Karl Adolph
Töchter
Karl Adolph

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Neuntes Kapitel

Poldi wird von einer Empfindung zur anderen gedrängt. Arme Mädchen dürfen nicht ungestraft schönen Erinnerungen nachhängen. Reserls Schicksal fängt an, sich zu entscheiden.

Es gibt Tage im menschlichen Leben, da sich die Ereignisse von Jahren in einige Stunden zusammenballen zu wollen scheinen. Ein Geschehnis verdrängt das andere: man vermeint, es müsse sich alles verschworen haben zugunsten oder Ungunsten, die Empfindung ist nur die, einer Reihe unerwarteter Tatsachen begegnet zu sein. Vielleicht daß eine an Eindrücken reiche verbrachte Nacht, die in den Tag hinüberglitt wie ein Spiel ohne Unterbrechung, uns allen Eindrücken gegenüber empfänglicher macht.

Poldi, deren in der Früh empfundenes Schlafbedürfnis angesichts des aufregenden Vorfalles gänzlich geschwunden war, und die sich von einem schönen Traume in eine öde, brutale, häßliche Wirklichkeit zurückgeschleudert fühlte, strebte nach Hause. Einmal wollte sie das Hochgefühl eines beinahe ganz freien Tages auskosten. Es trieb sie nach ihrem Heim wie 217 nach etwas Köstlichem, verglich sie es mit dem eben verlassenen Haushalt Rachels. Auf die armseligen Kreuzer dieses Kindes wartete eine ganze Schar hungriger Magen . . .

Poldi, die mit allen Fasern ihrer Liebe an den Ihren hing, schwor sich zu, eher untergehen zu wollen, als nachzulassen in der von ihr erkorenen Pflichterfüllung.

Ein ganz freier Tag! Wer von all denen, die ihr Leben lang über freie Tage verfügen können, weiß, was es im Sein einer armen Nähmamsell heißt, über einige Stunden verfügen zu dürfen, ganz nach eigenem Gutdünken, die sie sonst an dem öden, trostlosen Werktisch verbringen mußte! Sie, deren manchmaliger schüchterner Ausblick zu einem kleinen Stück Blau über den Dächern mit einer hämischen Rüge bestraft wird.

Poldi hörte noch den Tadel, als eine Arbeiterin sekundenlang die Arbeit sinken ließ und dieses kleine, winzige Stückchen Blau mit einem Seufzer der Sehnsucht anstarrte. Damals hatte das Fräulein Direktrice mit Schärfe bemerkt:

»Fräul'n Karolin, woll'n S' vielleicht das Blaue vom Himmel obischau'n? Es is nix zum seg'n drob'n, herentgeg'n desto mehr herunt' auf Ihnerer Arbeit. Unser Herrgott siecht liaber an' demütigen Blick nach unten, als daß ma eahm so frech ins G'sicht schaut. Bet' und arbeit' – das war allweil mei Losung. Und der Herr hat mir's reichlich zahlt. Sunst sitzert i net da in an' so an' christlichen Haus.«

218 Poldi war sich bisher dessen nicht bewußt, worin das Aufreizende aller Reden des Fräulein bestand. Sie fühlte nur etwas Niedriges, Hämisches, Giftiges. Sie lebte in der ihr anerzogenen Anschauung, daß alles Vorgesetzte eigentlich ein Teil Göttlichkeit sei. Aber heute hatte sie das Gespenst erwürgt, das Gespenst der unbedingten Unterordnung ohne Sinn und Verstand. Einer Unterordnung, die allein einer ausbeuterischen »Madame« und zu einem Bruchteil deren hündischer Kreatur zustatten kam.

Sie wunderte sich nur, daß die Folgen ihres Mutes nicht andere waren, denn sie hatte harte Worte gesagt.

Aber bei ihrer Klugheit konnte sie sich auch nicht verhehlen, daß bei einer geglückten Ausführung der Tat Rachels die Firma auf das unheilbarste kompromittiert gewesen wäre. Die Zeitungen hätten über das Motiv der unseligen Tat berichtet, die Kunden hätten sich vielleicht zu einem Teil zurückgezogen, kurz, Poldi hatte nicht nur allein ein Menschenleben gerettet, sondern, was für Madame wohl mehr war, einen Eklat verhindert.

