeln, sucht in allen Schubladen und Kästchen, kratzt endlich ein paar Münzen heraus und murmelt vor sich hin:

»Hm! Man verwöhnt die Kinder, man verdirbt sie ganz und gar!« Bei diesen Worten steckt er uns ein paar Kupfermünzen in die Hand.

Tante Pessel wischt uns wieder, zum letzten Mal, die Nasen, zieht uns die Mäntel an, bindet uns die großen, warmen Tücher um, und wir gehen fort.

Wir rennen über den weißen, gefrorenen, knarrenden Schnee, zählen die Kupfermünzen des Onkels Mojsche-Aron und können sie unmöglich zusammenzählen. Unsere Hände sind ganz steif, rot und dick geworden. Lauter große, schwere Kupfermünzen, vorsündflutliche Zehnkopekenstücke, glatte Sechser, außer Kurs geratene, grün patinierte Groschen. Es ist schwer, unmöglich, bei dem herrschenden Frost zusammenzurechnen, wieviel Geld Onkel Mojsche-Aron uns gegeben hat.

*

Die zweite Haltestelle machen wir bei Onkel Itzig und Tante Dwora. Unsere Eltern sind mit ihnen seit vielen Jahren böse. Warum sie böse sind, das wissen wir Kinder nicht. Wir wissen nur, daß unser Vater und Onkel Itzig – leibliche Brüder – miteinander nicht sprechen, obgleich sie in derselben Synagoge beten und ihre Plätze nebeneinander haben. Wenn am Feiertag die Zeit des Thoralesens kommt und bei dem Abschnitt »Aliaus« das Ehrenamt aus der Thora vorzulesen, meistbietend versteigert wird, wetteifern die beiden Brüder und treiben den Preis unglaublich in die Höhe, indem sie sich zu überbieten suchen. Dann geht's in der Synagoge gerade so zu, wie auf dem Jahrmarkt. Man unterhält sich, rennt von einem Platz auf den andern, flüstert, drängt sich, lacht und unterstützt das Angebot. Jeder möchte wissen, wer »Schischi«, den sechsten Abschnitt, oder »Matiff«, den letzten Abschnitt, erhält. Alle wünschen, daß der Handel sich solange wie möglich hinziehe. Der Synagogendiener, der rothaarige Mechzi, steht beim Lesepult vor dem erhöhten Platz, den Körper vornübergeneigt. Der Betmantel ist ihm von den Schultern geglitten, das Käppchen sitzt ihm schief auf dem Kopf. Mechzi blickt nach Osten, wo der Vater und Onkel Itzig sitzen und ruft durch die Nase: »Achtzehn Gulden für Schischi, zwanzig Gulden für Schischi, zweiundzwanzig Gulden für Schischi!« Der Vater und Onkel Itzig drehen einander den Rücken zu; beide tun, als wären sie in die Bibel vertieft. Aber sobald der eine einen Preis macht, gibt der andere sofort etwas zu. Die Menge freut sich, sie bietet mit: – Dreißig! Fünfunddreißig! Siebenunddreißig, vierzig!

Der Synagogendiener Mechzi, der durch die Nase spricht, blickt bald den einen, bald den anderen Bruder an.

»Vierzig Gulden für Schischi! Zweiundvierzig Gulden für Schischi! Fünfundvierzig Gulden für Schischi.«

Der Vater und der Onkel geben immer mehr zu. Sie haben den Preis bis zu fünfzig Gulden getrieben. Mechzi, der durch die Nase spricht, erhebt die Hand und will abklopfen.

»Fünfzig Gulden!«

Da hebt Onkel Itzig einen Finger in die Höhe. Die Menge ruft: »Einundfünfzig! Einundfünfzig!« Der Handel geht weiter. Der Preis ist bis über sechzig gestiegen – ein bisher unerhörter Preis! – »Schischi« Der 6. Abschnitt in der »Thora«. fällt Onkel Itzig zu.

