Karl Adolph
Töchter
Karl Adolph

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Sechzehntes Kapitel

Zwei alte Freunde finden sich unter eigentümlichen Umständen. Die Rückkehr der verlorenen Tochter. Poldi bewährt sich bis zum Ende.

Wie im ersten Kapitel webt die Idylle um die stille Gasse des Kutscherstandplatzes. Es ist im Äußern noch alles wie einst. Nur keine schimpfende Stimme befördert mehr die Schläfrigkeit eines heißbrütenden Sommertages. Und außer Herrn Brückl haben noch zwei oder drei den Standplatz verlassen, um ihn mit einem Liegeplatz zu vertauschen. In sechs Jahren gibt es gewaltige Änderungen. Und diese sind seit den letztgeschilderten Ereignissen verflossen. Der ehemalig hemdärmelige Kellnerjunge ist nun schon ein flotter Kellner geworden, das Küchenmädchen hat sich verheiratet, Wirt und Wirtin sind röter und umfangreicher geworden: das sind in Summa die Ereignisse der letzten Jahre für den Standplatz und sein Gasthaus.

Gustl thront, wie er immer tat, auf der Bank, nicht wie sein Zeugvorgänger auf dem Bocke oder im Fond 401 des Wagens. Herrscher werden geboren und der Sedlmaier hatte Zeit seines Lebens weder Beruf noch Neigung zu irgendeiner herrschenden Tätigkeit verspürt, es sei denn über seine Pferde.

Und diese waren zurzeit noch die beiden wackeren Rappen des weiland »Kellerlacher«, von Gustl mit der Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit betreut, die man Kleinodien angedeihen läßt.

Gustls körperliche Schönheit hatte noch einige Schritte in absteigender Linie getan. Aber das hinderte nicht, daß er allseits als Respektsperson betrachtet wurde. Denn Gustl war Besitzender geworden, und diese Rolle in der Gesellschaft ist bekanntlich diejenige, die sich vorzüglich auf jeden Leib schreiben läßt und ihren Träger unter allen Umständen des Beifalls sicher werden läßt. Aber der Sedlmaier verdankte seine Beliebtheit nicht allein diesem Umstand, sondern seinem Charakter, der in seiner Lauterkeit, Treue und Hingebung an Freunde alle körperlichen Mängel weit aufwog.

Das zweite Zeug war nun Besitztum des »Erdzeisl« geworden. Gustl hatte solche Zahlungsbedingungen gestellt, daß der Kauf einem Geschenk sehr nahe kam. Er wußte, daß er in Toberls Sinne handelte, der dem Freunde ganz einfach, ohne Verklausulierung die Ausführung seiner letzten Wünsche übertragen hatte. Zum erstenmal im Leben hatte Gustl seiner »Alten« und seinem »Madl« einen energischen, unbeugsamen Widerstand entgegengesetzt, da beide nach Frauenart von Großmut in Geldsachen nichts wissen wollten.

402 »Das is 'n Toberl und mei Sach'n, verstanden! Was d'r Toberl will, is m'r heilig und wann alle Weiber was anders sagerten!«

Der gutmütige Schwiegersohn, der mit dem Schwiegervater im besten Einvernehmen lebte, hatte zugestimmt. Und so hatte der »Erdzeisl« ein Zeug und eine Frau und einen reichen Schatz von Dankbarkeit gegen die ehemalige »Standratschen«, die seit dem bewußten Testamentstag niemals mehr Gelegenheit nahm, ihrem Namen Ehre zu machen.

Also Gustl saß auf der Bank und sah mit zärtlichen Blicken auf seinen Wagen und seine Rapperln. Da störte ihn eine kindliche Stimme auf.

»Otatta! Otatta!«

Annerl war gekommen, an der Hand einen dreijährigen Knaben, der nach dem Großvater hinstrebte. Ja – es war ein Bub geworden, etwas verspätet zwar, aber der Erbe war vorhanden. Gustl eilte dem Kleinen entgegen, hob ihn hoch und ließ ihn strampeln. Nachdem er ihn wieder zur Erde gestellt, warf er auf die teilnahmsvoll herbeigeeilten Kollegen Blicke voll Triumphs.

