Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die erste jüdische Republik

(Nach den getreulichen Schilderungen eines Augenzeugen)

 

Dreizehn auf dem Meer

Die ersten Tage der großen Wasserfahrt hatten wir, Gott sei Dank, überstanden. Jeder von uns überließ dem Meer, was dem Meere zukommt, ohne das geringste zu unterschlagen: der eine gab mehr, der andere gab weniger, dieser kapitulierte früher, jener wieder später. Einer unserer Schiffsbrüder, der uns aber sonst kein Bruder war, der sich als ein Mensch ausgab, der an nichts glaubte und nichts fürchtete, und den wir deshalb den Atheisten nannten, war der einzige, dem das Meer anscheinend nichts angetan hatte. Er aß für uns alle, wandelte stolz auf dem Verdeck und pfiff ein Lied dazu, so lange, bis … er eines Tages verschwand. Zwei volle Tage blieb er fort, – er saß wahrscheinlich unten in seiner Kajüte … Am dritten Tage, als ich ihn wiedersah, schaute er etwas blaß aus. Er spazierte wieder herum und pfiff dazu wie früher, aber er war doch nicht derselbe. Es reizte ihn mehr, mit ausgestreckten Beinen dazuliegen und zu beobachten, wie das Schiff sich von Osten nach Westen und von Norden nach Süden bewegte, wie die Wellen einander jagten, gleich weißen Lämmern, die in endloser Zahl daherkamen, man wußte nicht, woher, und wieder verschwanden, man wußte nicht, wohin.

Wenn man sich eine Weile der Betrachtung hingegeben hat, ermüdet man allmählich. Man erhebt die Augen zum Himmel und erblickt die Sonne. Einsam erscheint sie auf dem weiten Meer ohne Land, ohne Bäume, ohne Häuser, ohne Wege, ohne Eisenbahn und ohne hin- und herrennende Menschen … Man schließt die Augen und zählt, wie viele Tage man schon gefahren ist und wie viele man noch fahren muß, bis man schließlich einschlummert und von roten Blumen träumt, die mit den Köpfen wackeln und mit dem Träumenden eine Quadrille tanzen.

Auf dem Schiff bildeten wir eine Gesellschaft von Bekannten, weitläufig Bekannten, unbekannten Bekannten und ganz Unbekannten. Darunter gab es ausgesprochene Juden und solche, denen man es nicht ansah, ob sie Juden oder Deutsche waren. Einer von den letzteren war ein jüdischer Bankier, ein »Millionär«. Er fuhr erster Klasse, doch er kam zum Zeitvertreib oft zu uns nach der zweiten Klasse herüber. Mit seiner schlichten, einfachen Art, die er jedem einzelnen entgegenbrachte, hatte er unsere ganze Gesellschaft sehr bald bestrickt und bestochen. Er war lebhaft, sprach schön und hörte gern Anekdoten. Wenn man ihn so vor sich sah, den Mann mit dem Kahlkopf, den hochgezogenen Schultern, mit den dicken Lippen und der fleischigen Nase, auf der ein schwarzer Kneifer saß, in seiner einfachen Kleidung, – eine schlichte, schwarze Krawatte auf dem schlichten, weißen Hemd, ohne Gold- und Brillantschmuck, nur mit einer einfachen, dünnen Taschenuhr, die er jeden Augenblick mit zwei Fingern herauszog und an seine kurzsichtigen Augen hielt, – so dachte man sich: »Das soll ein Millionär sein? Unmöglich!«

Aber wenn man ihn sprechen hörte, fließend und rein, fast ohne das »R« auszusprechen, oder wenn man ihn verhalten, mit halbgeschlossenen Augen lachen hörte, wobei seine Zähne zwischen den Lippen hervorschimmerten, so erkannte man, daß dieser Mann in günstigen Verhältnissen lebte, daß er zu jenen gehörte, vor denen die Menschen kriechen, denen das Glück nachjagt und die die Sorge flieht. Das einzige, was sie wünschen, ist, noch mehr geschätzt und geehrt zu werden, als es ohnehin geschieht.

Zu den Schiffspassagieren, die wirklich nicht litten und über das Meer mit seinen stürmischen Wellen spotteten, gehörte einer von unseren unbekannten Bekannten, ein Zwischendeckpassagier, ein gesunder Bursche, – Schlächter, Schuster oder Tischler, in jedem Fall ein Arbeiter mit ein paar Riesenhänden, auf denen der ganze Mensch ruhte. Wenn er redete, hackte er die Worte wie mit einer Axt und schlug mit der Hand dazu, wie mit einem Hammer. Er kletterte oft auf das Verdeck der zweiten Klasse und schlich um unsere jüdische Kolonie herum. Er war glücklich, wenn einer von uns ein Wort zu ihm sagte und freute sich königlich, wenn man eine Frage an ihn richtete.

Auch ein weibliches Wesen befand sich in unserer Gesellschaft auf dem Schiff, eine junge Frau, etwa dreißig Jahre alt, groß und schlank, wie eine Engländerin, redselig wie eine Französin, und schön, wie ein jüdisches Mädchen. Sie kleidete sich fast wie eine Mannsperson, benahm sich wie eine Mannsperson und hielt sich gern in Männergesellschaft auf. Frauen mit Weibernerven konnte sie nicht leiden, wie sie sagte … Niemand wußte, wer sie war und wohin ihr Reiseziel sie führen werde, ebensowenig, wie wir von den übrigen Personen etwas Näheres wußten, nicht einmal ob sie Juden oder Deutsche waren, obgleich wir sie eher für Juden hielten. Ich war sogar überzeugt und wäre jede Wette eingegangen, daß es Juden waren. Ich erkenne die Juden an ihren Augen, an den fragenden Augen, die stets etwas wissen wollen … man weiß nicht, was sie ergründen möchten … vielleicht fragen sie euch: »Habt Ihr uns etwa schon erkannt? …«

Doch darauf kommt es in unserer Darstellung nicht an. Laßt euch nur sagen: auf dem Meer, wie auf dem Land fühlt man sich stets zu seinesgleichen hingezogen.

Sämtliche Passagiere – soviele es ihrer gab – hatten sich nach der Nationalität gruppiert: Engländer, Deutsche, Italiener, Russen, Polen, Türken, Neger, Chinesen – alle bildeten besondere Gruppen.

Auch wir hatten nichts verabredet, waren keinem Vorschlag gefolgt, uns zusammenzufinden, es machte sich ganz von selbst, daß die wenigen Juden still und wortlos eine besondere Kolonie bildeten, sich in einer Ecke des Schiffs niederließen und ein Gespräch begannen. Zuerst sprach man von gleichgültigen Dingen, doch allmählich, ohne es zu merken, ging man zu jenen Dingen über, die jeden einzelnen bedrängten. Wir sprachen über die Juden im allgemeinen, über unsere Vergangenheit, über unsere Lage in verschiedenen Ländern und über die Zukunft des jüdischen Volkes. Zuerst redeten nur die ausgesprochenen Juden, bald aber beteiligten sich am Gespräch auch die anderen, denen man nicht ansah, ob sie Juden oder Deutsche waren. So mancher Tor hielt sie womöglich für Deutsche, weil sie deutsch sprachen. Je länger man sich unterhielt, um so mehr löste sich aller Zweifel, daß sämtliche Mitglieder unserer Gruppe Juden waren, Juden aus verschiedenen Ländern mit verschiedenen Berufen und mit verschiedenen Ansichten. Wir waren unserer dreizehn, dreizehn Juden aus dreizehn verschiedenen Welten, das heißt, jeder von uns bildete eine Welt für sich.

Das Gespräch war, wie ich schon erwähnte, anfangs gleichgültig und kalt, wurde aber allmählich immer wärmer, bis es sich schließlich so erhitzte, daß die übrigen Passagiere, die sich auf dem Verdeck befanden, sich für uns zu interessieren begannen und am Bord stehenblieben. Sie taten, als ob sie ins Meer schauten, aber in Wahrheit hörten sie unserer Diskussion zu.

Die Debatte wuchs zu einem Meinungsstreit, bei uns würde man sagen, zu einer Zänkerei, einem Jahrmarktsgeschrei, einem Krawall. Jeder wollte den anderen überzeugen, daß seine Meinung die allein richtige sei. Um durchzudringen, mußte immer lauter und erregter gesprochen werden, – wer überzeugen wollte, mußte die anderen überschreien. Das ist eine alte Geschichte. Wer lauter schreit, wirkt überzeugender. Wir schrien also alle, fuchtelten mit den Händen und bemerkten gar nicht, daß das Meer unruhig wurde. Kleine, dichte schwarze Wolken waren plötzlich aufgetaucht, breiteten sich, immer länger und breiter werdend, über den Himmel aus und verschlangen die Sonne. Das Meer sang eine traurige Weise, die Wellen stimmten brausend ein. Das Schiff fing an sich zu wiegen und zu schaukeln, es drehte sich hin und her. Und dann – Glocken läuteten, die Musik gab ein Signal, die Matrosen eilten hin und her. Die Maschinen rasselten, die Räder drehten sich knarrend, dröhnende Schläge gegen die Kanten wurden vernehmbar, wie tausend Donnerschläge, und bevor man sich versah, wurde das Krachen so gewaltig, als ob der Boden sich unter uns in unzählige Teile gespalten hätte. Es dauerte gar nicht lange, und sämtliche Passagiere der Schiffe lagen regellos durch-, über- und untereinandergeschmissen. Wir fühlten, wie ein kalter, nasser Strom uns umbrauste, sich über uns ergoß, uns hinunterzog, uns emporhob und uns mit dem Wasser in einen Abgrund schleuderte … Das alles geschah mit so blitzartiger Schnelligkeit, daß wir keine Zeit hatten zu überlegen, was mit uns vorging … Wie verlorene Schafe scharten wir uns in der drohenden Gefahr zusammen, klammerten uns, im Wasser zappelnd, mit den Händen an das Wrack, die Bretter und die kalten, glatten Eisenstangen, an denen wir uns mit aller Kraft festhielten. Noch einen Augenblick, und wir verloren die Zeitrechnung, die Einteilung von Tag und Nacht, die Erinnerung an unsere Namen und an alles, was uns umgab. Wir wußten nur, daß wir getragen, hin- und hergeworfen, hinauf- und hinuntergeschleudert wurden, wir fühlten, wie das Blut in unseren Adern erstarrte, wir spürten, wie unsere Glieder einzeln abstarben. Wir hörten auf zu sehen, zu hören, zu fühlen, – wir ergaben uns – – – wir waren nicht mehr wir …

Alles dies bezieht sich auf meine Mitreisenden. Ihr dürft nicht glauben, daß ich prahle, wenn ich euch erzähle, daß ich mich auf einem Platz behauptete, der mir die Möglichkeit bot zu beobachten, wie jeder meiner Mitreisenden mit den Meereswellen rang und sich um keinen Preis ergeben wollte.

Bei dem Millionär war das sehr begreiflich. Welcher Millionär möchte wohl gern sterben? Höchstens ein solcher, der seiner Millionen, der Ehren und der ganzen Welt so überdrüssig ist, daß er einmal versuchen möchte, wie es einem in der »anderen Welt« gefällt.

Ihr hättet aber den Atheisten, den Ungläubigen, sehen sollen, der während der Fahrt Gott leugnete und sich aus der ganzen Welt nichts machte, dem die Welt nicht mehr galt, als ein Zigarettenstummel. Wie er jetzt mit den Händen arbeitete, seufzte und stöhnte und Gott zu Hilfe rief! …

Die Frau, die männliches Wesen und so große Zurückhaltung zur Schau trug, verlor alle Geistesgegenwart, sank aus einer Ohnmacht in die andere, aus der sie immer wieder erwachte, wenn ihr das Wasser ins Gesicht peitschte. Weib bleibt Weib …

Eine Freude war es, den Passagier des Zwischendecks zu beobachten, den Arbeiter mit den Riesenhänden! Er gab mir mit dem Kopf Zeichen, daß ich mich mit beiden Händen an dem eisernen Haken festhalten möge, den er mit einer Hand umklammerte, während er mit der anderen die bedauernswerte Frau hielt, die sonst vor Schwäche vom Brett hinuntergeglitten und ihr frühzeitiges Grab auf dem Meeresgrund gefunden hätte.

*

Wie lange das dauerte, kann ich nicht sagen. Keinem fiel es ein, auf die Uhr zu sehen. Ich erinnere mich nur, daß es lange Zeit dunkel war, immer finsterer, stockfinster wurde und daß die Zeit sich dehnte, als wäre es ein ganzer Tag, oder Tag und Nacht, oder zwei Tage und zwei Nächte … »Alter Teekessel! Was er uns vorflunkert!« mag so mancher Leser mit verächtlichem Lächeln denken. Ich stelle mir die Gesichter vor, welche die »alles besser Wissenden« schneiden würden, wenn sie vernehmen sollten, was ich als Schiffbrüchiger, auf einem Wrack schwimmend, zu sehen bekam. Sie würden mich einen »Bluffer« nennen, wie man in Amerika zu sagen pflegt, der Wunderdinge erzählt und aufschneidet, – wenn ich von den Fischen, Wasservögeln, dem Meergetier und den Meeresungeheuern, die halb Mensch, halb Fisch sind, berichten wollte … Um mich diesem Urteil nicht auszusetzen, schweige ich lieber von diesen Eindrücken und erzähle, was sich weiter zugetragen hat.

Es ging nämlich alles recht gut, viel besser, als wir erwarten durften. Wir wurden mit Wucht auf eine Sandbank geschleudert, auf der große Steine herumlagen. Unsere durchnäßten, halb erfrorenen Leiber fühlten sich von warmer Luft umrieselt. Ein heller Schein drang in unsere halb verschlossenen Augen, seltsame Hitze rollte in unseren Adern. Unsere Glieder reckten und streckten sich, wir öffneten vorsichtig die Augen, fingen an zu sehen, zu hören und zu begreifen, was mit uns vorging, und konnten, wenn auch mit großer Mühe, ein Wort miteinander tauschen.

»Wo sind wir?« sagte einer.

»Wo sind wir?« versetzte ein anderer.

Wir wußten nicht, wo wir waren, aber fühlten und sahen, daß wir uns auf trocknem Land befanden. Wir richteten uns einzeln auf, standen auf unseren Füßen, schüttelten die Nässe von uns ab und sahen uns nach allen Seiten um, blickten zum Himmel empor und zur Erde hinunter. Und wir sahen oben einen schönen, blauen, klaren Himmel mit der hellen, wärmenden Sonne und unten ein Stück grüner Erde, mit Gras bewachsen und mit Wäldern bedeckt … Vöglein zogen, mit ihren Flügelchen segelnd, über unseren Häuptern zwitschernd, am blauen Horizont dahin, bunte Blumen zierten das Erdenparadies. Eine seltsame Beklommenheit erfüllte unsere Herzen, wir zitterten an Händen und Füßen, wahrscheinlich vor Hunger. Wir fragten einander wieder:

»Wo sind wir? Wo sind wir?«

Allmählich konnten wir unsere Gedanken wieder sammeln … Wir fingen an zu begreifen, daß das Meer uns irgendwo auf ein Land hinausgeworfen hatte, das wir nicht kannten, auf eine Insel, deren Namen uns fremd war. Wir blickten einander an, ich zählte die Geretteten und denkt euch, – wir waren genau dreizehn! Die dreizehn Personen vom Zwischendeck, – der Millionär, der Atheist, die Frau, der Arbeiter – alle waren sie da, die ganze jüdische Kolonie, die sich auf dem Schiff zusammengefunden hatte, kein Fremder darunter!

Unwillkürlich drang ein tiefer Seufzer aus meiner Brust, Tränen quollen in meine Augen, wir hoben die Hände zum Himmel – alle, außer dem Atheisten, der sich zur Seite wandte – und dankten Gott und priesen unsern Retter, den Herrn, still und wortlos, jeder für sich in tiefstem Herzen. Wir sagten:

»Du bist groß, o Gott! Und groß sind deine Werke!«

 

Auf dem Festland

Jeder von euch war sicher einmal ein Kind, jeder von euch hat sicher einmal die schöne Erzählung von Robinson Crusoe gelesen.