Dann wird der Schlußabschnitt verkauft. Der Vater blickt den Synagogendiener an und macht eine Bewegung mit der Hand, als wollte er sagen: »Der Schlußabschnitt-Maftir ist mein.« Mechzi hat nichts dagegen, aber die Menge ist nicht einverstanden.

»Wie? Ohne zu handeln? Dazu ist ja Feiertag! Es gibt kein Monopol für »Maftir!« Maftir: letzter Abschnitt in der »Thora«.

»Zehn Gulden für Maftir! Fünfzehn Gulden für Maftir! Zwanzig Gulden für Maftir! Fünfzig Gulden für Maftir!«

Ein gewagter Sprung! Der Vater sieht sich um, wer den Maftir an sich reißen will. Onkel Itzig?! Der Onkel wollte den Maftir für seinen jüngeren Schwiegersohn kaufen.

Schischi und Maftir! Der ist ja unersättlich! Von einem Bären kann man nicht zwei Felle abziehen! … Der Vater erhebt sich und winkt dem Synagogendiener zu: »Hundert!«

Das Wort »hundert« ertönt wie Donnergroll in der Synagoge. Alle sind wie betäubt. Einen solchen Preis für Maftir haben sie noch nie gehört, seitdem die Synagoge steht.

Nur Mechzi bleibt scheinbar gleichmütig; unerschütterlich ruft er nach seiner Gewohnheit durch die Nase: »Hundert Gulden für Maftir! Hundert Gulden für Maftir! Hundert Gulden …« Er will abklopfen.

Da erhebt sich Onkel Itzig von seinem Platz. Der Vater sieht ihn eigentümlich an, als wollte er sagen: »Hat er den Verstand verloren, oder ist er ein Tor von Geburt? Willst du losschießen? So schieß! …« Doch Onkel Itzig setzt sich, und der Maftir bleibt für uns …

Aber bei einer Familienfeier, sei es bei uns oder beim Onkel, – zum Beispiel bei der Geburt eines Mädchens, bei der Beschneidung eines Sohns, bei Einsegnung oder Verlobung oder wenn es eine Hochzeit gibt, – versöhnen sich die Feinde vorübergehend, besuchen einander, machen die Feste mit und sind vergnügt und froh wie alle anderen.

»Guten Morgen, Onkel Itzig! Guten Morgen, Tante Dwora!« rufen wir, Mottl und ich, gleichzeitig.

Wir werden wie angenehme Gäste empfangen.

»Ihr interessiert euch doch nicht für die Gebete, sondern für die Moneten …«, sagt Onkel Itzig, nimmt sein Portemonnaie heraus und gibt uns Chanukageld: mir ein neues silbernes Zehnkopekenstück und Bruder Mottl ein neues silbernes Zehnkopekenstück.

Nun kommt Onkel Beinus an die Reihe. Wir machen kehrt und begeben uns zu ihm.

*

Wollt ihr wissen, wo die Hölle ist? Dann geht mit uns. Zu welcher Zeit ihr auch kommen mögt, immer herrscht im Hause des Onkel Beinus Lärm und Geschrei und Stuben und Stiegen sind voll von halbnackten, schmutzigen, ungewaschenen, ungekämmten, immer und ewig beinah blutig verprügelten Kindern. Der eine hat den Rock des Vaters angezogen und reitet auf dem Besen, ein anderer trinkt Milch aus der Kanne, ein dritter behütet eifersüchtig einen Heringskopf in den Händen, ein vierter lutscht an einem Bonbon, während zwei Lichtchen aus der Nase in den Mund fließen. Wie kann die Tante nur in dieser Hölle leben? Sie flucht den Kindern, kneift sie, kratzt sie bis aufs Blut. Ohrfeigen sind dort an der Tagesordnung.