Der Kleine war nämlich Liebling des Standplatzes und so oft seine Mutter mit ihm auf einem Spaziergang am Standplatze anlangte, bemühte sich alles um die Gunst des Knirpses. Es schien zu einer Art erheiternden Programmpunktes zu gehören, den Enkel des Sedlmaier-Gustl um seine Absichten wegen seiner künftigen Berufstätigkeit zu befragen.

»Feischacker und Faker« lautete die äußerst bestimmte Antwort, die den Großvater jedesmal 403 dermaßen in Entzücken versetzte, daß er sich auf die Bank niederlassen mußte, um vor Lachen nicht umzufallen. Dann ward der mittelbare Sproß aus seinen Lenden auf einen der Rappen gehoben und er durfte »Hotto« machen.

Und die Mutter, die äußerst rund geworden war und das Ebenbild ihrer Mutter zu werden versprach, strahlte in einem Übermaß von Wonne.

»Standratschen« (der ich diesen Namen zum allerletztenmal verleihe)! Annerl! Standplatz! Standgasthaus! – ich verlasse euch mit Beruhigung. Lebt wohl! Lebt herzlich wohl!


Ich bin ihnen oft begegnet, den einst schönen Mädchen, mit einem noch koketten Hute, auf dem eine traurige Feder nickte, einem abgelaufenen Schuhzeug und dem mit Kot verbrämten Saum des Kleides der ihrer durch alle Pfützen geschleppten Seele glich. – Ihrer Seele? O nein! Nur ihrem Körper oft ganz allein, denn die arme, noch ungeweckte Seele ahnte gar nichts davon, wie hoch der Saum ihres einst lichten Kleides mit Schmutz beworfen ward. Mit Schmutz, aufgewirbelt durch die unselig hastigen Schritte, die einem vermeintlichen Glücke entgegenführen.

Die Menschheit träumt gleich ihnen noch den Schlaf der Kindlichkeit wie die von Zivilisationsmenschen so schauernd genannten »Wilden«. Aber wie diese unter ihren scheußlichsten Opfermahltänzen unbewußt einem höheren Prinzip der Sittlichkeit zu dienen streben, so auch unsere armen Opfer einer sogenannten verfeinerten Kultur.

404 Durch Lachen von Blut und Tränen, heißt es, soll der Menschheit ihre Läuterung werden. Welcher Gott, welches Gesetz das geboten – die Erfahrung weist es uns stets aufs neue, daß wir diese Wege wandeln müssen. Und seien es still verblutende Herzen oder zerschmetterte Gebeine.

* * *

»Madl'n, schenkts ein! D'r Müller will heut amal lusti sein. Meiner Seel . . . geh laß das Werkl in Ruah'! Da hast dafür a Sechserl . . . aber heut bin i voller Hamur. Das haß i do dichten.«

»Geh, Muzi, gib ma was in'n Strumpf! Schau i hab' heut no nix verdient. Bist der erste, dem i a Busserl gib . . .«

»No glaubst, mir graust vor gar nix mehr? Da hast a Kranl und gib an' Fried'n.«

»Mausi . . . mir kaufst Zigarett'n o', gelt ja? Daß i aa a G'schäft mach'. A gar a so a stierer Tag is heut. Ka Mensch will mehr was auslassen. Und du bist a so a fescher Kerl . . . Geh laß d'r dein Schnurrbart a bißl drahn . . .«

»Da hast. A Kranl für Zigaretten. D'r Müller is heut amal hamurisch, net kramutisch, denn sunst . . . meiner Seel, wer in Müller kennt . . . Was is 's denn aber? Seids heut nur zwa? Sonst seids eucher drei?«

405 »Dö ane hat der Herr heut aussig'schmissen, weil s' fad' war im G'schäft. Waßt, Herzerl, beim G'schäft därf kane stier sein.«

»Das steht. Zu was kummert m'r denn eini?«

»Na und in letzten Moment is ane kumma. Du Herzerl . . . wann du dö sixt . . .«

»So hautschiach?«

»Was dir net einfallt! Sauber, daß d' uns gar nimmer anschau'n wirst. Aber – mir vergunnen ihr 's Saubersein. Waßt eh . . . 's Bluserl zerrissen, ka rechte Stimm' mehr, mit an' Abonnementschein am . . . waßt eh wohin. Gott sei Dank, mir san aber no g'sund am Brüsterl. Kan' anzigen Huaster no net. Jetzt waßt d', was i man' . . . Da kummt s' grad . . .«