Ihr wißt, daß das Meer ihn auf eine Insel warf, daß der unglückliche Robinson so manches Jahr einsam und allein verlebte, – zuerst mit einem Papagei, dem er eine Anzahl Worte beibrachte, später mit einem wilden Menschen, dem er den Namen »Herr Freitag« gab; daß er sich von Nüssen nährte und Kleider von Blättern herstellte. Noch eine Menge anderer Wunder habt ihr wohl in dem Buch »Robinson Crusoe« gelesen, das in der ganzen Welt berühmt und unsterblich geworden ist.

Genau wie Robinson erging es uns, den dreizehn unglücklichen Passagieren des Schiffswracks, das uns auf ein fremdes Festland hinausgeschleudert hatte.

Der Unterschied war nur der, daß er allein war und wir eine Gesellschaft von dreizehn Menschen bildeten, dreizehn Brüder – zwölf Brüder und eine Schwester – von einem Volk, doch aus verschiedenen Ländern, aus verschiedenen Gesellschaftsklassen und mit verschiedenen Weltanschauungen. Dreizehn Robinsons auf einer Insel! Selbstverständlich war unsere Lage bedeutend besser, als die traurige Lage des armen Robinson.

Aber was half es uns, daß wir dreizehn waren, wenn wir keine Ahnung hatten, an welchem Weltende wir uns befanden, – ob auf einer Insel oder in einer Wüste? … Das schöne Gras, die Bäume und die Vöglein, die wir sahen, waren uns ein Zeichen, daß wir uns nicht in einer Wüste befanden, daß hier vielleicht auch Menschen lebten. Aber was für Menschen? Vielleicht wilde, Gott behüte, eine Hottentottensekte, deren Angehörige einander gegenseitig fraßen?

Da gedachte ich des Buches, das ich auf dem Schiff vor der Katastrophe gelesen habe. Es war zufällig ein jüdischer, im Jargon geschriebener Roman, der in Amerika in der siebenten Auflage erschienen war (laut Angabe auf dem Titelblatt). Der Roman hatte einen ungewöhnlich langen Titel: »Kapitän Haribaba oder sie fahren, Diamanten zu suchen und geraten zu den Menschenfressern, auf der Insel Kukurusa, die von dem Hottentottenvolke bewohnt ist.«

Das Buch erregte in der ganzen Welt solches Aufsehen – wie es in der Vorrede hieß –, daß das Papier in den Fabriken und die Typen in der Druckerei nicht ausreichten, und Setzer aus Europa auf Sonderschiffen herbeigeschafft werden mußten. Schade, daß ich den Roman nicht zu Ende gelesen habe! Der Sturm, der sich auf dem Meer erhob, unterbrach mich mitten drin, gerade an der Stelle, an der geschildert wird, wie das Schiff auf dem großen Ozean umherirrte und die Lebensmittel zu Ende gingen, wie gewürfelt wurde, welcher der Matrosen in den Kessel geworfen werden sollte, um aus ihm eine Suppe für die übrigen Matrosen zu kochen, bis schließlich kein einziger Matrose übrigblieb, nur der Kapitän Haribaba, der nach einer Insel mit Namen Kukurusa schwamm, wo die wilden Menschen, die Hottentotten, lebten.

»Das kann ja schön werden, wenn wir unter die Wilden der Hottentotten geraten sind und sie Lust bekommen, aus uns einen Braten oder Koteletts zuzubereiten, mit Frauenmilch angerichtet! Dann wäre es tausendmal besser gewesen, wenn wir auf dem Meeresgrund ertrunken oder von einem Fisch verschlungen worden wären.« Dieser Gedanke schwirrte uns allen dreizehn im Gehirn, denn keiner von uns hatte Lust, den Wilden der Hottentottenkaste als Braten zu dienen. Eher hätte jeder von uns nicht übel Lust gehabt, einen wilden Menschen zu verschlingen, so hungrig waren wir und so erschöpft von der unfreiwilligen Reise auf dem losgerissenen Brett, die drei Tage und drei Nächte gedauert hatte.

Wie ein Knochen im Halse würgte uns die Frage:

»Was werden wir essen?«

Wir blickten einander mit solchen Augen an, als wollten wir sagen:

»Wir wollen Knoten ziehen, wer zuerst aufgegessen werden soll!«

»Was hat es für einen Zweck, hier herumzustehen? Man muß irgendwoher Essen beschaffen,« sagte einer der dreizehn, und zwar der Millionär, der weniger als die übrigen Hunger vertragen konnte.

»Essen beschaffen! Essen beschaffen!« rief ein anderer wütend. »Das ist leicht gesagt. Aber wie? Woher? Seht ihr denn nicht, daß wir in eine Wüste geraten sind?«

»Woher wißt ihr das?« fragte ein dritter erregt den zweiten.

»Der große Gott, der uns aus der stürmischen Flut gerettet hat, wird uns vielleicht auch Nahrung finden lassen!« sprach der einzige fromme Jude, der Orthodoxe, der unter uns war und dem die Passagiere böse Blicke zugeworfen hatten. Ein langer Streit entspann sich darüber, wo man das Essen herschaffen könnte, bis einer von uns – ich will nicht sagen, daß ich es war, damit ihr mich nicht für einen Prahler haltet – auf die Idee kam, daß wir alle dreizehn uns nach verschiedenen Richtungen begeben, dreizehn verschiedene Wege einschlagen und, sei es auf dem Feld, sei es im Wald, sei es auf den Bergen, suchen sollten, ob wir nicht etwas Eßbares finden.

Der Vorschlag war fast schon angenommen, als einer Widerspruch erhob:

»Was wird sein, wenn wir uns verirren? So sind wir wenigstens alle dreizehn zusammen! Dreizehn ist nicht einer!«

Das war ein wichtiger Einwand, – alle gaben zu, daß dreizehn nicht einer waren! Aber nun handelte es sich darum, wohin wir uns zu dreizehn begeben sollten. Nach rechts oder links? Ins Feld oder in den Wald? Diese Frage rief einen neuen Streit hervor, der minutenlang dauerte, und die Meinungen gingen hier auf dem Festland ebenso auseinander wie einst auf dem Meer. Wie viele Menschen, so viele Meinungen! Dreizehn Menschen, dreizehn Meinungen! Einer wies darauf hin, daß im Wald irgendwelche Früchte wuchsen, gleichviel welcher Art. Doch ein anderer überschrie ihn, daß er zum ersten Mal höre, daß in einem Wald Früchte wachsen sollten. Der dritte mischte sich hinein und behauptete, daß es in der Welt verschiedene Wälder gebe. Wenn es dort auch keine Äpfel und Birnen geben möge, so sei es mit den Nüssen nicht ganz ausgeschlossen. Für Nüsse garantiere er.

»Für Nüsse garantiert ihr? Womit garantiert ihr denn?«

»Womit ihr wollt!«

»Garantiert ihr auch für wilde Tiere?«

»Was? Wilde Tiere? Wilde Menschen sind schlimmer!«

»Viel schlimmer!«

So entspann sich ein langer, erbitterter Kampf darüber, ob man sich in den Wald begeben sollte, um Früchte zu suchen. Gott weiß, wie lange sich der Streit hingezogen hätte, wenn nicht plötzlich der Passagier des Zwischendecks, der einfache Mann, der Arbeiter, hervorgetreten wäre, der folgendes sagte:

»Meine Herren! Wenn ihr es mir nicht übelnehmt, will ich euch etwas sagen. Ich bin zwar nur ein einfacher Mann, ein Arbeiter, und verstehe nichts von gelehrten Sachen … Was nützt es aber, über Dinge zu streiten, die man nicht kennt? Es ist möglich, daß der Wald reich an Früchten ist, es ist aber auch möglich, daß es dort gar keine Früchte gibt. Wenn ihr erlaubt, springe ich nach dem Wald hinüber und werde euch sagen, ob dort Früchte wachsen, oder ich werde sie pflücken und herbringen, und wir werden davon essen.«

Das war so einfach und einleuchtend, daß niemand Widerspruch erhob. Wir setzten uns auf die Steine, der Sonne gegenüber, wärmten uns, ließen unsere Kleider trocknen und jeder überließ sich seinen eigenen Gedanken. Keiner sprach. Nicht, weil man nicht wagte, die heilige Stille zu stören, auch nicht, weil man nichts zu sagen hatte, sondern aus einem sehr natürlichen Grund: Wir hatten, wie ich bereits erwähnte, einen Wolfshunger, und wenn ein Mensch das Verlangen hat zu essen, redet er nicht gern. Wenn die anderen ebenso empfanden wie ich, so fürchte ich, daß man sich gegenseitig nicht in die Augen sehen mochte, weil man imstande gewesen wäre, einander lebendig zu verschlingen, – genau so, als würde man der Hottentottenklasse angehören … Ja, wenn ein Mensch hungrig ist, dann ist er wie ein Tier. Ich konnte es feststellen, als ich sah, wie unsere Kolonie sich auf den Boten, den einfachen Mann, stürzte, als er mit vollen Rockschößen aus dem Wald zurückkehrte. Gott weiß, wie es ihm ergangen wäre, wenn er mit leeren Händen zurückgekehrt wäre. Der größte Gentleman, der Aristokrat, der Millionär, wäre der erste gewesen, der sich auf ihn gestürzt und ihn bei der Kehle gepackt hätte. Aber zum Glück brachte unser Sendling so süße, frische, wohlschmeckende Bananen und so fette, kernige Nüsse, daß wir wiederum wie die wilden Hottentotten ihm entgegenstürzten und einander die guten Sachen aus den Händen rissen. Die Bananen und Nüsse schmeckten so würzig, daß man nicht aufhörte, sie zu preisen. Jeder fand einen anderen Geschmack heraus und sagte seine Meinung. Je mehr der Hunger gestillt wurde, um so redseliger wurde man, die Gesichter begannen zu leuchten, ein Lächeln erschien um die Lippen – wir wurden andere Menschen!

Einer bemerkte, daß Bananen die beste Frucht der Welt seien, ein anderer sagte, daß man von Bananen das ganze Leben lang leben könne, ein dritter wies gemäß Darwin nach, daß die ersten Menschen der Urzeit sich nur von Früchten genährt haben, wahrscheinlich von Bananen, weil sie mehr sättigten, als alle anderen Früchte. Ein vierter suchte zu beweisen, daß Darwin das Gegenteil behauptete. Der fünfte, der sich hineinmischte, vertrat eine entgegengesetzte Meinung … »Wozu hätten die Menschen so gute Zähne, wenn sie sich nur von Bananen ernährt hätten?« – meinte er … Endlich erschien der Orthodoxe, der einzige fromme Jude, der für uns alle den Segensspruch über die Früchte sagte und uns klein machte, uns gleichsam die Flügel abschnitt.

»Um was zankt ihr euch? Habt ihr denn vergessen, was in der Thora geschrieben steht? Gott hat Adam angesagt: »Von allen Bäumen im Garten sollst du essen, nur von zwei Bäumen sollst du nicht essen. Gegen diese Deutung erhob sich selbstverständlich der Atheist; so entspann sich zwischen den beiden ein kleiner Streit, aber nicht von bösartiger Natur.

Bekanntlich ist der Mensch nach dem Essen viel besserer Stimmung, als wenn er einen leeren Magen hat, besonders aber, wenn man so lange Faststunden hinter sich hat, wie wir auf dem Meer. Die süßen Bananen und die fetten, wohlschmeckenden Nüsse hatten uns so gesättigt, daß wir in unseren Gliedern einen Balsam, in den Herzen eine Erquickung empfanden und wieder hell dreinschauten. Wir empfanden das Bedürfnis nach Ruhe, uns in dem weichen, grünen Gras auszustrecken, das Antlitz nach oben gekehrt, so daß wir den tiefblauen Himmel sehen konnten. Wir lagerten uns also alle dreizehn in das grüne, weiche Gras und schauten zum Himmel empor. Doch nicht lange betrachteten wir den tiefblauen Himmel, bald fielen uns die Augen zu und wir schlummerten ein. Es war kein kurzer Schlummer, denn als wir erwachten, hatte die Sonne bereits einen großen Teil ihrer Bahn zurückgelegt. Das erste, wonach wir verlangten, war Wasser!

»Wie könnte man wohl etwas Trinkwasser beschaffen?«

Man erging sich, wie gewöhnlich, in Vermutungen und begann darüber zu streiten, wo es wohl Wasser gebe.

Mehrere behaupteten, daß sicher genug Wasser vorhanden sein werde. Wo Berge seien, müsse auch Wasser sein. Andere meinten, das sei noch kein Beweis: es könne Berge geben, ohne daß unbedingt Wasser vorhanden sein müsse. Jeder äußerte seine Meinung. Dreizehn Menschen – dreizehn Meinungen. Der dreizehnte war der einfache Mann, der Arbeiter, der immer gern der letzte war. Er entschuldigte sich, wie gewöhnlich, daß er, ein einfacher Mann, es wage, dreinzureden, wenn so vornehme Leute, wie wir, disputierten. Aber wenn wir es ihm nicht übel nähmen, wollte er seine Meinung sagen, nämlich, daß beides möglich wäre: es gebe vielleicht viel Wasser oder es gebe vielleicht auch keins. Wenn wir ihm gestatteten, wollte er nach jenem Berg hinüberspringen und sehen, ob dort Wasser vorhanden sei. Der Vorschlag wurde selbstverständlich fast einstimmig angenommen; es dauerte nicht lange, und unser Bote kehrte mit strahlendem Gesicht und mit der guten Nachricht zurück, daß am Fuß des Bergs, gar nicht weit von hier, ein Bach fließe mit Wasser von himmlischem Wohlgeschmack! Schade, daß er keinen Eimer habe, um das Wasser zu holen – er fürchte, daß wir uns alle dreizehn selbst hinbemühen müßten.

Aber wir waren gern bereit, uns dieser Mühe zu unterziehen. Wir näherten uns dem fließenden, kristallreinen Wasser, das sich langsam den Berg hinunterschlängelte. Wir knieten nieder, schlürften von dem Wasser und stillten unseren Durst nach der Art unserer Ahnen. Wir empfanden wieder Balsam in unseren Gliedern, Erquickung im Herzen und schauten wieder zuversichtlich drein … Wir ließen uns auf dem Rasen, am fließenden Bach nieder und blickten auf die schöne, feurige Sonnenkugel, die allmählich in dem dichten Urwald verschwand. Der warme Tag wich dem kühlen Abend, der bereits über unseren Häuptern schwebte, uns mit banger Angst erfüllte und neue Sorge in uns hervorrief.

»Wo werden wir unser Nachtlager aufschlagen?«

Die Meinungen teilten sich, wie immer: dreizehn Menschen – dreizehn Meinungen. Einer schlug vor, im Wald zu schlafen. Doch der andere warnte vor den Tieren. Jemand riet, den Berg hinaufzusteigen und dort ein Nachtlager zu suchen. Doch ein anderer meinte, daß wir nichts als Steine finden würden. Noch ein anderer sagte, es wäre gut, wenn wir Steine fänden, – wir würden dann ein Versteck bauen, in dem wir uns vor dem Regen schützen könnten. Während wir so sprachen, gingen wir immer weiter, bis wir uns einer großen Höhle im Berg näherten, einer Art Naturgrab … Oder vielleicht hatten es Menschenhände vor vielen tausend Jahren gegraben und hinterlassen. Auch darüber stritten wir. Dreizehn Menschen – dreizehn Meinungen. Aber daß wir hier ruhen, die Nächte hier verbringen sollten – damit waren alle einverstanden. Es blieb uns ja auch kein anderer Ausweg. Übrigens müßt ihr wissen, daß es nicht so schlimm war, wie ihr es euch vorstellt. Zwar hatten wir weder Kissen, noch Federbetten und Steppdecken, aber jeder beeilte sich, den Platz, den er für sich belegte, mit frisch gepflücktem Gras auszubetten. Für die Frau wählten wir einen abseits gelegenen Platz, errichteten aus herbeigeschleppten Steinen eine Art Alkoven, betteten das Lager mit Gras aus und verhingen es mit Blättern. Die ganze Arbeit verrichtete der einfache Mann, der Arbeiter. Wir hatten es ihm nicht etwa befohlen, – Gott behüte, nein, – er verrichtete es von selbst, bat, es ihm nicht übelzunehmen, und gab uns zu verstehen, daß diese Arbeit zu ihm gehöre, weil er ein geborener Arbeiter war, gewöhnt zu arbeiten, nicht müßig dazusitzen. Trotzdem es ein wenig peinlich war, ihm die ganze Arbeit zu überlassen, erhob niemand Widerspruch. Auch wir blieben nicht müßig. Wir erörterten die überaus wichtige Frage, wo wir eigentlich seien?