Nun strebte sie nach Hause. Unterwegs wollte sie für Katherl etwas zum Naschen kaufen. Da erinnerte sie sich ihrer geleerten, schmalen Börse. Aber kein nachträgliches Bedauern, wie wir es oft nach dem ersten Überschwang der Geberbegeisterung tun, ließ sie an sich herankommen.

Wenn auch die Ausgabe für Poldis bescheidene Verhältnisse eine empfindliche war, so entschädigte 219 sie der Gedanke an den für wenigstens einen Tag gestillten Hunger der Kinderschar. Also schritt sie mutig und leichten Herzens weiter und war eben in der Durchquerung des Resselparkes begriffen. Da hörte sie in ihre Versunkenheit eine Stimme dringen.

»No, schöne Fräul'n, wo ras'n ma denn um dö Zeit umeranand?«

Vor Poldi stand Schani, der Bruder.

Es waren keine guten Blicke, mit denen sich die Geschwister ansahen.

Schani war das geworden, zu dem ihn ein Teil Naturanlage, ein Teil verwahrloster Erziehung gemacht: ein Plattenbruder. Der ganze Habitus kennzeichnete ihn als solchen. Das goldene Ohrringlein im rechten Ohr, eine karrierte Hose, ein Samtrock, detto Gilet, eine protzige goldene Uhrkette, ob echt oder unecht bleibe unentschieden, blank lackierte Schuhe und der bekannte, wie gefürchtete grünplüschene Hut. Am meisten jedoch kennzeichnete ihn der kalte, nichts schonende Blick des Strolches, der unbarmherziger blitzt als der Stahl, den er rücksichtslos in den Leib des Nächsten stößt, ohne Zorn, ohne Haß, ohne jede Erregung, nur um »a Hetz« zu haben oder aus Eitelkeit, um seinen Namen zu einem gefürchteten zu machen.

Längst schon wußte Poldi um das Schicksal dieses verlorenen Sohnes der Familie. Er war der Chef einer gefürchteten Margaretener Platte und dankte seinen Rang vor allem seiner unleugbaren, mädchenhaften Schönheit, die Dirnen aus Eifersucht in blutige Raufereien verwickelte, dann aber seinem kalten, 220 grausamen Sinne, der, mit gutem Beispiel vorangehend, seine Horde stets mahnte: »Nur a Herz hab'n«. Und dieses liebliche Wort hatte in solchem Munde eine unheilvolle grausame Bedeutung. »Ein Herz haben« hieß nichts anderes, als die Herzlosigkeit besitzen, einem anderen das Messer ohne Bedenken in die Rippen zu jagen.

Bis jetzt war Schani noch nie als Messerstecher eruiert worden. Er und seine Bande besaßen eine fast tückische Schlauheit. Das Messer, das eine Tat vollbracht, wurde niemals bei ihm gefunden. Er bewies, daß er nur zum Brotschneiden sich eines »Gulitschkas« bediene, eines Messers primitivster Sorte, das, aus schwachem Eisen, in einer hölzernen, rotangestrichenen Scheide steckt, wie es herumziehende Slowaken feilbieten und wie man es ohne allzu große Besorgnis einem Kinde in die Hand geben könnte. Obwohl die Polizei stets auf den Richtigen riet, konnte man ihm nichts anhaben.

Also Poldi wußte schon um die Qualitäten ihres Bruders, dessen in der Familie auch nie Erwähnung getan wurde, und ging mit stolz abgewendetem Haupte an ihm vorüber.

Hatte Schani die Verleugnung durch seine Schwester boshafterweise vorausgesehen oder fühlte er sich wirklich in dem gekränkt, was er Ehrgeiz zu nennen liebte, kurz, er schritt Poldi nach.