»Reserl!!« – – –

Ja, es war Reserl, die dumme, törichte, verführte Reserl von einst. Und der sie auf den ersten Blick erkannt, trotz der Veränderung von Jahren, war Müller, der alte schlemmende Müller, dem Reserl und Katherl so manche Zuckerl- und Bonbonschachtel und so manchen »Feigenkranz« zu danken hatten.

Und der Ort des Wiedersehens war eines jener Kaffeehäuser, in deren einem Schani sein Ende gefunden.

»Müller!! – – –«

Reserl hatte es gerufen und war wie erstarrt stehen geblieben. Ja, sie war schön geworden. Die Familienähnlichkeit mit Poldi war frappant. Aber Reserl sah krank aus, sehr krank. Ihre Augen waren 406 fiebernd. ihre Stimme hatte heiser geklungen, als sie »Müller!« gerufen hatte.

Dieser stand eine Weile ebenso starr als Reserl und beide sahen sich mit Blicken an, in denen ein ganzes Reich plötzlich erwachter Erinnerungen zu liegen schien.

Müller faßte sich zuerst.

»Madeln,« sagte er zu den beiden Heben, die vorher noch seine Beteuerungen gehört hatten, daß er heute ausnehmend lustig sein wolle, »ziagts enk z'ruck. Mit derer hab' i allani z' reden, und hübsch viel. Reserl,« wendete er sich an diese, »da setz' di zu mir her. Daß i dein alter Freund bin, wirst do wissen, du dummer Batsch, der amal das net glaub'n hat woll'n.«

Reserl, wie in einem Banne, folgte der Weisung und setzte sich zu Müller an seinen Tisch in dem um diese Zeit leeren Lokal. Die beiden anderen Mädchen, so sehr ihnen an der »Wurzen« zu liegen schien, begriffen doch, daß sich hier etwas Ernstes begab. Da sie im Grunde gutherzig und mitleidig waren und weibliche Eifersucht nicht ins Spiel kam, räumten sie die leere Bierflaschenbatterie hinweg und begaben sich in das andere Zimmer. Denn das hier war das Extrazimmer gewesen.

Lange Zeit starrte Reserl vor sich hin und Müller blickte sie mit großer Rührung an. Der Schwelger die Dirne mit so menschlicher Teilnahme, wie sie ein solcher sonst nie aufzubringen vermag.

»Seit wann bist du in Wien?« nahm Müller endlich das Wort.

407 »Seit zwa Monat'. Das is mein dritter Posten.«

»Und hast di gar net um jemand kümmert, der si amal um dir die Aug'n ausg'want hat. Um gar niemand?«

Reserl rührte sich nicht. Alle ihre einstige schrille Lebhaftigkeit schien hinweggetilgt. Man sah, daß ihre Kunst des Animierens nur in ihrer Schönheit bestehen mußte, außer wenn sie vielleicht reichlich getrunken hatte und die Trauer ihres zerschellten Lebens vergaß.

Die arme Reserl war ihrer Anlage nach nicht eine Dirne gewesen. Verruchte hatten ihre künstlerische Eitelkeit zu ihrem Falle ausgebeutet. Reserl hatte von einem Aufstieg zu den sonnigen Höhen der Kunst geträumt, und zwar von Höhen, die alle irdischen Genüsse des Luxus und Wohllebens verbürgten. Als sie im Netze zappelte, war es zu spät. Ein Kind in einer fremden Stadt, die Gefangene der sie Beaufsichtigenden, war sie bald ein wehrloses Opfer geworden. In den verschwiegenen Salons des Bordells, trunken gemacht, sang sie ihre heimatlichen Couplets, die von immer derberen, gepfefferten abgelöst wurden. Und die Ärmste . . . sie vermeinte noch in solchen Stunden ihrem »Genius« zu huldigen, wenn betrunkene Advokaten, Offiziere, Börsenjobber und Getreideagenten sich an ihrem falschen Gesang ergötzten und in einem noch falscheren Magyarisch über die dumme »Schwobin« Witze rissen.