Kann es etwas Schlimmeres auf der Welt geben, als nicht zu wissen, wo man sich befindet? … Merkwürdig! Obgleich viele intelligente, gebildete Menschen, ja, Studierte, Philosophen und Gelehrte unter uns waren, fand sich kein einziger, der die geographischen Namen beherrschte und die Inseln, die sich auf dem Meer befanden, auswendig hätte hersagen können. Einer, der die besten geographischen Kenntnisse hatte, schüttete allerhand Namen, wie aus dem Ärmel: »Sizilien, Sardinien, Sumatra, Java, Borneo, Celebes, Kuba, Jamaica, Madagascar, New-Foundland, Queenland, Rionegro, Rio Madeira, Hindustan, Indopersien, Uruguay, Paraguay …«

»Halt! Halt!« unterbrach ihn endlich einer. »Seht nur, wohin er in der Geographie geraten ist! Von Inseln auf Berge und Flüsse! …« »Wißt ihr, was?« rief wieder ein anderer, »wir wollen uns für unsere Insel einer speziellen Namen ausdenken! Wie wir sie taufen werden, so soll sie heißen.«

Dieser Vorschlag gefiel allgemein. Man überlegte einen passenden Namen. Jeder schlug einen Namen vor. Dreizehn Menschen – dreizehn Namen. Der Millionär wünschte, daß die Insel »Paris« nach der Stadt Paris heißen solle. Der Orthodoxe, der soeben das Abendgebet beendet hatte, schlug als Namen »Gotteshilfe« vor. Der Atheist lachte ihn aus, ihm wäre es gleich, wie die Insel hieße, er wäre auch mit dem Namen »Teufelsinsel« einverstanden. Die Frau schwieg nicht still und schlug »Eva« nach der Mutter Eva als Name vor. Aber da sie die einzige Frau war, wollte ihr keiner beistimmen. Einer rief, die Insel müsse »Zion« heißen, – da fragte ein anderer:

»Warum denn ›Zion‹? Warum nicht Argentinien, Brasilien, Uganda oder nach irgendeinem anderen Land?«

»Wenn ihr auf mich hören wolltet, würdet ihr der Insel den Namen ›Karl Marx‹ geben,« rief jemand, zweifellos der Sozialist.

»Warum ›Karl Marx‹?« entgegnete ein anderer. »Warum nicht Reb Mosses? Mahomet? Spinoza, Byron, Heine, Puschkin, Buckle, Spencer?«

Aus dieser Debatte ging hervor, daß unter uns dreizehn Menschen genau dreizehn verschiedene Elemente vorhanden waren, die ich der Reihe nach aufzähle:

Ein Mensch: Zionist.

Ein Mensch: Territorialist.

Ein Mensch: Kapitalist.

Ein Mensch: Orthodoxe.

Ein Mensch: Atheist.

Ein Mensch: Spezialist.

Ein Mensch: Nationalist.

Ein Mensch: Assimilant.

Ein Mensch: Idealist.

Ein Mensch: Materialist.

Ein Mensch: Arbeiter.

Ein Mensch: Weib.

Ein Mensch: Schriftsteller – (der bin ich, der Verfasser dieser Erzählung).

Im ganzen: Dreizehn Menschen – dreizehn Elemente.

Plötzlich kam mir ein Gedanke. (Die besten Gedanken kommen immer plötzlich!) – Ich erhob mich von meinem Platz und bat um das Wort –: »Meine Damen und Herren! Erlaubt auch mir, meine Meinung über den Namen auszudrücken, den wir unserer Insel geben sollten. Da jeder von uns auf seinen Namen besteht und dem andern nicht nachgeben will und wohl auch recht hat, an seiner Meinung festzuhalten und sich fragt: Warum soll ich dem andern nachgeben? Warum soll jener nicht mir nachgeben? – – – so möchte ich euch vorschlagen: Da wir dreizehn Personen mit dreizehn verschiedenen Meinungen sind, sollten wir unsere Insel vorläufig »Die Dreizehninsel« nennen!«

Ich muß bemerken, daß kein Redner in der Welt, weder in Europa, noch in Amerika, nicht Bebel und auch nicht Jaurès solchen Beifall hatte, wie ich an jenem Tage. Ich sage es nicht, um mich zu rühmen. Ich will den Leser nur überzeugen, daß je kürzer die Rede ist, um so sicherer der Erfolg!

Hiermit schließe ich dieses Kapitel.

 

Dreizehn Robinsons auf der Insel

Als ich ein kleiner Junge war, las ich mit meinem Lehrer die schöne Erzählung von dem weltberühmten Crusoe, von der ich schon vorhin sprach. Ich unterbrach mich jeden Augenblick und stellte eine neue Frage, wie zum Beispiel: »Was wäre gewesen, wenn Robinson keine Nüsse zum Essen gefunden hätte? Oder wenn er aus dem Stein kein Feuer hervorgebracht hätte? Wenn kein Papagei zu ihm herbeigeflogen wäre? Wenn er nicht dem wilden Menschen begegnet wäre, dem er den Namen ›Freitag‹ gegeben hat?« Wahrscheinlich langweilten diese Fragen den Lehrer dermaßen, daß er die Geduld verlor, sich beim Kopf faßte und sich das Haar auszureißen begann. Mein Lehrer war wohl etwas nervös …

»Wie kann ein Mensch so blöde sein und nicht verstehen, daß, wenn sich alle diese Dinge nicht ereignet hätten, das Buch ›Robinson Crusoe‹ ungeschrieben geblieben wäre!«

Ich hoffe, daß meine Leser nach dieser Vorrede die Geschichten ruhig mitanhören werden, die ich ihnen hier erzähle, ohne an mich Fragen zu stellen. Ich will annehmen, daß niemand daran zweifelt, daß nichts von allem, was ich erzähle, auch nur eine Spur übertrieben ist. Der Vergleich mit Robinson Crusoe darf überhaupt nicht aufkommen. Robinson war ganz allein, er konnte sich also das krauseste Zeug ausdenken. Wer sollte ihm die Wahrheit nachweisen? Daß ich mir etwas ausdenke, ist unmöglich, weil ich nicht allein bin. Wir sind ja Gott sei Dank dreizehn, dreizehn Robinsons auf einer Insel, dreizehn verschiedene Elemente und Charaktere, – alles Brüder eines Volkes, alle von dem gleichen Schicksal getroffen, alles Passagiere desselben Schiffes, das Schiffbruch gelitten hatte, und alle – auf dieselbe Insel hinausgeworfen, von der wir nicht wußten, was es für eine Insel war und die wir »Die Dreizehninsel« getauft hatten.

Ich kann euch bei allem, was ihr wollt, versichern, daß wir noch nie eine Nacht so gut verbracht hatten wie die erste Nacht als Robinsons auf der »Dreizehninsel«. Nachdem wir uns mit den süßen Bananen und den fetten Nüssen gesättigt und unseren Durst mit dem wohlschmeckenden Quellwasser des klaren, kristallenen Bachs gestillt hatten, der den Berg zum Wald hinunterrieselte, legte sich jeder von uns auf seinen Stein nieder, polsterte ihn mit frischem, grünem Gras auf und versank in jenen süßen Schlaf, der den Menschen nach langer Erschöpfung, nach heftigem Ringen mit dem Tode, nach langem Hungern und Dürsten und sonstigen Leiden und Plagen überfällt. Solch ein Schlaf wird nicht durch böse Träume verscheucht, er ist ruhig und währt bis zum Morgen, bis der lächelnde Sonnenschein eines Sommermorgens hereinbricht. Man öffnet langsam die Augen, streckt die ausgeruhten Glieder … der gestrige Tag zieht mit all seinen Geschehnissen wie ein Panorama vor unsern Augen vorüber … man fragt sich:

»Wo bin ich?«

Jeder von uns dreizehn Robinsons erhob sich leise von seinem Lager, zog langsam die noch nassen Kleider an, kroch einzeln aus der Höhle heraus, in Gottes helle Welt und begab sich zu dem rieselnden Bach, beugte sich, wusch Hände und Gesicht in dem frischen glitzernden Kristallwasser und betrachtete staunend die schöne Natur, den blühenden Wald, die prächtigen Berge, die soeben aufgegangene Sonne, die mich an eine wundervoll heranwachsende Prinzessin in einem schönen Märchen erinnerte. Wir stellten uns mit dem Gesicht zum Wald, um unserer einzigen Dame die Möglichkeit zu geben, sich zu waschen und anzukleiden, wie es sich für eine Frau ziemt. Dann erst begrüßten wir einander mit einem freundlichen »Guten Morgen« und erkundigten uns gegenseitig, wie wir geschlafen. Unwillkürlich entschlüpfte jedem dieselbe Frage.

»Und was soll weiter geschehen?«

Über die wichtigste Frage des Essens und Trinkens brauchten wir uns keine Gedanken mehr zu machen: Wir hatten süße Bananen und fette Nüsse an den Bäumen und frisches Wasser in dem kristallenen, den Berg herabplätschernden Bach. Wir sollten also augenscheinlich nicht vor Hunger und Durst verkommen. Aber die Menschen haben Gewohnheiten, von denen sie schwer lassen können. Des Morgens ein Glas Tee oder Kaffee mit Milch zum Frühstück und eine Zigarre dazu – mag vielleicht unwichtig erscheinen, aber es ist doch angenehm, man möchte es nicht entbehren … Und bekanntlich begehrt man am stärksten, was man nicht hat! …

Ich erinnere mich nicht, wer zuerst Tee und Milch erwähnte, aber kaum hatte einer diese Frage berührt, als lang und breit darüber disputiert wurde … Einer wünschte Tee mit Milch, ein anderer Kaffee mit Milch, ein dritter wollte sich ohne Milch begnügen, wenn es nur Tee gäbe, ein vierter überschrie ihn, Milch ohne Tee wäre besser als Tee ohne Milch … der fünfte gab ihm recht, da man zum Tee Zucker brauchte, während man Milch ohne Zucker trinken könne.

Während dieser Unterhaltung gingen wir langsam den Berg hinauf, über das herrliche Gras, atmeten den belebenden Duft der roten, gelb betupften Blumen ein, die zu unseren Füßen sprossen und bewunderten die göttliche Natur des reich gesegneten Stückchens Erde, auf das uns das Meer geworfen hatte …

Als wir alle dreizehn plaudernd, streitend und mit den Händen fuchtelnd dahingingen, erblickten wir aus der Ferne, wie etwas Lebendiges, weiß Schimmerndes hin- und herwogte. Wir blieben stehen und suchten festzustellen, was es wohl sein könne, ob Menschen, kleine Kinder oder Zwerge, oder noch winzigere Geschöpfe, Gnomen genannt. Ich erinnerte mich des Romans »Kapitän Haribaba usw. usw.«, den ich auf dem Schiff gelesen und nicht beendet hatte.

So weit ich mich erinnerte, waren die Menschen der Hottentottensekte (die in dem Roman vorkam und von der ich euch ja schon oben erzählte, – also die waren) nicht so winzig, auch waren sie nicht weiß, sondern schwarz. Selbstverständlich äußerte jeder von uns seine Meinung über die weißen Geschöpfe. Dreizehn Menschen – dreizehn Meinungen. Aber da wir und die weißen Geschöpfe einander entgegenkamen, erblickten wir sehr bald eine Herde weißer Ziegen, gewöhnlicher Ziegen mit Bärten und Hörnern, mit kleinen, knarrenden Füßen und blöden Gesichtern. Daß die Ziegen nicht wild waren, konnte man daraus schließen, daß sie nicht flohen, sondern ganz nahe auf uns zukamen, als wären wir alte Bekannte, ihre blöden Mäuler zu uns ausstreckten, witternd und ihre Bärte schüttelnd, als wollten sie etwas von uns haben. Närrische Ziegen! Eher konnten sie uns etwas geben, als wir ihnen! …

»Wie meint ihr? Könnte man sie melken?« fragte einer.

»Wo sind eure Augen?« entgegnete ein zweiter.

»Wenn wir wenigstens ein Gefäß hätten,« bemerkte ein dritter.

»Wenn ihr erlaubt,« versetzte der einfache Mann, der Arbeiter, »werde ich ein paar Ziegen melken. Warum staunt ihr so? Ich hatte in meiner Heimat eine Ziege, die ich allein zu melken pflegte.«

»In was wollt ihr denn melken?«

»Jedem in seinen Hut!«

Im ersten Augenblick rief der Vorschlag ein solches Gelächter hervor, als hätte der Arbeiter verlangt, daß wir mit einem Fuß den Himmel berühren sollten. Aber bald beruhigte sich das Gelächter. Der Wunsch nach etwas frischer, warmer Milch besiegte in uns alle Bedenken, jeder hielt dem Arbeiter – oder »Proletarier«, wie wir ihn nannten, sein Hütchen hin. Den Anfang machte der Millionär, der sich unter uns befand. Er hielt seinen Hut mit solcher Miene, etwa wie ein König, oder mindestens ein Minister den Becher in Karlsbad oder Marienbad bei dem Sprudel, um das bittersalzige Wasser hineinlaufen zu lassen … Aber was war zu tun? … Der Arzt hatte verordnet, daß er es auf nüchternen Magen zu sich nehme … Nach dem Millionär kamen wir anderen, auch die Dame mit ihrem Hut. – … Jeder sagte ein anderes Wort, jeder griff nach der Milch und erquickte sich an den wenigen Tropfen. Als der Fromme, der »Orthodoxe«, an die Reihe kam, ereignete sich folgendes. Zuerst zögerte er, ob er solche Milch trinken dürfe. Nachdem er sich aber gesagt hatte, daß die Mehrheit stärker war und daß er gegen die Menge nichts ausrichten würde, und sich der Wahrheit erinnerte, daß man sich der Menge fügen soll, machte er sich nur noch Sorgen darüber, wie er trinken würde, ohne den Kopf zu bedecken? … Ein gelehrter Jude findet aber immer einen Ausweg: Er deckte seinen Kopf mit dem Schoß seines Kaftans zu und hielt seinen Hut dem Proletarier hin, als ob er sagen wollte: »Was soll man tun? Es ist eine Strafe …« Wie gewöhnlich lachte der Ungläubige, der Atheist, den »Orthodoxen« aus, er nannte ihn einen Heuchler, einen Hypokriten. Aber der »Orthodoxe« hörte nicht auf ihn, sagte seinen Segensspruch, schlürfte mit frommer Miene die Milch und war, wie man in Amerika zu sagen pflegt: »all right«.

Nachdem sich alle mit Milch erfrischt hatten, setzte sich der Arbeiter auf die Erde, unter eine der Ziegen und begann einfach zu saugen. Das konnten wir nicht mitansehen, wir wandten uns ab, setzten uns auf das herrliche Gras und begannen ein Gespräch über die Insel, auf der wir uns befanden.

Aus der Tatsache, daß die Ziegen keine Angst vor uns hatten und sich melken ließen, wollte einer nachweisen, daß die Insel von Menschen bewohnt sein müsse. Ein zweiter widersprach ihm und wies das Gegenteil nach, nämlich, daß die Ziegen noch nie einen Menschen vor Augen gesehen hätten und sich deshalb melken ließen.