»Ersticken sollst du! Verkommen sollst du! Die Teufel sollen dich holen!« Das sagt sich dort so leicht, wie anderswo: »Froher Sabbath!« Erst, wenn Onkel Beinus nach Hause kommt, wird es still. Aber der Onkel ist ein beschäftigter Mann, er sitzt im Laden und ist nur selten zu Hause.

Als wir ankamen, trafen wir Asrilik, den mittleren, auf Mendel, dem älteren, reitend an, während Fzojke und Abraham, die beiden jüngeren, Mendel antrieben, der eine mit dem Ärmel einer wattierten Jacke, der andere mit dem Einband eines Gebetbuchs. Salomon, dessen Alter ich nicht schätzen kann, musizierte auf einem Kamm, und David, ein vierjähriger Bursche, hatte die Schuhe auf die Hände gezogen und schlug den Takt. Sender schleppte eine Katze am Nackenfell. Das Tierchen streckte die Zunge heraus, schloß die Augen, reckte die Füßchen, als ob es klagen wollte: »So wird man hier behandelt! O, Qualen! Qualen!« … Esther, das ältere Mädchen, hatte den Einfall, Haßke, die jüngere Schwester, zu kämmen und ihr einen Zopf zu flechten; aber Haßke, deren krauses Haar schon lange nicht mehr gekämmt worden war, wehrte sich aus aller Kraft und brüllte mit heiserer Stimme.

Dies alles stört aber Tante Ente nicht, ruhig am Tisch zu sitzen, ein Kind an der Brust, das andere auf dem Schoß zu halten, Zichorienkaffee zu trinken und das Haus zu bestellen.

»Sieh einmal, wie du ißt, die Würmer sollen dich fressen! Esther, Rebeckchen, Haßke, wo treibt ihr euch denn herum? Habt ihr euch zum Teufel geschert?! Wisch ihm die Nase, vorwärts! Wasch mir eine Untertasse ab, ich muß ohne Untertasse trinken! Wisch ihm eine aus! Tüchtig! Mein Herzchen, mein Liebling, meine Freude!«

Seit frühem Morgen wird in diesem Hause unaufhörlich gegessen, die Münder schließen sich überhaupt nicht! –

Tante Ente schreit, die Kinder schreien, alle schreien. – Plötzlich erscheint Onkel Beinus, der aus der Synagoge kommt. Mit einemmal wird es still. »Guten Morgen, Onkel Beinus!« brüllen wir, ich und mein Bruder Mottl.

»Was wollt ihr hier, Bengels? Wahrscheinlich kommt ihr nach Chanukageld?« sagt Onkel Beinus und gibt jedem von uns ein silbernes Zehnkopekenstück.

Die Kinder gucken uns an, aus allen Winkeln, wie herumkrappelnde Käfer; sie blinzeln uns zu und schneiden Grimassen: sie wollen uns augenscheinlich zum Lachen bringen. Wir machen, daß wir wieder fortkommen; so schnell wir können.

*

Von hier aus gehen wir zu unserer Schwester Eidel. Eidel hat von Kindheit an die Gewohnheit zu weinen und zu klagen. Sie weint über ihr eigenes und über fremdes Unglück. Als sie die Braut des Scholom Seidel wurde, klagte sie noch mehr. Nicht etwa, weil der Bräutigam ihr nicht gefiel. Sie kannte ihn kaum. Aber eine Braut muß traurig sein. Die Aussteuer wird genäht – Eidel weint. Die Aussteuer wird abgeliefert – Eidel weint … Hochzeitsvorbereitungen werden getroffen, nu?: – Eidel weint … Am Polterabend wird getanzt, Lieder werden gesungen, – sie aber schließt sich in ihr Zimmer ein und vergießt Tränen.