Aber ihr Körper war begehrt. Wenn die Eltern und Poldi oft aus dem Schlummer schreckten in der rasenden Angst um den verirrten, verlockten Vogel, 408 ward die arme Reserl von einer Gemeinheit an die andere abgegeben.

Schmuck hatte sie sich nicht erworben. Herrliche Toiletten wohl, für die sie mit ihrem Körper zahlte, die nie ihr Eigentum waren und die sie zur Schuldnerin und Sklavin erniedrigten.

Endlich hatte sie einer der berüchtigten ungarischen Spielergrafen nach einem guten Beutezug ausgelöst ganz zu eigenem Gebrauch.

Reserl hatte sich unter der Pflege, die kostbarem Menschenfleisch wird, so schön entwickelt, daß der edle, ritterliche Ungar in einer sentimentalen Anwandlung beschloß, das »Madl« zu retten. Die »Rettung« erfolgte zwar in der Art, daß Reserl für eine bestimmte Summe gleich einer Sklavin an ihn verkauft wurde, aber sie war wenigstens die Sklavin nur eines Herrn. Und verhältnismäßig fühlte sich das arme Ding noch glücklich. Es hatte sich mit seinem Lose abgefunden, wie so viele tausend andere seiner Schicksalsgenossinnen aller Länder.

Eines Tages, vielmehr Nachts, hatte der edle Spielgraf einen enormen Verlust, der ihn zwang, diesen mit einem Schuß durch den Schädel auszugleichen. Nun war die Sklavin frei, aber von jener Freiheit, die wir im Leben alle besitzen, nämlich der, zu verhungern. Aber schöne Mätressen verhungern nicht. Es fand sich ein anderer Liebhaber für Weiberfleisch, der nach einiger Zeit bankerottierte, dann noch einer, ein Advokat und Abgeordneter, der schließlich mit den Gerichten in Konflikt kam und an einen Ort 409 gelangte, an dem er sich jeglichen Luxusgegenstandes zu begeben hatte.

Dann kam rasch ein Abstieg. Reserl wurde krank, mußte ins Spital, und als sie halbwegs genesen und ihre Ersparnisse aus besseren Tagen aufgezehrt waren, kam die Etappe des Animiermädchens in einem eleganten Hurenlokal mit Zigeunermusik bis in die Frühstunden.

Und eines Tages hatte sie das Heimweh erfaßt. Nach einem abermaligen Anfall der Krankheit, nun aller Mittel entblößt, war sie in die Stadt ihrer Kindheit gekommen. Was sie in der ihr und ihrem Wesen fremden Stadt sein mußte, konnte daheim im wohltuenden Schatten des Stephansturmes ebenfalls geschehen. Aber heim zu den Ihren wollte sie nimmer.

Es war nicht Reue, nicht Scham, die sie abhielten. Es war, so sonderbar es auch nach allen Erfahrungen, die Reserl gemacht, klingen dürfte, noch immer ein verstockter Trotz.

Das herbe Urteil über ihre Stimme, das »Gold in der Kehle«, den »Genius in der Brust« – sie hatte es noch nicht überwunden. Trotzdem sich die Lügenhaftigkeit und Schurkereien der »Fürstinnen« und des Professors so klar erwiesen hatten, in dies törichte Herz hatte sich der Glaube an eine künstlerische Sendung einmal eingenistet, um nie mehr ganz zu verschwinden. Den Sängerinnen billigte Reserl noch manches entschuldigende Moment zu. Der Schwester und Müller nicht.

War die Wunde auch schon lange minder schmerzend geworden – aber Reserl litt an einer 410 moralischen Krankheit, die oft unheilbarer ist als eine körperliche: an einem verbissenen Trotz, der, durch Eitelkeit genährt, im stillen immer weiterfraß.

Reserl wollte in Wien bleiben, unter Umständen, die ihr das Schicksal vorgezeichnet (wie sie sich gern einredete, gleich allen, die an ihrem Schicksal die schwerste Schuld tragen) und denen sie nun unter keinen Umständen mehr entrinnen konnte.