»Wie blöde sie uns anschauen! Ist das kein Beweis?!«

Wir waren alle in guter Stimmung, viel froher, als der elende Robinson. Wir hatten süße Bananen und fette Nüsse zu essen, hatten fließendes Wasser und Ziegenmilch zu trinken und brauchten nicht zu arbeiten, wie Crusoe auf seiner Insel, da wir unseren Arbeiter, den »Proletarier«, hatten, der für die anderen arbeitete, keinen etwas anrühren ließ und noch obendrein bat, es ihm nicht übel zu nehmen. Des Morgens molk er die Ziegen. Die blöden Tiere gewöhnten sich bald so sehr an uns, daß sie nicht erst warteten, bis wir zu ihnen kamen, sondern sich von selbst einstellten und sich ungeduldig gebärdeten, damit man sie melke … Dann ging er in den Wald und pflückte Bananen und Nüsse, die er für den ganzen Tag heranschleppte. Gegen Abend pflückte er frisches Gras und polsterte die Steine in der Höhle damit aus. Schließlich vollbrachte er ein Kunstwerk: er klopfte so lange mit einem Stein gegen einen anderen, bis er ein Gefäß, eine Art Topf herstellte, in die die Milch hineingemolken werden konnte. Als er den ersten fertiggemacht hatte, begann er einen zweiten für Wasser. Er wurde mit einem Wort unsere rechte Hand. Jeder erteilte ihm Befehle, die er froh und glücklich entgegennahm, weil er – wie er sagte –, gewöhnt war, zu arbeiten …

Ja, alles ist Gewohnheit. Wir, die dreizehn Robinsons auf der Insel, gewöhnten uns zum Beispiel, wenn wir aufstanden und aus der Höhle krochen, Wasser und Milch, Bananen und Nüsse vorzufinden. Der Arbeiter legte alles zurecht. Sobald etwas fehlte, mußte er es beschaffen; fiel es nicht zu unserer Zufriedenheit aus, dann schalt man ihn und ermahnte ihn grob, es ein andermal besser zu machen. Er hörte unsere Ermahnungen schweigend an. Merkwürdig! Obwohl er ein ganz einfacher Mann war, verstand er, daß wir etwas anderes waren, als er. Wir waren nicht für grobe Arbeit geschaffen, unsere Sache war geistige Arbeit, Kopf-, Gehirnarbeit. Wir wanderten des Tags über die Insel, studierten das Land, forschten, ob nicht irgendwo Menschen wohnten, kundschafteten aus, wo wir uns befanden, an welchem Meer und in der Nähe welcher Länder … Wir hofften vielleicht einen Wohnsitz zu finden und endlich erlöst zu werden, wenn uns ein vorüberfahrendes Schiff aufnehmen, oder uns irgend ein Wunder retten würde ..

So verging ein Tag nach dem andern, eine Woche nach der anderen, ein Monat nach dem andern – aber wir sahen keine Hilfe, wir begegneten keinem Menschen!

Wir gaben endlich alle Hoffnung auf und beschlossen, uns für immer hier niederzulassen. Wir wollten ein regelrechtes Leben führen, eine Wohnstätte gründen, die Kultur des Landes heben, Ordnung einführen, die Arbeit unter uns verteilen, Gesetze und Rechte ausarbeiten, nach denen der Besitz verteilt werden sollte, mit einem Wort – ein Königreich bilden, einen Staat, eine Konstitution oder gar eine Republik.

Wir begannen die Arbeit mit Lust und legten den ersten Stein zu unserer Republik, zu der ersten jüdischen Republik der Welt. Es versteht sich, daß dies nicht so schnell geschah, wie es sich erzählt. Wir bitten um etwas Geduld bis zu den weiteren Kapiteln.

 

Dreizehn Kolonien

Menschen der Wissenschaft, die sich mit dem Leben der wilden Tiere, der Haustiere und des Federviehs beschäftigten, haben längst herausgefunden, daß das undankbarste Geschöpf der Welt der Mensch ist.

Nehmt zum Beispiel uns, die dreizehn Robinsons auf der »Dreizehninsel«. Was fehlt uns? Für wen scheint die helle Sonne? Auf was schaut der klare Mond herab? Für wen grünt hier das Gras? Blühen die Bäume? Fließt der Bach? Singen die Vöglein? Rauscht das Meer? Für wen wurden die Ziegen zum Melken hergetrieben? Und wem zuliebe hat Gott die Höhle geschaffen? Geschah es nicht, damit wir in ihr vor der Hitze des Tages und vor der Kälte der Nacht Schutz finden? – Und doch sind wir immer unzufrieden!

Ich will einen Morgen auf unserer »Dreizehninsel« schildern. Wenn wir aufgestanden, die Höhle verlassen und uns gewaschen hatten, kam uns unser Arbeiter, der einfache Mann, den wir »Proletarier« nannten, mit strahlendem Gesicht entgegen und bat uns zu Tisch. Der »Tisch« war ein großer Stein, den der Proletarier ausgesucht hatte. Er war unten rund, mit einer glatten Fläche, als wäre er mit einem Werkzeug gehobelt. Unser Proletarier strengte sich tüchtig an, bevor er den Stein an den gewünschten Platz hingerollt hatte. Als der Stein endlich lag, wo er ihn haben wollte, suchte er kleinere Steine, auf denen man sitzen konnte. Er brauchte nicht lange zu suchen: Steine gabs genug auf unserer Insel. Aber es kostete Arbeit, alle dreizehn an den richtigen Platz zu rollen. Dabei litt er nicht, daß ihm jemand half.

»Arbeiten ist meine Sache!« meinte er. »Ich bin gewöhnt zu arbeiten.«

»Jeder Mensch kann arbeiten und ist verpflichtet, für sich zu arbeiten,« sagte der Spezialist und hielt eine Rede, in der er eine Theorie des gesellschaftlichen Lebens entwickelte und nachwies, daß jeder Mensch verpflichtet sei, für sich zu arbeiten.

Aber der Proletarier blieb bei seiner Ansicht und ließ nicht ab, und sollte er sich den Kopf dabei zerschlagen. Er tat wie immer und sagte schlicht, mit dem Lächeln eines einfachen Mannes: »Wenn ihr's mir nicht übelnehmt, will ich euch sagen, daß Arbeit und Arbeit zweierlei ist. Es gibt allerhand Arbeit und Arbeiter … Der eine arbeitet mit den Händen, der andere mit den Füßen, der dritte leistet mit dem Kopf, dem Gehirn – geistige Arbeit.«

Der Mensch läßt nicht locker und hört nicht auf. Da tue einer was! Und man merkt überhaupt nicht, wann er die Arbeit schafft! Es brennt ordentlich bei ihm! Wenn wir des Morgens aufstehen, finden wir die Gefäße bereits mit Wasser gefüllt, die Ziegenmilch gemolken, den Tisch mit Bananen, Nüssen und schwarzen Beeren bedeckt … Er hat nämlich eine Art saftige, schwarze Beeren gefunden, die ähnlich wie Weintrauben schmeckt.

Es ist schön mitanzusehen, wie wir dreizehn Robinsons in langer Reihe hintereinander zum Tisch spazieren: An der Spitze die Dame, das einzige weibliche Wesen auf unserer Insel. Neben ihr geht der Kapitalist, der sich für den größten und vornehmsten »Gentleman« unserer Kolonie hält. Ihm folgt der Atheist, der Orthodoxe, der Zionist, der Territorialist, der Spezialist, der Nationalist, der Assimilant, der Idealist, der Materialist, dann komme ich, der Schriftsteller und ganz zuletzt – der Proletarier.

Wir setzen uns um den »Adamstisch« auf unsere primitiven Stühle, essen, trinken, plaudern und erörtern allerlei Fragen: religiöse, soziale, politische. Jeder sagt frank und frei seine Meinung heraus und eines jeden Meinung ist just das Gegenteil von des anderen Meinung.

Dreizehn Personen – dreizehn Meinungen. Selbstverständlich war jeder überzeugt, daß seine Meinung die richtige war und verlangte, daß sie von den anderen anerkannt werde. Oft entstand dadurch Zank, es gab Verdruß. Man schmollte miteinander, traktierte sich mit spitzen Redensarten, warf sich giftige Witze oder Grobheiten an den Kopf und fühlte, daß man einander überdrüssig war. Feindseligkeit schlich sich ein, man mied einander und überlegte, wie man sich trennen, sich über das ganze Land verstreuen könnte, damit jeder sein eigenes Heim hätte.

Dreizehn Personen – dreizehn Heime.

Der Gedanke, sich einzeln über das ganze Land zu zerstreuen, sagte allen zu. Zuerst wurde dieser Gedanke allgemein ausgesprochen und erörtert, erst später sprach man unverdeckt darüber, daß jeder ein besonderes Heim haben müsse.

»Wenn ihr es mir nicht übelnehmt, will ich euch meine Ansicht sagen,« begann unser Proletarier, wie immer mit einer Entschuldigung. »Der Berg, den wir besitzen, ist groß genug. Höhlen gibt es unendlich viele, Platz ist nicht nur für dreizehn Personen, sondern für dreizehn Familien. Wenn ihr gestattet, will ich vor jede Höhle einen besonderen Stein als Zeichen niederlegen, an dem man erkennen wird, wem die Höhle gehört …«

Nach einer Debatte, die kaum ein paar Stunden dauerte, wurde der Vorschlag des Proletariers zur allgemeinen Zufriedenheit angenommen; auch der Proletarier war zufrieden. Das war ein Zeichen, daß auch er unserer Gesellschaft überdrüssig war. Kein Wunder, daß es dahin gekommen war, weil jeder von uns seinen eigenen Geschmack, seine Gewohnheiten und Launen hatte. So liebte der eine viel Sonne, der andere viel Schatten; der eine trinkt die Milch gern frisch gemolken, der andere zog sie abgestanden und abgekühlt vor; dieser wünschte die Bananen geschält, daß man sie sogleich essen konnte, jener wollte sie in der Schale haben, wie sie die Natur geschaffen hat. Auch hatte jeder seinen besonderen Wunsch für das Lager: der wollte viel Gras, das ihm ein Federbett ersetzen sollte, der andere lag gern hart, aber mit dem Kopf hoch. Die Frau erwähne ich erst gar nicht. Dem Weib gestattete Gott sogar, launenhaft zu sein, und wenn sie das Maß nicht überschreitet, erhöht das noch ihren Reiz. Bei unserer »Dame« mußte jeden Morgen ein Strauß von frischen Blumen auf den Stein stehen. Sonst sprach sie mit keinem Menschen. Wenn aber die Frau traurig war, schaute auch der Himmel düster drein, war sie verstimmt, so war auch die Sonne verstimmt, blähte sie sich auf, dann tat die Erde dasselbe, und der Wald grollte, die Vöglein im Wald und wir alle wurden mürrisch und einander noch überdrüssiger als vorher, – wir mochten uns überhaupt nicht mehr ansehen.

Man kann sich also leicht vorstellen, was für ein Leben wir jetzt führten, seitdem sich jeder von uns in seiner eigenen Höhle, auf seinem eigenen Gebiet niederließ. Dreizehn Personen – dreizehn Gebiete.

Das größte Territorium fiel dem Kapitalisten zu. Der Millionär war gewöhnt, breit und bequem zu wohnen, – wie er behauptete. Es war nicht seine Schuld – meinte er –, man hatte ihn von Kindheit an so erzogen und an breite, große, helle Wohnräume gewöhnt. Das kleinste Gebiet fiel dem Proletarier zu. Wann saß er denn in seiner Höhle? Er arbeitete ja vom frühen Morgen bis in die späte Nacht … Was lag daran, wo er die paar Stunden in der Nacht schlief? …

»Ich habe zu Hause auch nicht besser geschlafen,« sagte er. Seine Arbeit bestand darin, alles sauber zu halten. Während er früher nur für eine Höhle zu sorgen hatte, mußte er jetzt für dreizehn sorgen. Dreizehn Höhlen kehren, am Tage mit Sand ausstreuen, zur Nacht mit Gras ausbetten und den verschiedenen Gewohnheiten dabei gerecht werden. Ein Glück, daß es einen gemeinsamen Tisch gab! Es fehlte nicht viel, so hätten wir auch dreizehn besondere Tische gehabt! … Aber nach langen, erbitterten Debatten beschlossen wir, das Eßzimmer in freier Natur, auf Gottes Erde, unter Gottes Himmel beizubehalten.

Es war auch der geeignetste Treffpunkt, an dem wir uns des Morgens, Mittags und Abends sahen. Dabei stellte sich etwas sehr Merkwürdiges heraus! So lange wir zu dreizehn ein gemeinsames Gebiet bewohnten, hatten wir füreinander eine feindselige Empfindung; sobald wir uns getrennt und uns einzeln auf eigenem Gebiet niedergelassen hatten, begannen wir uns nacheinander zu sehnen. Wir konnten kaum die Zeit erwarten, da wir uns an dem gemeinsamen Tisch versammelten. Wir rückten zusammen, plauderten, stritten, zankten, schimpften, sagten einander Bosheiten und Grobheiten und versöhnten uns wieder. Das wiederholte sich jeden Tag, bis wir auch daran keinen Gefallen mehr fanden und nach langem Debattieren beschlossen, unsere Insel in Kolonien einzuteilen.

Dreizehn Personen – dreizehn Kolonien.

Der erste, der die Frage der Kolonisation und der Einteilung des Eigentums erhob, war der Kapitalist. Er behauptete aus eigener Erfahrung, daß wir uns erst dann auf unserer Insel wohlfühlen würden, wenn wir wüßten, daß jeder von uns seinen eigenen Winkel, sein eigenes Stückchen Erde, sein eigenes Stück Wald, sein eigenes Vieh – er meinte die Ziegen – haben würde.

»Mit einem Wort,« sagte der Kapitalist, »Eigentum ist das perpetuum mobile, das die ganze Weltmaschine in Bewegung setzt. Ohne Eigentum ist kein Fortschritt möglich.«

»Sie haben recht,« versetzte der Orthodoxe, ein litauischer Jude von den »Litwaks« mit dichten Schläfenlocken und langen Bärten. »Nach unseren Talmudgelehrten muß jeder Mensch für das Fortbestehen der Welt sorgen. Jeder Jude muß ein Haus bauen, einen Garten pflanzen, eine Wirtschaft gründen. Das haben wir schon bei unserem Ahnen Noah gesehen …«

Der Orthodoxe zitierte einen Spruch nach dem andern, bis der Atheist endlich aufsprang und ihn mit allen seinen Zitaten und Beispielen schlug, indem er behauptete, daß er vom Gesichtspunkt der Bequemlichkeit zum Kapitalisten halte.

»Der Mensch ist auf Erden geboren, er muß sich also auf Erden häuslich einrichten.«

»Sehr richtig … Von Erde bist du …« bemerkte der Orthodoxe. Der Streit setzte sich zwischen dem Idealisten und dem Materialisten fort. Beide hielten zum Kapitalisten, der Idealist vom idealistischen, der Materialist vom materialistischen Standpunkt. Nach ihnen ergriffen zwei junge, intelligente Hitzköpfe, der Zionist und der Territorialist, das Wort.

»Darf ich ein Wort sagen,« begann der Zionist, »wenn ich nicht irre, ist hier von Ansiedlung die Rede. Ich verstehe nicht, wieso Juden von einem andern Land als Palästina reden können? Warum spricht man von einem Ansiedlungsort und nicht vom Lande Israels? Wie können sich Juden in einem fremden Land kolonisieren, während das Land unserer Väter bald zweitausend Jahre verlassen ist, wie eine Witwe, und auf uns wartet, wie eine Mutter auf ihre Kinder, die in langer, finsterer Verbannung verwaist und in alle vier Winde der Welt verstreut und verweht sind!«

»Wie es im Talmud heißt … Die Mutter Rahel beweint ihre Kinder …« bemerkte der Orthodoxe.