»Wannst d'r net auf d'r Stell' stehn bleibst, d'rlebst was von mir, daß d' di net umschau'n brauchst.«

Poldi, erschreckt durch die Drohung, die einem angekündigten Straßenskandal glich, blieb stehen. Dem 221 Bruder entging ein Zittern ihres Körpers nicht und er lächelte voll Befriedigung über sein, wie er vermeinte, herrscherhaftes Wesen. Er war gewohnt, Frauen vor sich zitternd stehen zu sehen. Freilich, was er unter Frauen verstand . . .

»Was willst eigentli von mir?« fragte Poldi, mit noch mehr Verachtung in der Stimme, als in ihrem Abwenden gelegen war.

»Was i will? Daß d' dein' Bruadan auf d'r Gassen anständig dankst für an' Gruaß. Dös will i. Und dann möcht' i wissen, was du um dö Zeit in dem Park umanandz'dübeln hast? Hast vielleicht a Randewuh mit dem langhaxeten G'stell, dem i amal in Wurf gib, wann i eahm no amal begegn'n, daß er kopfsteht am Trottoar oder auf d'r Straß'n – is ma all's an's. Alsdann sag', wo hatscht' denn in ganzen Tag umernanda? Is's mit'n G'schäft scho Habe die Ehre?«

Poldi starrte ihren Bruder durchdringend an.

»Wann jetzt i amal frag'n därf . . . Was treibst denn du den ganzen Tag? Für an' Cabskutscher is die Uniform zu schön. Möcht'st mir vielleicht Auskunft geb'n?«

»Dir? I . . . dir? Daß i net lach'! I, a Mann wir scho amal an' Weibsbild a Auskunft schuldi sein. Wo's d' in ganzen Tag umanandschlampst, möcht i wissen.«

Poldi wendete sich um und schritt weiter. Nicht Furcht, sondern Ekel trieb sie hinweg. Aber Schani, der plötzlich ein höheres Moralitätsgesetz entdeckt hatte, war nicht willens, sich so ohne weiters 222 abschütteln zu lassen »wia a Bua«. Er faßte Poldi am Arme.

»Stehn wirst bleib'n, wann i mit dir red', Besen ölendiger. Manst eppa, weilst mei Schwester bist? In der Art kenn i kan' Schiedunter. A Weibsbild wia d' andere is a Karnalli. Wo hast denn dei Büachl, Strichmensch, ha?«

In dem Augenblick fühlte er eine Hand, die sonst so lind und leicht und liebevoll war, schwer auf seiner Wange. Poldi hatte zugeschlagen, ohne Besinnen, fast ohne Erregung. Sie glich dem kaltblütigen Duellanten, der seiner Ehre das Leben opfert. Und Poldi hielt ihre Ehre selbst den Anwürfen eines verrohten Bruders gegenüber für zu hoch, um sie nicht nachdrücklichst zu verteidigen. Der größte Schimpf, der einem ehrenhaften, braven, auf seinen Ruf bedachten Mädchen angetan werden konnte – der eigene Bruder hatte ihn ihr angetan. Waren die Bande geschwisterlicher Zärtlichkeit stets nur allzu lose gewesen, in dieser Sekunde waren sie vollkommen gelöst.

Schani war vor dem Schlage einige Schritte zurückgetaumelt. So war er noch nie gezüchtigt worden. Obwohl er zurzeit gerade keinen Zeugen seiner Schmach ersah, tobte das verletzte Ehrgefühl, fast bis zum Wahnsinn treibend.

Von Schonung des zarten Geschlechts hatte er nie etwas gewußt. Da er das zweite Geschlecht nur als solches zu betrachten gewohnt war, fehlte ihm der Sinn der Ritterlichkeit, der eine Beleidigung seitens der Frau nie als solche empfindet, wie sie nur der Mann dem Manne bereiten kann.

223 Mit aller Wut der verbissenen, heimtückischen Memme, die nicht zwischen Beleidiger und Beleidiger unterscheiden kann, wollte er sich auf die Schwester stürzen, um nach seiner Weise seinem gekränkten Stolze Genugtuung zu verschaffen.