Nachfragen, die sie durch eine Berufsgenossin anstellen ließ, zeigten, daß die Eltern gestorben seien, der Bruder das Opfer eines Raufhandels geworden und daß Poldi eine glückliche, schöne Frau sei. Die Frau eines Künstlers.

Das verhärtete das arme, ohnehin verbitterte Herz noch mehr. Reserl wollte ihren Weg gehen, unbekümmert darum, ob sie der Schwester damit Schande bereite. Ja vielleicht sogar mit einer selbstsüchtigen, wehleidigen Schadenfreude.

Reserl also saß mit niedergeschlagenen Augen da und gab auf Müllers Frage keine Antwort. Der hub nach einer Pause wieder an:

»Du, Reserl, bei Gott, i schwör' d'r's – wia du damals uns all'n das antan hast – mir aa, verstehst mi? – da hab'n m'r glaubt, der Himmel is über uns eing'fall'n. Du dummer Batsch hast g'mant, dei Schwester und der Müller war'n deine ärgsten Feind' g'wesen. Schau mir hab'n uns ja alle denkt, daß so was dahinter sein kann, aber geg'n so a raffinierte Schufterei hat weder die Poldi, no i was ausrichten können. Der Müller is a Lump, a Drahrer, a Mensch, der eigentlich gar kan' richtigen Zweck hat. 411 Aber wann er aa a Diab. a Mörder war', so verzeihert eahm unser Herrgott no eher, wia er denen verzeih'n kann, die mit junge, unschuldige Madln solche G'schäft' machen. Die Poldi is a Heilige – red' mir nix dageg'n, und du warst a Bosnickl. I sag' d'r, wia's wahr is, weil i di gern g'habt hab', seit i di als klan's Madl kenn'. Sag' also Reserl – das was war, is vorbei; du hast an dem Ganzen nur die Schuld, wia wann si a Fratz d' Finger verbrennt, weil er justament zum haßen Ofen will – aber i man' nur, hast gar niemanden g'habt außer derer Butik?«

Reserl meinte hart: »Na – gar niemand.«

Müller war trotz allen Leichtsinns Menschenkenner genug, um die so leicht zu durchschauende Reserl in ihrem Groll zu verstehen.

»Und wann schon niemand, so deine alten Eltern, wann s' no am Leb'n war'n. Erinnerst di nimmer an a arme, alte Frau, die für di Tag und Nacht g'wasch'n hat, und an an' Mann, der amal für seine Kinder, zu dö du aa g'hört hast, in Arm verlur'n hat? Reserl – Schuft mein' Nam', wann i net heut no allweil an sie denk'. Deine Leut' war'n Ehr'nleut.« Und Müller, der nach Art aller Zechbrüder in jedem Lokal den Hut aufbehielt, lüftete diesen mit vieler Ehrfurcht.

»Sixt,« fuhr er nach dieser stillschweigenden Ehrung des Andenkens von »Muatta« und »Vatta« fort, »wann i a Lump und a Drahrer bin, geht's auf Gottes Erdboden kan' zweiten Menschen was an. I hab' neamd auf d'r Welt, ka schreierte Katz', als nur mi allan. Aber – wann i so Eltern g'habt hätt' wia 412 du, überhaupt nur Eltern, i war' ka Lump word'n. Um mi hat sie nia a Mensch so kümmert wia um di. Arm wart's, das is richti. Aber Schand' über die Familie hab'n nur zwa 'bracht: der Schani und du.«

Der sonderbare Strafprediger war seines Erfolges sicher. Er mußte erschüttern und die guten Instinkte des einst mißleiteten Kindes erwecken auf dem Wege einer ehrlichen Grobheit, gepaart mit Hinweisen auf das »Muatterl«, das dem rohesten Wiener Gemüt für heilig gilt. Ich denke, Schani hätte eine Beschimpfung seiner Mutter ebenfalls blutig gerächt, aus einer überwallenden schönen Empfindung heraus, er, der bei anderen diese Empfindung aus Mißachtung nicht voraussetzte.