»Ach! Diese Lyrik und Sentimentalität!« rief der Territorialist. »Mit eurer Trauer um das armselige, hinterbliebene Reich Israels und der Verherrlichung des heiligen Landes unserer Ahnen werdet ihr nichts ausrichten! Ein Reich Israel gibt es nur auf dem Papier, in alten Büchern, in Wirklichkeit gehört es anderen. Während ihr Lieder verfaßt, wird sich der arme Jude in der Verbannung unter fremden Völkern herumtreiben, die von ihm nichts wissen wollen. Seht euch doch einmal um, was in der Welt, – in Rußland, Rumänien, Marokko und anderen zivilisierten Ländern vorgeht! … Nein, der armselige Jude kann nicht länger warten! Er muß Land fordern! Gebt ihm ein Land! Ein Stückchen Erde! Ein winziges Eckchen, wenn es nur sein eigenes ist! Wo er nicht geschlagen, gejagt und verfolgt wird! Dort soll unser Reich Israel sein!« »Wie es im Talmud steht,« versetzte der Orthodoxe, »das Reich Israel ist bereit, es soll sich über alle Länder ausdehnen!« »Das ist unsere Mission,« bestätigte der Assimilant, ein Jude aus dem Innern Polens, ein Pole mosaischen Glaubens, mit einem Bart à la Mierzwinski (dem berühmten Tenor), »wir Israeliten müssen uns unter die anderen Völker mischen, uns verständigen, in ihnen aufgehen und sie zu dem wahren Fortschritt führen …« »Uns unter sie mischen?« fragte der Nationalist, ein russischer Jude, und blickte die andern an, als wollte er sagen: »Warum schweigt ihr? … Er predigt ja, daß wir uns mit den anderen Völkern vermischen sollen … Darum sollen wir uns viele Jahrhunderte hindurch geplagt haben, darum wurden wir von Land zu Land getrieben, von Volk zu Volk verjagt … Lohnte es sich, die Inquisitionen aller Länder zu ertragen, auf dem Feuer sämtlicher Autodafés zu brennen, überall das Opferlamm für fremde Sünden zu sein, um uns schließlich im Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mit den Völkern zu vermischen? Unsere Nationalstandarte aus den Händen zu geben?! Unsere Nationaltracht abzulegen? Den Namen »Juden« auszumerzen? Also im Alter Selbstmord begehen? Weshalb kommt ihr uns mit allegorischen Weisheiten und verblümten Redensarten?! Dann tretet lieber öffentlich hervor und sagt wie die Missionare: »Bespritzt euch mit Wasser, dann seid ihr alle Sorgen los!« oder noch einfacher: »Laßt euch taufen, Juden, damit es ein Ende hat! Verdammte Sache!«

»Gott bewahre! Gott behüte!« versetzte der Orthodoxe mit einem tiefen Seufzer. »Der Allmächtige schütze uns davor.« Da erhob sich der Sozialist, ein russisch-jüdischer Student, in schwarzer Bluse. In seiner mit russischen Worten durchsetzten Sprache sagte er, daß es sich weder um Religion, noch um Nationalität handle. »Es handelt sich vielmehr um die Lösung der sozialen Frage der Kolonisation einer Insel, bei der Gründung einer Stadt nach dem alten Gesetz und Recht, das auf dem Prinzip des Eigentums aufgebaut ist …« Der Sozialist bekämpfte mit scharfen, heißen Worten den Kapitalisten und dessen Eigentumstheorien … Er wollte, obgleich er kein Anarchist war, nachweisen, daß Eigentum Raub sei. »Fortschritt, der auf Raub beruht, ist aber kein Fortschritt! Nieder mit dem Eigentum! Es lebe der Sozialismus! Hurra!«

»Sehr richtig!« rief der Orthodoxe. »Denn so heißt es im Talmud: Mir Silber, mir auch Gold – alles gehört mir – sagte Gott.«

Da jetzt alle durcheinander schrien, erhob ich mich und sagte, da die Kolonisationsfrage nun lange genug erörtert worden sei, müsse man zur Abstimmung schreiten: »Wer für die Kolonisation ist, der hebe die Hände in die Höhe!«

Bei dieser Gelegenheit stießen wir auf die Frauenfrage, die neue Meinungsverschiedenheiten hervorrief. Während einige nur den Männern das Recht der Abstimmung zuerkannten, verteidigten andere das Recht der Frau. Vor allem trat der Atheist, der früher amerikanischer Bürger war, für die Frau ein.

»Ladies und Gentlemen!« begann er seinen Speech in ausführlicher, amerikanischer Art. »In keinem anderen Land sind die Frauen so gleichberechtigt, wie bei uns in den »United States of America«. In manchen Orten sind sie an allen »business« beteiligt … Ladies first – heißt es bei uns in allen Klassen der Gesellschaft. Frauenehre ist bei uns das erste Gebot! Ich kann euch ein Ereignis erzählen – es ist kein »bluff«, sondern eine geschichtliche Begebenheit aus den »United States of America«. Es war im Jahre 1851 … Wer nicht zuhören will, kann gehen. Soll ich erzählen oder nicht?« »Erzählt! Erzählt!«

»Im Jahre 1851, im Monat Juli, in der größten Hitze, versammelten sich in Washington mehr als hunderttausend Frauen, die für die Gleichberechtigung der Frauen arbeiteten. Sie erörterten viele Tausende von Vorschlägen für neue »coughts« für Ladies, die sich nur wenig von den Männerkleidern unterscheiden sollten. Die Vorschläge hatten die besten Damenschneider der »United States of America« herausgegeben. Nur ein einziges »cought« drang durch, und zwar war diese Tracht nicht von einer »Lady«, sondern einem »Gentleman« erdacht, und nicht von einem Schneider, sondern einem »Butcher«. Sie bestand aus einem »Pidjack«, das ihr »Jackett« nennt und einem Paar breiten »Pents«, die man bei euch Europäern, excuse, »Hosen« nennt. Diese Tracht wurde besonders von der Herausgeberin der Zeitschrift »Lilly«, einer gewissen Amely Bloom, einer Verfechterin der Reformkleidung, gepriesen. Aber die »Bloomers« hatten kein langes Leben, die Männer, besonders die Heuchler, die sogenannten Moralisten, erhoben einen wahren Sturm gegen die Frauenhosen und belegten sie mit dem Fluch. Die Frauen, die in breiten Hosen gingen, wurden auf den Straßen gelyncht, und der »President der United States of America« mußte einen Erlaß herausgeben, daß sämtliche emanzipierten Frauen die Hosen ablegen müßten …«

»Ich muß sie darauf aufmerksam machen, Mister, daß ein Gentleman sich in Gegenwart einer Dame anständiger ausdrücken würde,« sagte der Kapitalist, der sich zum Präsidenten unserer Sitzungen ernannt hatte.

Der amerikanische Atheist errötete bis über die Ohren und ärgerte sich, daß er an der interessantesten Stelle unterbrochen wurde. »All right! Ladies und gentlemen!« fuhr er fort … »Ich könnte euch noch eine Menge Beispiele aus der Geschichte der »United States of America« anführen, um euch zu überzeugen, in wie hohem Ansehen die Frau bei uns steht, aber da mich der Mister German unterbrach und ich die »Votes« nicht aufhalten möchte, behalte ich es mir für ein anderes Mal vor und schließe meinen »Speech« in der Hoffnung, daß wir nicht die größte Schande der Welt auf unsere Häupter laden werden. Denn es wäre eine große Schande, wenn wir unsere Ladies auf unserem freien Territorium nicht als gleichberechtigte Bürgerinnen anerkennen würden. Was würde die Presse dazu sagen? »Europa« würde mit den Fingern auf uns zeigen! Ladies und gentlemen! Laßt euch nicht von den Heuchlern beeinflussen, die sich an die »Bibel« halten und nicht wissen wollen, was die Bibel über die erste Frau – Eva – sagt: daß sie Mark von unserem Mark und Leib von unserem Leibe ist.« Mit diesen Worten schloß der Amerikaner seinen »Speech« und empfing von der Kolonie stürmischen Beifall und ein lautes Hurra!

Endlich begann die Abstimmung darüber, ob die »Dreizehninsel« in dreizehn besondere Kolonien geteilt werden sollte oder nicht. Die Mehrheit erklärte sich für die Teilung. Zwölf Paar Hände erhoben sich. Der einzige Opponent blieb unbeachtet. Es war der Sozialist. Doch die Organisation war damit nicht abgeschlossen.

Es blieb noch viel Arbeit zu tun!

 

Dreizehn vereinigte Staaten

Wer die Kulturgeschichte kennt und weiß, wie die menschliche Gesellschaft sich entwickelt, der wird sich über uns, die dreizehn Robinsons auf der »Dreizehninsel«, nicht wundern, es vielmehr begreifen, daß wir den Wunsch hatten, unser Hab und Gut einzuteilen. Unsere Urahnen haben es auch so gemacht. Früher, als sie noch Nomaden waren und das Vieh weideten, zogen sie mit ihren Schafen und Rindern frank und frei über Felder und Wälder. Doch später, als sie sich fest auf dem Land niederließen und anfingen, den Acker zu bebauen, da begann Streit und Zank, Kampf und Krieg, und das Blut floß in Bächen. Jeder wollte soviel wie möglich an sich reißen, wer stärker war, der siegte …

Auch wir dreizehn Robinsons waren früher Nomaden, weideten das Vieh – die Ziegen – auf dem Berg, lebten von Bananen und Nüssen, die auf den Bäumen wachsen, und waren zufrieden. Doch später, als wir dieses Lebens überdrüssig waren, begannen wir an eine feste Niederlassung und an die Kolonisation unseres Landgebiets zu denken; wir beschlossen, das Land, den Wald, die Bäume, das Vieh und das übrige Hab und Gut unter uns einzuteilen. Der Unterschied bestand nur darin, daß unsere Urahnen dies mit Gewalt, mit Krieg und Blutvergießen taten, während es sich bei uns Gott sei Dank ohne Krieg, ohne Kampf und ohne Zank vollzog. Kein Tropfen Blut wurde vergossen, es gab weder Verdruß, noch Neid und keine Feindseligkeiten, – das Land wurde auch nicht ausgeknobelt, wie Moses verkündet hatte.

Kein Wunder, daß es bei uns ruhig zuging: wir hatten alles im Überfluß und brauchten so wenig zu arbeiten, daß es keinen Grund zum Streit gab. Jeder einzige von uns wählte sich ein Stück Berg, seine Bäume, seine Bananen, seine Nüsse, seine Blumen und seine Ziegen.

Auf diese Weise war jeder sein eigener Herr und verfügte über alles, was er brauchte, wie ein Fürst …

Dreizehn Kolonisten – dreizehn Fürsten!

Wir waren wirklich zufrieden. Als wir zusammenlebten, freuten wir uns über nichts. Erst nachdem wir uns getrennt hatten, wurde uns alles lieb und teuer. Jeder liebte seine eigene Kolonie, sein Gebiet, sein Stückchen Wald, seine Bäume, seine Ziegen, seine Höhle; so mancher empfand es angenehm, daß er seine eigenen Bananen aß, seine eigenen Nüsse knackte, seine »eigene« Milch von seinen eigenen Ziegen trank … Denn im Eigentum liegt ein besonderes Wohlgefühl. Mag der Sozialist dazu sagen, was er will … Ich hatte Zeit genug, mich und meine Kameraden, sämtliche Robinsons auf der Dreizehninsel, zu beobachten und eines jeden Charakter mit den guten und schlechten Eigenschaften zu studieren. Dabei fiel mir etwas Sonderbares auf: der sogenannte Sozialist, der das Eigentum leugnete, der Eigentum Raub nannte, – gerade er vergaß seine kommunistischen Ideen, sobald es einmal vorkam, daß jemand sich in sein Baumgebiet verirrte; er vergalt es ihm und warnte schimpfend vor der Gewohnheit, in fremde Taschen zu kriechen! Ja, liebe Freunde, Theorie und Praxis sind zwei sehr verschiedene Dinge. Den besten Beweis habe ich an mir selbst. So verfechte ich theoretisch den Vegetarismus und bekämpfe den Fleischgenuß. Es gibt doch kaum etwas Gräßlicheres, als ein Huhn, ein unschuldiges Tierchen mit dem Messer zu schlachten, in Stücke zu schneiden, in den Topf zu legen, auf dem Feuer zu kochen und nachher zu fressen! Wenn ich das tue, wie unterscheide ich mich von einem wilden Tier oder einem wilden Menschen? Bin ich besser, weil ich das Fleisch gekocht statt roh esse? …

Wir dreizehn Robinsons waren insofern Vegetarianer, weil wir gelobten, weder Fisch, noch Fleisch, noch sonst irgendeine Tierspeise zu genießen, wenn es uns einmal besser gehen würde. Ach, wie sehnten wir uns manchmal nach einem Rinderbraten mit Kartoffeln! Nach einem Stückchen pikant gefüllten Fisch! Nach einem Kotelett, einer Suppe, einem Ei, einer Sardelle! Wir mußten zugeben, daß wir die Bananen, die Ziegenmilch und die Nüsse gern für ein Stückchen frisches Brot mit Knoblauch oder für eine Zwiebel mit Schmalz hingegeben hätten! Der Mensch ist schwach …

Doch das waren nur Träume. Wir dreizehn Robinsons waren von der übrigen Welt durch das große, stürmische Meer getrennt. Wir mußten uns mit dem begnügen, was wir hatten, und uns all die Jahre, die uns noch beschieden waren, hier zu verbringen, mit Bananen, Nüssen und Ziegenmilch zufriedengeben. Damit die Zeit uns nicht lang werde und um unser Elend zu vergessen, vertieften wir uns in alle kleinen Geschehnisse unseres Lebens, jeder auf seinem kleinen Gebiet, jeder in seine kleinen Interessen, die er aber auch schützen und wahren wollte. Wir versammelten uns jeden Tag zu einer bestimmten Stunde an einem bestimmten Platz, und zwar auf einem abseits gelegenen Hügel, unter einem großen Baum. Auf dem Boden – Blumen, vor unseren Augen – das ewige, schaurige Meer mit den unermüdlich rauschenden Wellen, die uns höhnend daran gemahnten, daß jeder von uns jenseits des Meeres ein Heim und Eltern und Kinder, Brüder und Schwestern, Freunde und Bekannte hatte, die sich nach uns sehnten oder uns auch vielleicht schon vergessen hatten …

Wir nannten unsere Versammlung den »politischen Klub«, obwohl wir uns nur trafen, um zu plaudern und das schaurige, uralte Meer anzuschauen. Wir horchten, wie es rauschte, wie die Wellen sangen, und wir erzählten einander zum hundertsten Mal unseren Lebenslauf; wir nannten die Namen aller Familienangehörigen, schilderten das Aussehen, den Charakter und die Eigentümlichkeiten jedes einzelnen so genau und so oft, daß wir mit allem vertraut waren, was jeden einzigen betraf.

Allmählich begannen wir uns über unsere gegenwärtige Lage zu unterhalten und auf Mittel zu sinnen, wie wir unser Leben nach allen Richtungen hin – politisch, wirtschaftlich und sozial – gestalten sollten, damit jeder für sich unabhängig leben und wir dennoch eine gemeinsame Familie, eine Macht darstellen könnten, um für den Fall eines Überfalles von wilden Menschen oder wilden Tieren gewappnet zu sein.

Jeder führte seine Idee aus, – wie immer, entspann sich eine heiße Debatte. Dreizehn Kolonisten – dreizehn Ideen.

Der Kapitalist trat wie gewöhnlich zuerst mit seinem Vorschlag hervor. Der Geist des Kapitalismus hat die ganze Welt so stark mit seinen eisernen Händen umklammert, daß ein Einfluß sich auch auf unserer abgeschiedenen Insel geltend machte.

Manchmal erhob der Sozialist Widerspruch, indem er in seiner, mit russischen Worten durchsetzten Mundart sagte:

»Mit welchem Recht habt Ihr Euch ohne weiteres zum Vorsitzenden ernannt?«

Der Kapitalist, ein stiller, friedfertiger Mann, betrachtete den Sozialisten lächelnd, räumte ihm seinen Platz ein und sagte mit ausgesuchter Höflichkeit zu ihm:

»Bitte, seid Ihr Vorsitzender!«

Das machte auf uns alle einen so guten Eindruck, daß wir mit Ausnahme des Sozialisten den Kapitalisten baten, das Amt eines Vorsitzenden zu behalten. Er blieb, unserem Wunsch gemäß, an seinem Platz.

Sein Vorschlag war eine Art bürgerliche Konstitution. Wir sollten einen Staat von dreizehn Provinzen bilden, die von einem zu wählenden Präsidenten regiert würden. Der Präsident hätte als Gebieter des Volkes über die Kolonisten zu bestimmen, für ihre Interessen zu sorgen, ihre Klagen anzuhören und nach bestem Wissen und Gewissen über sie zu richten.

Da hielt es den Sozialisten nicht länger, er sprang, wie mit heißem Wasser begossen, auf und begann mit Worten um sich zu werfen, wie »Autokratie«, »Absolutismus«, »Selbstherrschaft« …

»Wenn es eine Regierung geben soll, so muß auch ein König gewählt werden,« versetzte der orthodoxe Litauer. »In der Bibel steht geschrieben: Du sollst dir einen König wählen …«

»Damit man an Festtagen das Gebet für die kaiserliche Familie sagen kann,« bemerkte scherzend einer der Intelligenten, wahrscheinlich der Zionist, dem der Orthodoxe entgegnete:

»Unsere Weisen hießen uns für das Königshaus beten … Ohne Furcht vor der Regierung würden die Menschen einander auffressen …«

Die letzten Worte riefen allgemein Hohn hervor. Sogar der Proletarier blickte den Orthodoxen mit feindlichen Blicken an. Außer den Orthodoxen gab es wohl niemand, der eine Monarchie gewünscht hätte.