Ich erinnere mich ihrer Hochzeit. Der Musikant Schajka spielte auf der Geige und der Lustigmacher Boruch stieg auf den Tisch, legte die Hände auf den Bauch, senkte den Kopf und sang nach einer schönen, schwermütigen Melodie:

Mein Bräutchen, deine Tränen
      Lasse fließen.
Bittere Zähren sollst, mein Herzchen,
      Du vergießen!
Daß stets Gott, der Allerbarmer,
      Deiner denke!
Friede, Liebe, Glück und Eintracht
      Er euch schenke!
Nicht von Eisen sind wir Menschen,
      Staub sind alle,
Und das Leben, ach, ist bitter
      Wie die Galle!
Gott kann Paradies und Hölle
      Euch bereiten;
Wähle, du mein Herzensbräutchen
      Drum bei Zeiten:
         usw. usw.

Die Frauen, verwandte und fremde, flochten der Braut unterdessen das Haar zu langen Zöpfen und weinten dabei.

Eidel selbst fiel dreimal in Ohnmacht.

Dieses weinerliche Wesen behielt sie auch nach der Hochzeit.

Ihr Mann, Scholom Seidel, ist dagegen ein lustiger Mensch, der gern scherzt und spielt und uns mit besonderer Vorliebe Nasenstüber versetzt. Aus letzterem Grund können wir ihn nicht gut leiden und besuchen ihn selten. Aber man vergißt alles, besonders Nasenstüber – und wie sollte man sich nicht das Chanukageld holen, gar vom eigenen Schwager? »Das ist schlau von euch, daß ihr gekommen seid! Ich habe das Chanukageschenk für euch schon vorbereitet!« So begrüßt uns Scholom Seidel. Er nimmt seinen Geldbeutel aus der Tasche und zählt jedem von uns ein paar neue, glänzende, silberne Münzen auf. Wir nehmen sie und bekommen Nasenstüber. Ich zuerst einen aufs Ohr, und mein Bruder in die Nase, dann ich in die Nase und mein Bruder aufs Ohr. »Hör doch auf, die Kinder zu quälen!« sagt Eidel mit Tränen in den Augen. Sie ruft uns zur Seite und gibt uns Süßigkeiten und noch einmal Chanukageld.

*

»Komm, Mottl, jetzt wollen wir zählen, wieviel Geld wir haben! Zuerst zähle ich meins, dann zählst du deins.«

Ich zähle also: Ein Rubel, drei Zwanzigkopekenstücke, vier Fünfkopekenstücke und fünf Kupfermünzen – wieviel macht das zusammen? Nun, – einen Rubel, drei Zwanzigkopekenstücke, vier Fünfer und fünf Kupfermünzen …«

Mein Bruder Mottl kann nicht erwarten, bis ich zu Ende bin und nimmt seine Kapitalien vor. Er legt die Münzen aus einer Hand in die andere und zählt:

»Ein halber Rubel und ein Zwanziger und noch ein Zwanziger sind zwei Zwanziger und noch ein Zwanziger sind drei Zwanziger und zwei Sechser macht drei Zwanziger und drei Fünfer, und ein Zehner und noch ein Zehner, das macht zwei Zwanziger und drei Sechser, das heißt, drei Sechser und zwei Zehner, ätsch, was sage ich? Ich muß noch einmal von Anfang zählen.«

Wir zählen und zählen und können zu keinem Ende kommen. Besondere Schwierigkeiten machen die Kupfermünzen des Onkels Mojsche-Aron. Wir versuchen, dieses Geld bei der Mutter einzutauschen, dann beim Vater, bei unserer Köchin Breine, – keiner will es nehmen.

»Was sind das für Münzen? Wer hat euch dieses Geld gegeben?«

Wir schämen uns, es zu sagen und schweigen.

»Weißt du,« sagt mein Bruder Mottl zu mir, »laß uns die Münzen in den Ofen werfen oder im Schnee vergraben!«

»Wie schlau du bist!« erwidere ich, »wir wollen es lieber den Armen geben!«

Aber wie zum Trotz sind keine Bettler zu sehen! Wo sind alle Bettler hin, die sonst am Rock zupfen, feilschen, schimpfen, schwören, fluchen – alles um einen Pfennig?

*

So haben wir Chanukagelder gesammelt.


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