»I hab's mit ang'seg'n,« fuhr Herr Müller nach einer gedankenschweren Pause fort, »wia ös armen Henderln verwahrlost seids. Und euchere Leut' hab'n das aa mit anseg'n müassen, ohne daß s' euch helfen hab'n können. Und damals . . .«

Müller, der den vorher abgenommenen Hut weit ins Genick gerückt hatte, zog ihn plötzlich tief über die Augen.

»Damals . . . wias d' das 'tan hast . . . i möcht' den Abend ka zweit's Mal mehr derleb'n, Reserl. Ös warts mei Familie, und was euch betroffen hat, hat aa mi betroffen. Aber was damals deine Leut' trieb'n hab'n um di . . .« Seine Stimme brach.

Es war eigen. Mit welchem Überschuß von Lebensfreude, wie er es nannte, war Herr Müller in dieses Lokal gekommen, der unverbesserliche Lump und Drahrer, wie er ja in so vielen Exemplaren 413 täglich und nächtlich zu sehen ist! Welche »Sensationen« erhoffte er sich von dem unsinnigen Heranschleppen von Getränken, die eigentlich weder ihm noch den bedienenden Mädchen mundeten, sondern die nur kraft eines geheimen Paktes hinuntergegossen wurden, um sich in Stimmung zu versetzen. In Stimmung für offiziell verbotene, aber heimlich geduldete Unsittlichkeit. In dieser liegt der Reiz, der von den Besitzern der betreffenden Lokale in unerhörter Weise ausgebeutet wird.

Also Herr Müller war gekommen, um in seiner Art Lebensfreude zu genießen. Was kümmerten ihn die, die ihm solche bieten mußten? Hätte er Reserl nicht gekannt, sie hätte auf sein Begehren, vom Alkohol gepeitscht, lustig, ausgelassen, gefügig werden müssen. Was hätte er sich darüber weiter den Kopf zerbrochen, welches verlorene Leben dem seinen für einige Stunden der Unterhaltung dienen mußte?

Hätte er es bedacht, daß es vielleicht auch Töchter seien, um die sich Mütter blind weinten und die Väter in tiefen, stummen Gram versenkten?

Reserl war nie das gewesen, was man gefühllos nennt. Sie war nur von kindischer Gedankenlosigkeit; unerzogen, unbeaufsichtigt, ungeleitet. Die reinen Triebe, die in Poldis Brust schlummerten, waren ihr zwar fremd, aber gewiß ebenso die Verderbtheit, die beispielsweise die Trümmler Tini beherrschte. Es waren wohl an sich ganz belanglose Ereignisse, die ihren Fall vorbereitet hatten. Vielleicht das erste, das Auftauchen der Trümmler Tini gelegentlich ihres geschilderten Debüts als Wohltäterin. Glücklichere 414 Verhältnisse hätten aus Reserl eine wohl eitle, lebenslustige, seichte, aber bei allem ehrbare, junge Dame gemacht.

Reserls Geschichte war eine Geschichte der Töchter des Volkes. Jener Geschöpfe, die erzeugt zu sein scheinen, um Sklavinnen entweder eines Berufes, eines Eheherrn oder eines Bordellwirtes zu werden. Ach, sie sind gar so arm, diese Töchter des Volkes, deren viele sich nur allzu früh dessen bewußt sind, daß ein schöner Körper die Anwartschaft auf ein luxuriöses Leben bedeute. Und trotz alledem – wie wenige von all den ungezählten Tausenden treten eigentlich aus dem Geleise der Ehrbarkeit heraus . . .

Also Herrn Müllers Stimme brach bei dem Gedenken an den damaligen fürchterlichen Augenblick, da Reserls kindischer Brief und ihr Verschwinden eine Familie in unfaßbaren Jammer versetzten. Wo mochte Herrn Handlgrubers kleine, geliebte Lentscherl weilen? Hatten er und seine Frau den Ausflug ihres nie mehr wiederkehrenden Zwitschervögelchens verwunden?

Reserl war krank, war mehr als das, sie war müde, und ihr Trotz war kein starker, festwurzelnder Baum mehr. Vielleicht hätte kein anderer und an keinem anderen Orte so auf ihre Erinnerungen zu wirken vermocht als gerade Müller, der »alte Lump«, mit dem die Mutter so oft schalt und den Reserl mit Katherl im Verein so oft tröstete.