Hierauf trat der Atheist aus Amerika hervor und schlug vor, die dreizehn selbständigen Kolonien, in denen jeder Kolonist Selbstherrscher wäre, zu vereinigen, wie in den »United States of America« und einen Präsidenten zu wählen, der alle vier Jahre neu gewählt werden sollte. Er würde den Titel tragen: »The President of the United States of the first Jewish Republic of the Thirteenisland of Israel«.

»Wundervoll!« rief der Idealist. »Ich habe schon immer von einer jüdischen Republik geträumt!«

»Höchst unpraktisch!« unterbrach der Materialist. »Da würde man ja die meiste Zeit damit zubringen, den Namen niederzuschreiben. Denkt einmal: The President of the United … Das ist ja eine endlose Litanei!«

»Erlauben Sie außerdem!« mischte sich die Frau ein. »Warum sollen wir denn Amerika nachahmen? Soviel ich weiß, ist Paris tonangebend, alle neuesten Moden kommen von Paris. Ist die französische oder die Schweizer Republik nicht ebenso gut? Ich war erst voriges Jahr in der Schweiz … mit meinem seligen Mann … überall waren wir … in Zürich, Montreux, Interlaken, wir haben den Montblanc gesehen … Ich glaube, es gibt nicht noch einmal solch ein Land, wie die Schweiz. Auch Nizza ist ein hübsches Städtchen … und in Monte Carlo gibt es auch eine Menge zu sehen, aber wenn man gut und billig leben will, soll man nur nach der Schweiz reisen. Erstens gibt es dort ausgezeichnete Milch für zwei Centimes …«

»Mille pardon, madame,« entschuldigte sich der Kapitalist vor der Frau, »es handelt sich nicht darum, in welchem Land wir uns niederlassen sollen, sondern nach welchem Vorbild wir auf unserer Insel einen Staat gründen sollen.«

Die Frau wurde feuerrot, weil sie fühlte, daß ihre Zunge wie ein zügelloses Pferd, der Teufel weiß wohin, durchgegangen war. Trotz ihrer modernen Anschauungen und ihres männlichen Benehmens blieb sie eben eine Frau.

»Entschuldigen Sie, meine Herren,« fügte sie noch hinzu, »wenn ich von der Schweiz spreche, muß ich immer an meinen seligen Mann denken … ich wollte nur sagen, daß mir eine föderative Republik besser gefällt …«

»Und mir gefallen weder die Vereinigten Staaten in Amerika, noch die föderative Republik in der Schweiz,« sagte der Nationalist, »weil das nationale Element fehlt … Der Name muß national gefärbt sein … muß jüdisch klingen!«

»Also nennen wir die Insel nach Dr. Herzl!« rief der Zionist.

»Warum nicht Zangwill?!« entgegnete der Territorialist.

»Herzl ist tot, Zangwill lebt ja noch!«

»Was möchten Sie? Daß Zangwill auch stirbt? Was hat er ihnen denn getan? …«

»Wer sagt denn, daß er sterben soll? Meinetwegen soll er bis 120 Jahre leben!«

»Wenn Sie es mir nicht übelnehmen,« begann der Proletarier, der inzwischen Nüsse und Bananen für die ganze Gesellschaft vorbereitet hatte, »möchte ich auch meine Meinung sagen. Ich bin zwar ein einfacher Mann, aber mir scheint es richtig, die Insel nach niemand zu benennen. Sie sollte einfach »Die jüdische Republik« oder »Die erste jüdische Republik der dreizehn vereinigten Staaten« heißen.«

Der Vorschlag des Proletariers rief einen allgemeinen Beifallssturm hervor. Der Sozialist sprang vor Begeisterung, weil wir keine Monarchie werden sollten, auf einen Stein und donnerte in seiner halb russischen Mundart: »Bratja! Es lebe die Freiheit! Es lebe die Republik! Es lebe das Proletariat! Ruft: Hurra!«

»Hurra!« riefen wir alle. Dann setzten wir uns – die dreizehn zukünftigen Präsidenten der dreizehn vereinigten Staaten – an den Tisch und begannen mit großem Appetit die süßen Bananen, die fetten Nüsse und die frische Ziegenmilch zu verzehren, die der Proletarier vorbereitet hatte. Wir sprachen von der Zukunft unserer Republik und von den Statuten und Gesetzen, die ausgearbeitet werden mußten. Jemand berührte die Präsidentenfrage. Alle Augen richteten sich unwillkürlich auf den Millionär. Als er die Blicke auf sich ruhen fühlte, richtete er sich auf, um etwas zu sagen. Doch der Sozialist, der stets gegen den Kapitalismus opponierte, kam ihm zuvor:

»Ich verstehe nicht, was diese Blicke zu bedeuten haben,« sagte er halb russisch. »Wir werden, wie es in allen fortschrittlichen Staaten geschieht, Wahlen bestimmen und den Präsidenten mit Stimmenmehrheit wählen!«

Wir wählten also einen Präsidenten!

 

Dreizehn Präsidenten

In den Vereinigten Staaten der ersten jüdischen Republik ging es vor der Wahlzeit recht geräuschvoll zu. Aber man weiß, was sich in dem republikanischen Frankreich oder in dem goldenen Land Amerika mit der demokratischen Republik zur Zeit der Präsidentenwahl abspielt. Der erbitterte politische Kampf erstickt alles menschliche Gefühl.

Es bildeten sich also auch bei uns verschiedene Parteien mit Anhängern und Gegnern. Die kapitalistische Partei, die die Wahl des Kapitalisten mit Stimmenmehrheit sichern wollte, erließ eine Proklamation, in der Schutz des Eigentums, Kampf für die Religion und Schutz der Arbeiterinteressen zugesichert wurde.

Hierauf begab sich der Sozialist zu dem Proletarier, den er bei der Arbeit traf, als er die Ziegen für die dreizehn Kolonisten molk. Er klärte ihn über den in der Welt herrschenden Kapitalismus auf, der das Proletariat unterdrückt. Ein Beispiel sei er selbst, der sich für die dreizehn Kolonisten abplage, ohne daß es jemand einfalle, ihm zu helfen.

»Gott hat ja den Arbeiter dazu geschaffen, daß er arbeite!« sagte der Proletarier in seiner schlichten Art.

»Für sich, aber nicht für andere!« erklärte der Sozialist und hielt ihm einen Vortrag über Arbeitseinteilung, Vernichtung des Kapitals usw. Er redete so lange, bis er bei dem Proletarier das Versprechen erreichte, in keinem Fall für den Kapitalisten zu stimmen.

»Ich selbst,« sagte er zum Schluß, »werde darauf bestehen, daß ein Proletarier zum Präsidenten gewählt werde! Es lebe das Volk! Es lebe das Proletariat!«

Als der Sozialist den Arbeiter verlassen hatte, stellte der das Gefäß mit der gemolkenen Milch beiseite, stemmte beide Hände in die Hüften und versank in Gedanken. Vielleicht ging es ihm durch den Sinn, wer wohl die Arbeit auf der Insel verrichten würde, wenn er wirklich Präsident werden würde …

Die zweite, mächtige Partei war die amerikanische: der Amerikaner gab eine mit großen Buchstaben geschriebene Proklamation heraus, die mit den Worten begann: »Ladies und Gentlemen! Die erste jüdische Republik ist in Gefahr! Rettet die Ehre der dreizehn Vereinigten Staaten!« …

Die Frau schloß sich der polnischen Partei an, deren Führer, der Assimilant mosaischen Glaubens, sie dadurch gewann, daß er ihr Komplimente sagte und versicherte, daß sie wie eine echte Warschauerin aussehe. Seine Proklamation begann mit: »Jasnie Wielmozni Panowie! Erlauchteste Herren!« und endete mit den Worten: »Jeszcze Polska nie zginela! Noch ist Polen nicht verloren!« …

Der Zionist trat offiziell mit einer Proklamation heraus, die mit dem Bibelspruch begann: »Meine Rechte verdorren, wenn ich dich, Jerusalem, vergesse …« Er erwähnte sämtliche Namen aller Männer, die für den Zionismus gewirkt haben und schloß mit der Nationalhymne: »Noch geben wir die Hoffnung nicht auf!«

»Die Welt ist unser Heim!« war das Motto der Proklamation, die der Territorialist herausgab und die mit den Worten begann: »Alte Träumer! Tausendjährige Phantasten! Wann werdet ihr endlich aus den goldenen Träumen erwachen, in die die Zionisten aller Zeiten, diese unverbesserlichen Träumer, eingelullt waren …« »Suchet und ihr werdet finden!« lauteten die Schlußworte.

Auf die Frau rechneten sowohl die Zionisten, weil die zionistischen Kongresse in der Schweiz stattfanden, wie auch der Orthodoxe, der sich bei ihr beliebt zu machen suchte, indem er den Todestag ihres Mannes ausrechnete. Den Proletarier gewann er für sich, indem er ihm vom Jenseits, vom Paradies und der Hölle erzählte. Der Sozialist wollte ihm diesen Sieg streitig machen und rief: »Nieder mit der schwarzen Hundert!«

Ich selbst stellte meine Kandidatur nicht auf, weil ich mich als Schriftsteller vom politischen Kampf fernhalten wollte und weil ich einsah, daß ich weniger Aussichten hatte, als die anderen Kandidaten. Ich weiß genau, daß ich gehaßt werde. Die Menschen schmeicheln mir zwar, aber nur aus Angst, von mir verspottet zu werden. Wohl macht es Spaß, Schilderungen zu lesen, aber man darf nicht selbst gemeint sein …

Bei der Wahl stellte es sich schließlich heraus, daß sämtliche dreizehn Vertreter der Vereinigten Staaten auf den Wahlzetteln standen. Da erhob sich einer von uns (der Leser errät wohl, daß ich es war) und wandte sich an das Publikum mit folgender Ansprache: »Meine Damen und Herren! Fast zweitausend Jahre sind verflossen, seitdem wir unser eigenes Land verloren, seitdem wir aufgehört haben, als Staat zu existieren. Haben wir aufgehört ein Volk zu sein? Nein! Durch welche Kraft blieben wir bis jetzt erhalten? Wo war bis jetzt unser Territorium, unser Vaterland, unser Heim? Ich werde es Ihnen sagen: unser Territorium sind wir selbst! Unser Vaterland ist unsere Geschichte; unser Heim ist das große, soziale Ideal, das von den alten Propheten aufgestellt und von den späteren gepredigt wurde, und das sich mit Gottes Hilfe verwirklichen wird, wenn der Messias kommt. Aus der Tatsache, daß alle dreizehn Vertreter Präsidenten werden wollen, erkenne ich, daß keiner von uns untergehen, von dem andern besiegt werden will. Brüder, wir sind hier dreizehn, wir waren dreizehn auf dem Schiff, das Meer warf uns dreizehn auf die Insel hinaus, es wurden dreizehn Kolonien, dreizehn Vereinigte Staaten gegründet. Es fragt sich nun, warum nicht jeder Vertreter Anspruch erheben soll, Präsident seines Staates zu werden? Es leben die dreizehn Präsidenten der dreizehn Vereinigten Staaten der ersten jüdischen Republik! Hurra!«

»Hurra! Vivat hoch! Es lebe die absolute Gleichheit!«

Die Rufe ertönten in allerlei Sprachen.

Damit schloß die Versammlung.

 

Dreizehn Konstitutionen

Ein Politiker ist wie ein Trinker!« sagte einst Napoleon oder irgend ein anderer großer Staatsmann.

»Wer sich in Politik einläßt, der muß sein Geschäft aufgeben,« behauptete ein anderer Sterblicher, ein »Busineßman«, der sich von der Politik berauschen ließ und ein Gewohnheitstrinker wurde.

Ich kann beide Meinungen mit beiden Händen unterschreiben.

Wir wollen unsere Lage noch einmal kurz überschauen: Dreizehn Reisende, dreizehn verschiedene Personen mit dreizehn verschiedenen Berufen begeben sich auf die Reise und fahren auf einem Schiff nach dreizehn verschiedenen Punkten. Plötzlich erhebt sich ein Sturm, das Schiff zerschellt, das Meer verschlingt die Passagiere und wirft alle dreizehn auf ein und dieselbe Insel hinaus. Hier finden sie alles Gute: Höhlen, um sich am Tage gegen die Sonne und in der Nacht gegen die Kälte zu schützen; Bäume, auf denen süße Bananen und fette Nüsse wachsen; fließendes, kristallreines Wasser und schließlich eine Ziegenherde, die sich zu ihnen verirrt und sie mit Milch versieht. Was fehlt denn eigentlich solchen dreizehn Robinsons? Wir haben zu essen und zu trinken, brauchen nicht zu arbeiten, die Luft ist so gut, wie kaum in einem Kurort, wir haben einen See zum Baden, Wald zum Spazierengehen, Berge zum Besteigen, Blumen, die Duft spenden, einen blauen Himmel über unseren Häuptern, herrliche Sonne, die am Tage wärmt, einen silberhellen Mond, der in der Nacht leuchtet … Wir kennen keine Nahrungssorgen, es gibt niemand zum Beneiden, man ist nicht genötigt, Zinsen zu zahlen, braucht kein Geld, fürchtet niemanden, man weiß nichts von Polizei, Militär und Krieg – man hört nichts von dem Getriebe der Welt … hat keine Möglichkeit zu fliehen, sich vom Fleck zu rühren … Was fehlt uns also?

Andere an unserer Stelle hätten sich wie die Robinsons damit beschäftigt, das neue Territorium gründlich auszuforschen, nachzuprüfen, wo man sich befindet und was man tun müsse. Wir dagegen verfallen auf die Idee, das Land zu kolonisieren und eine Konstitution der ersten jüdischen Republik auszuarbeiten, – also Politik zu treiben! Es ist aber einmal so, daß die Menschen nie mit dem zufrieden sind, was sie haben, sondern nach Besserem und Höherem streben. Das nennen die Gelehrten Fortschritt; sie behaupten, daß die Welt ohne Fortschritt nicht existieren kann. Ohne uns mit ihnen in eine Polemik einzulassen, führen wir Tatsachen an.

Wir gründeten also einen politischen Klub, das heißt, wir versammelten uns zur geeignetsten Zeit am geeignetsten Platz unter einem Baum, um dort die Grundgesetze für die Konstitution der ersten jüdischen Republik auszuarbeiten. Jeder brachte einen politischen Entwurf mit. Dreizehn Präsidenten – dreizehn Konstitutionen.

Der Kapitalist, der wie immer, zuerst hervortrat, verlas ein Projekt mit eigenartigen Freiheiten. Es lautete folgendermaßen:

1. Sämtliche Bürger der ersten jüdischen Republik werden als freie Bürger anerkannt.

2. Die freien Bürger der dreizehn Vereinigten Staaten werden in drei freie Klassen eingeteilt: Bürger erster, Bürger zweiter und Bürger dritter Klasse.

3. Die Bürger der ersten Klasse haben die Freiheit zu essen, zu trinken und zu schlafen.

4. Die Bürger der zweiten Klasse haben die Freiheit, sich zu vergnügen und mit Anekdoten und Witzen zu unterhalten, das heißt, sie haben dafür zu sorgen, daß die Bürger erster Klasse sich wohl fühlen.

5. Die Bürger der dritten Klasse haben die Freiheit, für die Bürger der ersten und zweiten Klasse zu arbeiten.

6. Diese Bürger der dritten Klasse dürfen ihre Meinung frei äußern, wenn sie nach ihr gefragt werden.

7. Wenn ihnen etwas fehlt oder sie eines Rates bedürfen, steht es ihnen frei, sich an die Bürger der ersten Klasse oder zweiten Klasse zu wenden.

8. Wenn ihnen etwas mißfällt, steht es ihnen frei, darüber zu denken, wie sie wollen …

Die Opposition verwarf dieses bürgerliche Projekt. Zu der Opposition gehörte der Student mit der schwarzen Bluse, unser Sozialist. Er verwarf auch das heuchlerische Projekt des Orthodoxen, der als ersten Punkt die Heiligung des Sabbats aufstellte, so wie alle übrigen, denn er hatte an jedem etwas auszusetzen. Schließlich brachte er sein eigenes sozialistisches Projekt vor, das nach dem Vorbild der besten amerikanischen Konstitution bearbeitet war. Leider fiel aber auch dieses Projekt durch, nicht weil die sozialistische Konstitution schlecht wäre, sondern weil jeder sein eignes Projekt durchsetzen wollte.