Aber wie die klatschende Hand unerwartet gekommen, ebenso unerwartet fühlte er sich im Genick gepackt, herumgedreht, gestoßen, gepufft und in weitem Bogen in das Gras der Anlagen gesetzt, daß er geraume Zeit sich gliederreibend von seiner Verblüffung erholen mußte.

Wer würde noch nicht aus einem schönen Traume zur rauhen Wirklichkeit erwacht sein? Aber wem jemals geschah es, daß der Traum im Wachen seine holdselige Fortsetzung fand? Dies war nun bei Poldi der Fall, die in ihrem Ritter niemand anderen erkannte, als ihren Tischherrn der heutigen Festnacht, den reckenhaften, siegfriedsgleichen Sänger, dessen Melodien noch immer im Ohre nachklangen.

»I glaub', der hat für a klane Weil' g'nua,« sagte Herr Julius, auf Schani deutend, der sich eben von seinem Rasenfleck erhob. »I bin grad z'recht 'kommen, wia mir scheint. Solche Pülcher g'höreten wirkli für lebenslänglich unschädlich g'macht.«

Schani, der es nicht für geraten hielt, an Ort und Stelle Rache und ritterliche Genugtuung zu nehmen, zog es vor, von weitem seinem Besieger und seiner Schwester die wüstesten Schimpfworte zuzurufen. Das Lexikon der Plattenbrüder ist an solchen ja so unendlich reich.

224 Julius hatte die Absicht, Schani zu verfolgen, zwecks einer ausgiebigeren Züchtigung. Doch Poldi faßte seinen Arm.

»Net! . . . Lassen S' ihn laufen . . . es is mei Bruada.« Das erschreckte Staunen in des Retters Antlitz war ein so unzweideutiges, daß Poldi vor Scham über und über rot dastand, als wäre die nahe Verwandtschaft eine von ihr heraufbeschworene Schuld.

»Pardon, Fräul'n, wann i das g'wußt hätt' . . .«

»Bitt' Ihner . . . nur ka Entschuldigung! Für das, daß a Bruada a Fallot is, kann i nix. Die Schand' g'spür' i mehr, als i sag'n kann. Oh! . . . Was müassen S' Ihner denken von meiner Familie . . .«

Herr Julius, der sich von seiner Verblüffung erholt hatte, warf einen Blick auf das schöne Mädchen und erklärte dann ritterlich:

»Nix denk' i, Fräul'n. Es gibt weit bessere Häuser, wo so a Ausbund is. Mit Ihner kann ja die ganze G'schicht' nix z' tuan hab'n. Da stengan S' ja viel zu hoch drüber. Aber so a schöner Zufall . . . Daß i Ihner heut siech – meiner Seel', das hätt' i mir net im Tram einfall'n lassen. Haßt im Tram . . . i hab' heut no ka Aug' zuag'macht, jedenfalls so wia Sie.«

Poldi gestand mit einem leisen Lächeln zu.

»San S' dann vielleicht heut do a bißl marod?« forschte Julius mit Teilnahme. »Wissen S', i frag' grad . . .«

225 »Weil S' glaub'n, i sollt' im G'schäft sein? Na – entschuldigen S' Ihner net. Aber der heutige Tag hat sei' Bewandtnis.«

»Erlaub'n S', Fräul'n, daß i Ihner begleit'? Mir können ja im Gehn aa ganz guat red'n. Und übrigens – wer waß denn . . . Ihner Herr Bruader . . .«

»Gengan S' . . . Reden S' von dem net! I möcht' mi aa gar net fürcht'n vor eahm. Aber – im Gehn können ma ja aa plaudern, wia S' manen.«

Und Poldi und ihr Ritter traten mitsammen den Weiterweg an. Dann erzählte Poldi von den heutigen Ereignissen.

Es war ein Weg wie damals mit Julius dem Ersten. Nur in einer Vormittagsstunde. Aber wie ganz anders war alles! Mit welcher Ergriffenheit folgte der heutige Julius den Schilderungen seiner Begleiterin! Seine warmherzige Anteilnahme kannte keine Grenzen.