Wenn ein Mann (ich denke beileibe nicht an Herrn Sedlmaier) weint, ist es Ausdruck höchster Qual. Weint aber ein Weib, ist es Erlösung. Und wenn auch Herr Müller sonst im Erzeugen von 415 Tränenflüssigkeit manchmal mit dem Sedlmaier Gustl wetteifern konnte, diesmal waren seine Tränen wackere Mannestränen und diese schossen in Reserls Augen über.

Sie hielt die Rechte vor die Augen und mit der anderen Hand tastete sie hilfesuchend nach der Müllers, ihres alten, guten Kameraden, dem sie einst so viele Zuckerschachteln und Feigenkränze zu verdanken hatte, und dem sie so oft in Zeiten katzenjämmerlicher Not liebreich beigestanden. – – –


»Jetzt hab'n m'r nur an' Weg: zur Poldi. Obwohl i scho a Jahr beinah' net durt g'west bin. Waßt d', Reserl, das war so: Du kennst mi do. A fermer Drahrer war i seit jeher, das steht. Aber amal, an an' Sunntag, reißt's mi Viech und i suach s' mit an' Mordstrum Kittel auf. Waßt d', net daß s' m'r was Unrechts g'sagt hätt'; aber ang'schaut hat s' mi, so herzlich und traurig, daß i momentan bin nüachtern word'n. Seit der Zeit hab' i mi nimmer hintraut. So g'schamt hab' i mi. Aber wann der Müller heut hinkummt, waß er, warum. Und d' Poldi, so haß i s' halt no immer, wird in Müller a gern seg'n an dem heut'gen Tag. Pack' di z'samm', Reserl! Ka Stund' bleibst mehr in der Butik. Kündigung hast kane, das andre is mei Sachen.«

* * *

»Gnä' Frau, sans Herr da mit Frail'n. Sagte, haßte Mille und will redens mit gnä' Frau selbe.«

416 »Aber gengan S', Sie Tschapperl . . . wia oft hab' i Ihner schon g'sagt, daß S' do a bißl an' Unterschied machen können zwischen an', der betteln geht, und zwischen an' Besuch. Hab'n S' die zwa vielleicht wieder richtig draußt am Gang stehen lassen?«

»Gehte su viel G'sindel um. Bin ich nachsichtig.« Fräulein Ludmilla glaubte, ihrer Wachsamkeit nur Genüge zu leisten, wenn sie jedem fremden Besucher die Tür vor der Nase zuschlug und dann ihrer Gebieterin von der fremden bevorstehenden Invasion Mitteilung machte. Das »nachsichtig« bedeutete in ihrer Ausdrucksweise vorsichtig sein.

Die schöne, junge Frau, die mit Recht einen Fehler des wohl schon längere Zeit aufgenommenen, aber vermöge seiner Urwüchsigkeit und Unbodenständigkeit mit den einfachsten Dienerregeln unvertrauten Hausgeistes ahnte, eilte zum Vorzimmer.

An die Falten ihres Kleides hing sich ein Püppchen von etwa vier Jahren, so lieblich, daß sein Anblick wohl das Herz des einbruchs- und mordgierigsten Gesellen gerührt hätte.

Am Gange harrten zwei auf das Wiederöffnen der Tür. Die schöne Frau tat selbst auf und erblickte vor allem Herrn Müller. Mit dem reizendsten Lächeln empfing sie ihn.

»Ja, Herr Müller, Sie san's? So selten machen S' Ihner? So kumman S' nur herein!«

Dann erblickte sie die von Müller getrennt abseits stehende Begleiterin. Nur einen Augenblick tat sich in den Zügen der jungen Frau ein stilles Erstaunen kund. Dann – ohne einen Laut, geschweige denn 417 einen Schrei – hatte sie die weibliche Gestalt erkannt und, das kleine Püppchen sanft von sich loslösend, umfing Poldi nach langen Jahren Reserl, die verschollene, so lange beweinte Schwester. Deren Trotz, wenn noch irgend eine Spur davon vorhanden, ward unter der Liebe und Schlichtheit dieses Empfanges hinweggetilgt.