Da kam die Reihe an mich, den Verfasser dieser Erzählung. Der Leser dürfte sich überzeugt haben, daß ich kein Prahler bin, aber wenn nicht Märchen, sondern die Wahrheit geschildert wird, darf nichts verschwiegen werden. Ich muß also berichten, daß mein Vorschlag mit Begeisterung aufgenommen wurde. Das hatte seine guten Gründe. Ich habe nämlich auf der Dreizehn-Insel die Erfahrung gemacht, daß man nur dann populär sein kann, wenn man jeden zufriedenstellt; – man darf also niemandem schmeicheln, aber auch niemanden angreifen. Je sicherer man seine eigene Idee durchsetzen will, um so tiefer muß man in die fremde eindringen. Wer für die Idee kämpft, muß darauf gefaßt sein, sich das Genick zu brechen und sich viele Feinde zu machen. Mein Vorschlag bestand also darin, sämtliche Projekte der dreizehn Präsidenten als gut und zweckmäßig anzuerkennen und anzunehmen, indem man nämlich aus jedem einen Punkt auswählte und zu einem Ganzen zusammenflickte. Der originelle Vorschlag gefiel dem Publikum so gut, daß mir nicht nur rauschender Beifall gezollt wurde, sondern jeder sich verpflichtet fühlte, mir die Hand zu drücken und mir seinen Dank für die großen Verdienste auszusprechen, die ich dem Staat der ersten jüdischen Republik erwiesen hatte. Der Idealist fiel mir um den Hals und wollte mich küssen. Auch unsere Dame, das einzige weibliche Wesen in unserer Kolonie, kam lächelnd auf mich zu und staunte über meine geniale Idee. Sie versäumte nicht, bei dem Lächeln ihre blendend weißen Zähne zu zeigen, die von dem besten Zahnarzt in Paris Brd. des Italiens Nr. 165, stammten. Nun galt es, das Gemisch der dreizehn Konstitutionen niederzuschreiben und mittels eines Manifests oder Zirkulars zu veröffentlichen. Ich, der einzige Schriftsteller der Vereinigten Staaten, wurde beauftragt, das Manifest innerhalb drei Tagen zu verfassen. Bevor wir uns trennten, stärkten wir uns mit süßen Bananen und tranken frische Ziegenmilch, die der Proletarier vorbereitet hatte. Reden wurden gehalten. Der Amerikaner zog in seinem »Speech« einen Vergleich zwischen unserer Verfassung und der Verfassung der amerikanischen Staaten und ließ zum Schluß die »Constitution of the United States of the first Jewish Republic of the Thirteen–Island of Israel« hochleben. Die anderen Redner vertraten stets ihren Gesichtspunkt, – jeder hatte in der Verfassung das gefunden, was er suchte. Der Pole mosaischen Glaubens, der Assimilant, drückte dem »Jasnie wielmozny Pan« – dem erlauchten Herrn – seine Befriedigung aus, weil die Konstitution der dreizehn Vereinigten Staaten ihn an den großen polnischen »Sejm« – den Reichstag – erinnerte. Das hinderte den Nationalen nicht, auf das Wohl der tief nationalen jüdischen Idee anzustoßen, die durch die Konstitution ging. Zuletzt redete der Proletarier.

Das Publikum hatte sich bereits erhoben, weil jeder zu »seinem Weinstock, unter seinen Feigenbaum« zurückkehren wollte. Da fiel mir plötzlich die Frage ein, in welcher Sprache das Manifest abgefaßt werden sollte. Die Frage wirbelte einen ungeheuren Staub auf und zog weite Wellen um sich, wie ein Stein, der plötzlich ins Wasser geschleudert wurde.

 

Dreizehn Sprachen

Die Bibel erzählt uns, wie die Menschen den Gedanken faßten, einen Turm zu bauen, der bis in den Himmel reichen sollte, wie Gott, darob verdrossen, ihre Sprachen verwirrte, so daß die Menschen einander nicht mehr verstanden. Ähnlich erging es auch uns, den dreizehn Robinsons auf der Dreizehninsel. Man sollte glauben, daß dreizehn Menschen, die einem Volk angehörten, eine gemeinsame Sprache haben müßten, obgleich sie aus verschiedenen Ländern stammten. Wenn dreizehn Kinder eines Vaters das Vaterhaus verlassen, sich nach verschiedenen Ländern begeben und nach einiger Zeit wieder zurückkehren – in welcher Sprache verständigen sie sich wohl? Sie werden doch kaum auf die Idee kommen, in dreizehn Sprachen zu reden?!

Diesen traurigen Erwägungen gab ich mich hin, als bei uns die Frage erörtert wurde, in welcher Sprache die Verfassung niedergeschrieben werden sollte.

Der Kapitalist, ein Deutschjude, der wie immer zuerst das Wort ergriff, drückte seine Verwunderung aus, daß man überhaupt Zweifel hegte und nicht ganz selbstverständlich die schöne, reine, reiche, deutsche Sprache wählte.

»Wie sollen wir denn anders sprechen als deutsch?«

Hierauf entgegnete sein eingefleischter Gegner, der russisch-jüdische Student in der schwarzen Bluse:

»Erstens ist es zweifelhaft, ob alle die deutsche Sprache beherrschen, zweitens bin ich überzeugt, daß die Mehrheit der Versammlung für die Benutzung der russischen Sprache ist. Für mich ist es so klar, wie das Einmaleins.«

»Przepraszam – Verzeihung –« versetzte der Pole mosaischen Glaubens, »ich protestiere entschieden gegen die Sprache der Moskowiter! Meine erlauchten Kollegen sollten meiner Anregung folgen und die polnische Sprache wählen, die Sprache der großen polnischen Dichter, in der Mickiewicz sein klassisches Werk ›Pan Tadeusz‹ geschrieben hat.«

»Merci beaucoup,« bemerkte die Dame, »wer versteht denn die Sprache des Mickiewicz? … Meiner Meinung nach sollen wir die französische Sprache wählen, die Weltsprache der Diplomaten. Gibt es eine schönere Sprache als die französische? … In jeder besseren Gesellschaft wird französisch gesprochen …. Messieurs, parlez francais, s'il vous plait!«

»Ladies and gentlemen,« begann der Amerikaner seinen ›Speech‹, einen Finger unter die Weste steckend und einen Fuß vorstellend, »excuse – entschuldigen Sie gütigst, wenn ich einige statistische Zahlen anführe. Welche Sprache wird am meisten in der Welt gesprochen? Die englische! Es ist bekannt, daß drei Viertel der ganzen Menschheit englisch spricht. Zu diesen gehören die 600 Millionen der amerikanischen Bevölkerung!«

»Wo nehmen Sie 600 Millionen Amerikaner her! Aus der Geographie glaube ich mich zu erinnern, daß die Amerikaner nicht mehr als …« begann einer von uns, – ich gestehe, ich war es selbst …

Ich glaubte, den Amerikaner zu beschämen, aber er sah mich von oben herab an und fuhr lächelnd und ohne seine Haltung zu ändern fort: »Mister, Sie werden excuse, aber ich rate Ihnen, Ihre Geographie ins Meer zu werfen! Woher stammt Ihre Geographie? Aus Europe! All right!«

Er war der frechste Mensch, den Gott je geschaffen hat. Alle Blicke richteten sich auf mich, ich wäre am liebsten unter die Erde gekrochen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als die Lippen zusammenzubeißen und zu schweigen.

Der Amerikaner setzte aber seine statistischen Ausführungen fort und warf mit Millionen um sich. Er behauptete, daß eine Milliarde und zweihundert Millionen Menschen auf der Erde lebten, darunter 600 Millionen englisch sprechende Amerikaner, 400 Millionen in England, 800 Millionen in Indien, 300 Millionen in Australien, 200 Millionen in Europa und anderen Ländern, – also die Zahl der englischsprechenden Menschen war zweimal so groß, wie die Zahl der überhaupt in der Welt lebenden Menschen. Nachdem er mit den statistischen Angaben fertig war, stemmte er den Zeigefinger gegen die karierte Weste und wandte sich mit großem Pathos an die Anwesenden:

»Nennen Sie mir eine andere Sprache, die einen Shakespeare, Milton oder Byron aufzuweisen hätte! Ladies and gentlemen! Es wäre mehr als recht, wenn wir die englische Sprache als politische und nationale Sprache of the United States of the first Republic of Israel anerkennen würden.«

»Als nationale Sprache?« rief der Nationalist mit lebhafter Gebärde. »Schmach und Schande! Schämen Sie sich nicht, den Juden zuzumuten, sich auf eigenem Territorium einer fremden Sprache zu bedienen? Wozu haben wir denn unsere schöne, alte, heilige hebräische Sprache? Es ist eine Schande, daß die Juden sich für Mickiewicz, Milton und Byron begeistern und ihre eigenen Dichter vergessen! Wo bleibt Jesaias, Jeremias, Hesekiel? Ich frage, wie lange werden wir noch Sklaven sein, die nur Fremdes, nicht Eigenes anerkennen? Warum nehmen wir uns nicht unserer eigenen heiligen Sprachen an? Wir dreizehn sollten einen Gott, einen Glauben, eine Lehre, eine Sprache, eine Geschichte, ein Land haben!«

»Bravo!« rief der Zionist. Der Idealist und der Orthodoxe stimmten in den Ruf ein. Auch die Frau sang die Zionshymne mit: »Noch haben wir die Hoffnung nicht verloren!«

Um allen Streitigkeiten wegen der Sprachenfrage zu entgehen, schlug der Territorialist die Ausarbeitung einer allgemeinen Weltsprache, einer Art Esperanto, vor. Aber bevor die Anwesenden sich dazu äußerten und sich womöglich bereit erklärten, diese neue Arbeitslast auf sich zu nehmen, meldete ich mich zum Wort:

»Ich glaube, wir brauchen keine Weltsprache zu suchen, denn wir haben in unserem jüdischen Jargon bereits eine allgemein verständliche Sprache!«

»Der Jargon, diese schmutzige Gassensprache der Ghettodialekt, die Gaunersprache!« Diese Schimpfworte flogen mir von allen Seiten zu. Doch ich fuhr unbeirrt fort:

»Unser Jargon wird in der ganzen Welt verstanden! Grammatische Schwierigkeiten kennt er nicht, – er steht mit der Grammatik immer auf Kriegsfuß –, und zu studieren braucht man die Sprache nicht erst, weil man sie kennt! Ich bin mit dem Jargon durch die ganze Welt gekommen, bis nach Amerika … Die Leute lachten immer, wenn ich sprach, – also ein Beweis, daß sie mich verstanden! Wir wollen also unsere jüdische Volkssprache – das Volapük – wählen!«

Allen Meinungsverschiedenheiten über diese Frage wurde durch einen seltsamen Zwischenfall ein Ende gemacht.

 

Dreizehn Gefangene

Es muß zugestanden werden, daß wir dreizehn Robinsons einen großen Fehler begangen haben. Nachdem das Meer uns hinausgeworfen hatte, hätten wir eigentlich nachforschen sollen, in welchem Land wir uns befanden. Wir wären vielleicht auf die Spur von Menschen und Tieren gestoßen und wären nicht in die Versuchung gekommen, Bananen zu pflücken oder verirrte Ziegen zu melken.

Der erste, der uns wiederholt darauf aufmerksam machte, daß wir uns auf einem von lebendigen Wesen bevölkerten Land befanden, war der Proletarier. Er erzählte mehr als einmal, daß er jenseits des Berges Schüsse vernahm, aber wir lachten ihn immer aus. Eines Tages teilte er uns mit, daß mehrere Ziegen fehlten, aber wir achteten wieder nicht darauf. Als er eines Tages berichtete, daß jemand in der Nacht die Milch ausgetrunken hatte, bemerkte jemand scherzend: »Wahrscheinlich der heilige Geist!«

Der Arbeiter, der zu mir ein besonderes Vertrauen gefaßt hatte, versicherte mir, daß er in der Nacht Schritte gehört und des Morgens frische Spuren im Rasen bemerkt habe. »Es waren sicher Diebe hier!«, sagte er, »ich konnte sie aber nicht fassen!«

Während wir den Fall eifrig erörterten, wuchs plötzlich eine fremde Gestalt wie unter der Erde hervor, eine zweite, dritte …. lauter wilde Gestalten mit hohen Kopfbedeckungen und langen Peitschen, scheinbar Hirten, mit zornigen Gesichtern und langen Bärten, wie türkische ›Baschibusuken‹.

Wir flüchteten instinktiv zu unserem Beschützer, dem Proletarier, dessen Ausrüstung in einem langen Stock und einer Anzahl Steine bestand. Was konnten wir gegen die Truppe Wilder anfangen, die uns so plötzlich überfallen hatte? Wir taten dasselbe, wie der große Napoleon im Jahre 1812, als er einsah, daß er in eine Sackgasse geraten war. Auch wir dreizehn Präsidenten der dreizehn Vereinigten Staaten streckten das Gewehr und ergaben uns dem Feind. Wie gewöhnlich trat unser Aristokrat vor und erkundigte sich in seinem hochdeutschen Dialekt bei den Wilden mit großer Zuvorkommenheit nach ihrem Begehr. Falls sie etwa Kontribution verlangten, sei er bereit, ihnen einen Scheck auf Berlin, Paris, London oder St. Petersburg auszustellen. Aber die Wilden schienen wenig von seiner Rede zu verstehen. Nach ihm trat der Sozialist in der schwarzen Bluse hervor und fragte sie kurz auf russisch: »Schto nado? – Was wünscht Ihr?« … »Was reden Sie mit den Leuten in Ihrer verdammten Sprache?« rief der Amerikaner und hielt den Wilden eine lange Rede, von der ich nur die Worte: »gentlemen« und »dollars« verstand. Die Wilden standen mit weit aufgerissenem Mund da und schauten einander an, als wollten sie sagen: »Der Mann da spuckt um sich und glaubt zu sprechen!« … Da kam die Dame mit ihrem diplomatischen Französisch. Die Wilden schmunzelten, ließen sie aber nicht zu Ende sprechen, sondern sie zeigten auf die Ziegen und radebrechten etwas in einer Sprache, die nur sie selbst verstehen konnten. Wir vermuteten aber, daß es sich um die Ziegen handelte, die wir ihnen fortgelockt hatten.

»Vielleicht stammen sie von Juden,« meinte der Nationalist, »ich las einmal, daß es im Kaukasus Juden gibt, die wie die Wilden gekleidet gehen, jüdisch getauft sind und hebräisch sprechen …« Er näherte sich dem Ältesten und begann in hochpoetischer Sprache auf ihn einzureden. Die Wilden hörten ihn zwar bis zu Ende an, aber sie haben wohl nichts verstanden, denn sie zeigten wieder auf die Ziegen, knallten mit ihren Peitschen und riefen »Heida!« Wir faßten das als ein Aufbruchzeichen auf.

Bei anderer Gelegenheit hätten wir sicherlich darüber beraten, wer zuerst gehen sollte, aber jetzt gab es keine Zeit zu verlieren, wir dreizehn Gefangene machten uns also alle mit den Wilden und den Ziegen auf den Weg. Der Weg war steil und anstrengend, er führte durch dichten Wald … Jeder war sehr bald in seine Gedanken versunken. Ich weiß nicht, was die anderen dachten, aber mir gingen sämtliche einst gelesenen Geschichten durch den Sinn, die von gefangenen Europäern handelten. Alles schien sich jetzt zu verwirklichen. Die Wilden fesselten uns zwar nicht, sie warfen uns auch nicht ins Feuer, um uns zu einem beefsteak zu braten – wie es von den Hottentotten heißt … Aber das hätte leicht passieren können! Wer hätte sie zum Beispiel verhindern können, aus den Präsidenten der dreizehn Vereinigten Staaten einen Braten zu machen, uns alle aufzuspießen und um uns herum wilde Tänze aufzuführen?! Jeder von uns dankte für den Augenblick, den man ihm zu leben gönnte. Wir marschierten gesenkten Hauptes, ohne einen Laut hervorzubringen, niemand wußte wohin, – wie eine getriebene Herde …

 

Das Ende der Dreizehn

Die Welt ist nicht verrückt. Wenn in der Welt behauptet wird, daß dreizehn eine schlechte Zahl ist, so ist etwas Wahres daran. Ich kenne Menschen, die nicht in ein Haus mit Nr. 13 ziehen würden, die am dreizehnten nie eine Reise antreten und die es für ein Unglück halten, dreizehn Kinder zu haben. Ich bin derselben Meinung. Unser Schicksal auf der Dreizehninsel bestätigt mir die Wahrheit dieser Behauptung.