Er war voll Impuls und vergaß fast seiner schönen Erzählerin. In ihm lebte der wirkliche Künstler, nicht der gequälte, verseschreibende, nach Sensationen lüsterne jener Kreise, die es den Ihren gestatten können »Künstler« zu spielen.

In Julius lebte das Volk, das gibt, was ihm Gott verliehen zur Verschönerung und zum Troste seinesgleichen. Ihm war die Kunst nicht »Selbstzweck«, wie dilettierende Muttersöhnchen aus feinen Familien gern beteuern. Ihm war die Kunst Brot, Erwerb, Mittel zum Zweck, leben zu können. Aber im Bannkreis dieses Zwecks war er Künstler durch und durch, weil er Mensch war und voll von dem würzigen 226 Odem der Natur, den keine Salon- und Kaffeehausluft noch verdorben.

»Und Sie . . . Sie war'n dem armen Madl der Engel?«

»Gengan S'! . . . Schauert liab aus, wann a Engel mir gleichseg'n tät! Mein Gott . . . a G'fühl hat ma halt . . .« sagte Poldi lächelnd auf den enthusiastischen Ausruf ihres Begleiters.

»Ja, seg'n S' . . . das is's ja eb'n. Wann alle Leut' für anand a G'fühl hätten, leberten wir ja a so wia im Himmel. Aber es is guat, daß S' mir das erzählt hab n. Wissen S', i bin bei mein' Klavierspiel'n und mein' Singen bekannt wia 's schlechte Geld . . .«

»Oh! Sie . . .« lächelte Poldi.

»Und da hab' i viel Bekanntschaften. Zum Beispiel gleich bei der jüdischen Kultusgemeinde. Und and're aa no. Herentgeg'n, 's Weanaherz war' gar net so ohne, aber halt . . . Man waß net z'erst wohin, und dann is a viel Unfug bei all'm Wohltätigkeitssinn. Jetzt . . . mir zwa werd'n 's net ändern. Aber a bißl was tuan kann ja schließlich jeder. Und Sie, Fräul'n Poldi, hab'n heut mehr tan, als wia wann ana a paar lumpige Sechserln hergibt (Poldi hatte die Angelegenheit ihrer geleerten Börse verschwiegen); aber a Menschenleb'n hat, wia mir scheint, do aa a bißl an' Wert. Und wann's aa nur so a klan's z'nicht's Judenmadl war. Mensch is halt amal Mensch.«

Damit hatte sich Herr Julius auf das schönste einer einfachen Philosophie entledigt, deren wir uns im ganzen zu wenig bewußt sind.

227 Die lange Strecke bis zur Nähe von Poldis Haus war im Nu verplaudert. Was heute nacht begonnen war an Sichkennenlernen und Erfahren der gegenseitigen Verhältnisse, fand auf diesem für beide so kurzen Wege ihre Vollendung.

Am Anfang der Straße trennten sie sich. Kein Wort von einem Wiedersehen war gesprochen worden. Julius der Zweite war kein Eroberer im Sinne Julius' des Ersten. Er gab sich nicht einmal Rechenschaft darüber, daß die Bekanntschaft des schönen Mädchens mehr Eindruck auf ihn gemacht als die so vieler anderer, körperlich gleich schöner Mitschwestern desselben. Es war etwas in seiner so kurz gefaßten Zuneigung gelegen, das mehr an Freundschaft und Kameradentum mahnte als an die Zuneigung des einen Geschlechts zum andern.

Aber nichtsdestoweniger wußte er nun doch genau, ohne alle wissentliche Verabredung, wann er gelegentlich seiner jungen, schönen Freundin über den Weg geraten konnte. Beide hatten ganz unschuldigerweise eine Diplomatie verfolgt, die im Gegensatz zur zünftigen, politischen stets noch von Erfolg begleitet war.

Julius hatte möglichst harmlos nach der täglichen Route geforscht und Poldi hatte ebenso harmlos den Weg bis auf jedes Gäßchen genau beschrieben, den sie zu nehmen gezwungen war . . .