Arme Reserl! So verwirklichten sich deine Träume von Heimkehr im Automobil, mit Schmuck, Diamanten und Brillanten behangen, nicht zu vergessen des Hutes der eigentlich der Hauptgegenstand zu sein schien in allen rosigen Zukunftshoffnungen kindischer Tage. Wie verschieden war die Wertung, die drei Väter dem Straucheln ihrer Kinder gegeben. Herrn Trümmlers verletzter Stolz, dieser nie verzeihende Spießerstolz auf den guten Namen, hätte seine Tini lieber im Sarge als in der Equipage gesehen. Der arme Herr Brückl hätte sein Kind lieber entehrt gewußt, wenn es ihm nur geblieben wäre. Und die Eltern Schaumann? . . .

»Waßt,« sagte Poldi zu Reserl später einmal in einer Stunde reuiger Beichte seitens letzterer, »d' Eltern san z'frieden 'gangen und haben dir alles verzieh'n. Und alle zwa war'n überzeugt, daß du wieder z'ruckkommen wirst und hab'n mir auftrag'n, i sollt' di guat aufnehmen. Das war bei mir net notwendig. Denn du warst ja damals so dumm und kindisch – und i hab aa viel Schuld dran g'habt, Reserl. Aber i hab's ja nur guat g'mant.«

Das war aber erst nach langer Zeit gesprochen worden, da Liebe und Sorgfalt die kranke Reserl dem Würgengel entrissen hatten. Denn zur Stunde, als Poldi und die Schwester und Müller vereint in einem 418 wirklichen, kleinen, aber künstlerisch vornehmen Musiksalon saßen, sah man erst die Zeichen der Verwüstung, die ein sechsjähriges Dirnenleben zurückgelassen. Ab und zu hüstelte Reserl und rote Flecken zeigten sich auf den Wangen.

Poldi berichtete über ihren Mann, dessen Ruf und Beliebtheit stetig zunahmen und dessen Einkommen sich immer mehr erhöhte. Ab und zu forschte Reserl gegen die Türe. Wo war Katherl?

Und dann tat sich die Tür auf, ein wunderschöner Backfisch stürmte herein, stutzte bei dem ihm fremden weiblichen Besuch und dann – ein Blick des Erkennens, ein Schrei und unter Schluchzen hing Katherl, deren natürliche Weichherzigkeit ihrer Kinderzeit sich nicht vermindert hatte, an Reserls Hals.

»Reserl,« schluchzte sie glücklich, »daß d' nur wieder z' Haus bist bei uns. Daß d' nur wieder da bist. O, daß m'r di nur wieder hab'n. Reserl . . . Reserl . . .«

Dann kam Julius heim, noch schöner, männlicher als jemals. Vor dem Schwager, den Reserl nicht kannte, hatte sie am meisten gezittert. Aber mit welcher Herzlichkeit empfing er die Schwester seiner geliebten Poldi. Mit welchem Takt überging er alles, was irgendwie beschämend auf den Gast wirken konnte.

Lange konnte Reserl nicht im Hause der Schwester weilen. Es war höchste Zeit – sonst wäre sie aus den Armen der Liebe und des Verzeihens in die eines trüben Engels geglitten. Reserl mußte fort, rasch fort. Dem Süden zu. Julius, zu dem Reserl mit Bewunderung, fast Andacht aufschauen lernte gleich wie zu 419 ihrer Schwester Poldi, dem einstigen geschmähten »Nahrermensch«, hatte alles veranlaßt.

Reserl genas. Nicht nur am Körper. Aus der ehemaligen schrillen Sängerin von Couplets war eine sinnende, stille Frau geworden.

Es gibt Familien, die im Mannesstamm enden wie die Familie Schaumann, deren letzter Sproß nie mit einem, nie mit dem kleinsten Gedenken bedacht wurde.

Und auch Poldi schien Neigung zu haben, das männliche Element in ihrer Familie auszuschalten. Sie hatte nun ein zweites Töchterlein!

Vielleicht entwickelt sich dereinst wieder eine Tragödie von Töchtern, aber die Geschichte der in vorliegendem Buche geschilderten Töchter hat ein fröhliches

 

Ende

 


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