Als wir auf dem Schiff bekannt wurden, waren wir dreizehn. Als der Sturm sich erhob, das Schiff zerschellte und das Meer uns hinausschleuderte, waren wir auch dreizehn. Wie wir uns auch drehen und wenden mochten, überall verfolgte uns die Zahl dreizehn.

Wir waren also in die Hände von Wilden mit langen Bärten und großen Peitschen geraten und ließen uns mit der Ziegenherde treiben, die uns so treu mit Milch versorgt hat. Wie gehorsame Schafe, ohne ein Wort zu wechseln, gingen wir dahin, unglücklichen Prinzen gleichend, die aus ihrem Land vertrieben und in Gefangenschaft geraten sind. Dunkel lag die Zukunft vor uns. Wir ahnten nicht, was uns zustoßen würde, noch bevor die Sonne unterging. Kein Wunder, daß wir so unmutig und finster dreinschauten und keinen Laut von uns gaben. Wir hörten nur unsere eigenen Schritte, das Meckern der Ziegen und den Peitschenknall der Wilden, die uns von Zeit zu Zeit zum schnelleren Gehen antrieben.

Wir waren etwa fünf Meilen gegangen, immer bergauf, durch Wald und über Steine. Als wir den Wald verlassen und jenseits des Berges angelangt waren, bot sich unseren Blicken eine neue Welt mit Straßen und Häusern, mit Bahnen, Fabriken und Menschen. Wie traurig unsere Lage auch immer sein mochte, ergriff uns doch solche Freude, daß wir einander am liebsten umarmt und geküßt hätten. Was immer auch mit uns geschehen sollte, – es lebte in uns die Hoffnung auf, unsere Angehörigen wiederzusehen. Als wir die Kinder mit den Büchern unter dem Arm kommen sahen, traten uns die Tränen in die Augen … Tränen der Freude …

Als die Jugend die dreizehn gefangenen fremden Menschen sah, die in Begleitung der Wilden mit den langen Peitschen und der Ziegenherde ankamen, blieb sie stehen und brachte uns eine seltsame Huldigung dar. Sie verfolgte uns auf Schritt und Tritt und schrien unausgesetzt in ihrer wilden Sprache unverständliche Laute. Wir waren glücklich, als man uns zusammen mit den Ziegen in einen Hof einschloß und auf diese Weise von der Strolchbande befreite. Auf dem Hof wurden wir untersucht, ob wir keine Waffe bei uns führten und zu diesem Zweck sehr höflich entkleidet. Durch diese menschliche Behandlung ermutigt, fanden wir unsere Sprache wieder und versuchten, uns zu wehren. Zuerst trat der Sozialist mit einem Protest in seinem russischen Dialekt hervor und erklärte, daß es eine große Schweinerei wäre, an friedlichen Bürgern einen Gewaltakt auszuüben. Auch der amerikanische Gentleman erhob Widerspruch. Aber die Proteste richteten nichts aus. Nach der Leibesuntersuchung wurden wir in ein Haus geführt, das wahrscheinlich das Gerichtsgebäude war. Ich erriet es an den wild und eigenartig ausschauenden Gendarmen, die uns zugewiesen wurden. Sie trugen wunderliche, hohe Helme auf dem Kopf. Als ich zur Seite blickte, gab mir der Gendarm zu verstehen, daß ich schneller gehen müsse. Wahrscheinlich hatten sie es mit der Untersuchung sehr eilig.

Wir wurden in einen schönen Saal geführt und auf dreizehn weiche Stühle gesetzt; solcher Sitzgelegenheiten hatten wir uns schon lange nicht mehr bedient. Ein alter Herr von würdigem Aussehen, mit einer Blume im Knopfloch, begrüßte uns freundlich und richtete an uns eine Frage in seiner wilden Sprache. Er war wahrscheinlich Präsident oder Gouverneur. Als er merkte, daß wir ihn nicht verstanden, klingelte er einen der Gendarmen herbei, voraussichtlich, damit er einen Dolmetscher heranschaffte. Es dauerte nicht lange, und es erschien eine kleine, schwarze Gestalt mit Glatze, eine Brille auf der Nase, mit langen Nägeln, einem dünnen Schnurrbart, ein Mann mit feinen Manieren – ein echter Europäer. Er stellte sich uns in mehreren Sprachen als Gelehrter und Sprachforscher vor, der mehr als dreizehn Sprachen verstand, scheinbar ein Jude, ebenso wie wir. Denn wo sonst mag es in der Welt Menschen geben, die dreizehn Sprachen verstehen, ohne eine einzige zu beherrschen?

Es dauerte eine ganze Weile, bis der Sprachforscher uns und wir den Sprachforscher verstanden. Von sämtlichen dreizehn Sprachen schien der jüdische Jargon ihm am geläufigsten zu sein, weil (wie uns der Forscher erklärte) im Jargon sämtliche Elemente der Weltsprachen enthalten sind.

Nach langem Hin- und Herreden erfuhren wir, daß wir laut Gesetz des Landes folgender drei Vergehen beschuldigt wurden:

  1. Wir seien Spione, die das Land auskundschaften wollten;
  2. wir hätten ein fremdes Territorium besetzt; und
  3. wir hätten uns an fremden Ziegen vergriffen und uns ihrer Milch bedient.

Welche Strafe wir für diese Vergehen zu gewärtigen hatten, konnten wir nicht wissen, doch es war uns klar, daß es keinen Honig zu lecken geben würde. Das Schlimmste war, daß man uns als Spione betrachtete. Man weiß, daß Spione in unserem zivilisierten Land barbarisch behandelt werden; wie schlimm mußte die Strafe in einem wilden Land ausfallen, wo es an Stelle des Gerichtsgebäudes einen großen, säuberlichen Hof gab und wo an Stelle des Richters ein Gouverneur saß. Ich habe mehr als einmal gelesen, daß die wilden Völker mit Spionen nicht viel Umstände machten; sie schlagen ihnen im Nu ein Paar Finger ab, reißen ihnen die Zunge aus dem Mund und lassen sie dann frei … Ein Glück, daß uns die Möglichkeit gewährt wurde, uns zu verteidigen.

Wir gaben uns die größte Mühe, die ganze Begebenheit von Anfang bis zu Ende dem Dolmetscher zu schildern, wie der Sturm uns ins Meer warf, wie wir uns an ein Brett klammerten und drei Tage und drei Nächte daran festhielten, bis uns das Meer schließlich hinauswarf, in ein Land, von dem wir nicht wußten, wie es hieß und wo es sich befand.

Wir waren in derselben Lage, wie Robinson Crusoe … Ohne die Bananen und Nüsse, die wir auf den Bäumen fanden, ohne die Ziegen, die fast von selbst zu uns gelaufen kamen und fast danach schrien, gemolken zu werden, wären wir längst dort gelandet, woher niemand zurückkommt.

Der Gouverneur hörte uns geduldig an, dann richtete er an den Dolmetscher eine Reihe Fragen, die ich hier wörtlich wiedergebe: Der Gouverneur: »Warum habt ihr die ganze Zeit jenseits des Berges verbracht? Warum habt ihr nicht versucht, tiefer ins Land einzudringen?«

Wir: »Wir haben uns hier niedergelassen und das Land zwischen uns geteilt.«

Der Gouverneur: »Womit habt ihr euch befaßt?«

Wir: »Mit der Organisation unserer Gesellschaft.«

Der Gouverneur: »Worin bestand eure Organisation?«

Wir: »Wir teilten das Land in dreizehn Kolonien, begründeten dreizehn Vereinigte Staaten, wählten dreizehn Präsidenten und arbeiteten dreizehn verschiedene Konstitutionen in dreizehn verschiedenen Sprachen aus.«

Der Gouverneur: »Gehört ihr dreizehn verschiedenen Nationen an? Habt ihr dreizehn verschiedene Glauben?«

Wir: »Das gerade nicht. Wir gehören alle dreizehn ein und demselben Volke an, wir haben alle dreizehn ein und denselben Glauben, wir dienen alle ein und demselben Gott.«

Der Gouverneur: »Wie kommt ihr zu dreizehn Sprachen?«

Wir: »Daran ist unsere Geschichte schuld. Wir sind in der ganzen Welt zerstreut, befinden uns in verschiedenen Ländern, unter verschiedenen Völkern und reden in verschiedenen Sprachen.«

Der Gouverneur: »Was für ein Volk seid ihr denn? Was für eine Nation? Welchem Gott dient ihr?«

Wir: »Wir sind Juden.«

Der Gouverneur: »Israeliten?«

Wir: »Ja, Israeliten.«

Der Gouverneur: »Seid ihr das Volk, das von Abraham, Isaak und Jakob abstammt? Hattet ihr das Land, das Zion hieß? Einen König namens Salomo? Einen Propheten, der Jesaias hieß? Einen Tempel, den die Römer verbrannten? Und hat man euch in alle vier Winde verjagt? O, ich habe in unseren Büchern viel über euch gelesen … Wir alle wissen von euch aus den Büchern, eure Bibel gilt bei uns als heilig. Schwört mir bei eurer Bibel, daß alles, was ihr hier geschildert habt, wahr ist, dann lasse ich euch frei …«

Wir schworen selbstverständlich alle, ohne Ausnahme; auch der amerikanische Atheist, der sich stets rühmte, nicht an Gott zu glauben, und der Sozialist, der nicht viel auf diese Dinge gab, beteuerten mit uns anderen, daß wir die reinste Wahrheit gesprochen, nichts übertrieben hätten und daß wir harmlos und unschuldig seien …

Nachdem der Gouverneur unseren Schwur vernommen, schrieb er etwas auf einen Bogen Papier, dann richtete er sich auf und las uns den Urteilsspruch vor, den der Dolmetscher wörtlich wie folgt übersetzte: »Mir wurden heute dreizehn Fremde vorgeführt, die in unserem Land, jenseits des Berges mit einer Herde gestohlener Ziegen abgefaßt worden sind. Die Anklage gegen die dreizehn Fremden bestand in folgenden drei Punkten: Erstens, daß sie Spione sind, die das Land auskundschaften wollen; zweitens, daß sie unser Land ohne unser Wissen an sich gerissen haben; drittens, daß sie sich nachts zu unseren Hirten eingeschlichen und unsere Ziegen entführt haben. Nachdem wir vom Dolmetscher die Einsprüche vernommen haben und angesichts der Tatsache, daß die Fremden von dem biblischen Volk abstammen, das seit tausenden Jahren für seine Sünden durch alle Länder zieht, ohne ein eigenes Vaterland zu besitzen; angesichts dessen, daß die unglücklichen Wanderer vom Sturm überrascht und auf unser Festland hinausgeschleudert wurden, das sie für eine unbevölkerte Insel hielten, – so daß sie provisorisch dreizehn Kolonien und einen Staat, eine kleine Republik mit dreizehn Vereinigten Staaten gründeten, bis das Schicksal sich ihrer erbarmen würde, ein Schiff zufällig erschiene oder irgend ein glücklicher Zufall sich ereignete..; angesichts dessen, daß unsere törichten Ziegen sich zu den Einwanderern verirrten, die keine andere Nahrung hatten, als Ziegenmilch und Früchte von unseren Bäumen, – erkläre ich hiermit, daß die dreizehn angeklagten Ansiedler erstens keine Spione sind, zweitens kein fremdes Land an sich gerissen haben, drittens keine fremden Ziegen gestohlen haben. Deswegen verkünde ich, daß die angeklagten Ansiedler aus dem Gefängnis zu entlassen sind.« Nachdem der Urteilsspruch verlesen war, befahl der Gouverneur, daß wir in ein Nebenzimmer geführt werden, wo wir zu essen und zu trinken bekommen sollten. Wir wurden also in ein großes, helles Zimmer geführt und an einen langen Tisch gesetzt. Hier sollten wir uns Speisen geben lassen, jeder wonach es ihn gelüstete. Jeder wählte selbstverständlich sein Lieblingsgericht. So bestellte der reiche Fabrikant, unser Kapitalist, ein frisches Beefsteak, der Strenggläubige einen Eierkuchen, der Nationalist gehackte Leber mit Schmalz, der Warschauer Intelligent, der Pole mosaischen Glaubens, unser Assimilant, wählte zwei polnische Gerichte: Fische auf jüdische Art und Gekräusel auf polnische Art. Der Zionist ließ sich Karmelwein geben, leichten Alikante, der Sozialist endlich mit der schwarzen Bluse bestellte in seinem jüdisch-russischen Dialekt etwas, das sich wie »Wudki« anhörte. Der amerikanische Gentleman verlangte in seinem amerikanischen Jargon ein Gläschen Brandy, ein paar Sandwiches, ein Plumepudding, eine Limonade, zwei »Oranges«, ein Gläschen Jamaica und sonst nichts. Die Dame ließ sich Biskuits, Eiscreme und ähnliche Süßigkeiten, die von den Frauen gern gegessen werden, geben.

Nach dem Essen führte man uns in die Gemächer des Gouverneurs. Er stellte uns seiner Frau vor, einer stattlichen Dame mit hoher Stirn, der er erklärte, daß wir die Nachkommen von Abraham, Isaak und Jakob seien, von denen er ihr aus der Bibel vorgelesen habe.

Man bot uns Nüsse und Bananen an, die wir nicht mehr riechen konnten, – aber wir mußten aus Höflichkeit zugreifen. Wir waren alle in bester Stimmung und hatten das Bedürfnis, dem Gouverneur und seiner Frau eine Schmeichelei zu sagen. Der Amerikaner verfehlte nicht, in einer langatmigen Rede dem Gouverneur zu versichern, daß er ihn nächst dem Präsidenten der »United States« für den größten Gentleman und seine Gemahlin für die größte Lady hielt. Nach ihm erhob sich der Orthodoxe und erklärte, daß er von nun an für den Gouverneur, seine Gattin und seine Kinder zu Gott beten würde. Dann erhob sich der Territorialist und drückte dem Gouverneur für den großartigen Empfang, den er uns bereitet, den tiefsten Dank aus. Er verkündete, daß er bei dem nächsten Territorialistenkongreß genau über alles berichten würde, was wir hier erlebt hatten, und darauf hinweisen, daß es für Kolonisationszwecke kein besseres Land gebe, als dieses hier. Unser armes, von den sogenannten zivilisierten Völkern verfolgtes Volk würde hier eine sichere Zufluchtsstätte finden.

Der Gouverneur dankte jedem Redner besonders, mit kurzen, aber freundlichen Worten und erklärte dem Territorialisten, daß er gegen eine Einwanderung nichts einzuwenden habe, da das Land laut Gesetz jedem ohne Unterschied der Nationalität und des Glaubens offen stände. Doch andrerseits hielt er es für unwahrscheinlich, daß wir hier ein passendes Land für unsere Brüder gefunden hätten. Nicht etwa, weil er etwas gegen das jüdische Volk hätte, das im Gegenteil stolz darauf sein dürfte, von solchen Patriarchen abzustammen, ein Buch wie die Bibel der Welt geschenkt zu haben, einen solchen Tempel, einen König Salomo und einen Propheten Jesaias gehabt zu haben … Aber in der Tatsache, daß unser Land an Fremde abgegeben wurde und daß wir so lange im Exil gelebt haben und über die ganze Welt zerstreut sind, sah er ein Zeichen Gottes, daß wir kein eigenes Land besitzen sollen. Er meinte, daß wir uns wahrscheinlich so schlimm gegen Gott versündigt hätten, daß es hieße, gegen den Willen Gottes handeln, wollte man uns ein eigenes Land geben … Und wer möchte sich gegen Gott auflehnen? …

So schloß der gütige Gouverneur mit einem heuchlerischen Lächeln und befahl seinen Dienern, uns mit verbundenen Augen auf ein Schiff zu bringen und nach einem ausländischen Hafen fortzuschicken.

Und so geschah es: Man verband uns die Augen, führte uns auf ein Schiff und beförderte uns nach einem ausländischen Hafen. In einer Ecke des Schiffes sitzend, dachte ich darüber nach, wie groß unser Gott ist, der eine so große Welt schuf, auf der es kein Stückchen Erde, keine Stätte gibt für sein auserwähltes Volk Israel …


 << zurück weiter >>