Aber war Poldi ihrem ersten Idol nicht ungetreu? Hatte sie sich nicht zu dem Schwur verstiegen, jederzeit sein Andenken aufrechtzuerhalten? War die Rose wirklich schon vermodert, im hintersten Winkel der Schublade? Stieg kein interessantes, blasses 228 Dichterantlitz empor aus dem Dämmer einer nicht allzu lange entschwundenen Vergangenheit? . . .

Ich würde Poldi unrecht tun, wenn ich sie auf das Blatt eines Familienblattromanes setzte. Den Kindern des Volkes wird die Sentimentalität nie gefährlich. Man ist zu sehr bemüht, selbst ihre heiligsten Gefühle zu töten in Sorgen, Entbehrungen, im Jammer des Alltags.

Und mit dem Andenken an Julius, den Dichter, hatte sich Poldi zu der Stunde abgefunden, wo sie es symbolisch mit der zum Welken bestimmten Rose begrub. Ein unnützes Trauern liegt den Töchtern der »niederen« Kreise fern. Das Leben stellt in jeder Beziehung so harte Anforderungen an ihre Willens- und Entsagungskraft, daß eine erste Liebe kaum weite Kreise ziehen kann.

Sie bleibt wohl den Sinnen wie eine vor langem gehörte liebliche Melodie, der man sich manchmal mit Rührung erinnert, die aber an dem Gange des harten, mitleidlosen Lebens nicht eine Linie zu rücken vermag.


Als Poldi nach Hause kam, fand sie Reserl und Katherl vor, die von einem Feigenkranz die Früchte abzogen. Der unglückselige Herr Müller war seit zwei Tagen, von Samstag abend gerechnet, nicht nach Hause gekommen. Er lag in seinem Bette in der dumpfen Betäubung übermäßig genossener, feuchtfröhlicher Begeisterung. Er hatte diesmal sogar die gewohnten Kanditenschachteln entweder nicht mehr kaufen können, oder er hatte sie verloren. Denn 229 nichts weiter als zwei Feigenkränze hatten aus seinem Rocksack gelugt.

Jedenfalls war er durch Poldis Eintreten in die Küche aus einem durch Selbstvorwürfe erfüllten Schlummer geweckt worden, denn er fing, wohl in der Meinung, Frau Schaumann sei draußen, zu lallen an:

»Muatta – i – bin – a Viech! . . . Verzeihn S' ma's no – no – das anemol. Kan' Knopf hab' – i mehr – i – i Viech, i ölendigs. Muatta . . .«

Aber sein Appell an die Nachsicht der Mutter verhallte ungehört, vielmehr unbeachtet. Katherl und Reserl staunten ihre Schwester wie etwas Unleibliches an. Um diese Zeit war Poldi zu Hause?

Reserl, die für jede Situation einen treffenden Ausdruck fand, fragte ungeniert:

»Ham s' di aussig'schmissen vom G'schäft, weilst scho daham bist?« Dann ihrer gesanglichen Illustrierungskunst nachgebend, gellte sie:

»An' so an' Wurf, daß mar die Haxen streckt . . .«

Die Lieblichkeit von Reserls Anschauung über die frühzeitige Heimkunft Poldis fand weder Anklang noch Beachtung, denn Poldi stand unter dem Eindruck einer kaum verrauschten Stunde und dem eines glücklich abgewendeten Unheils.

Alles schlang sich förmlich ineinander. Hochzeitslust, Musik, süßer Gesang, eine hünenhafte Gestalt, ein frostiger Morgen, ein kleines, blasses, verängstigtes Judenmädchen, eine entsetzliche Minute und so fort, bis wieder der Sänger aufgetaucht war und bis zum Augenblick seinen Platz in dem Sinnen des Mädchens behielt.

230 »Wo is d'r Vatta?« fragte Poldi, um sich dem Verwundern der Schwestern etwas zu entziehen.

»Drin schlaft er,« antwortete Katherl. »Waßt,« fuhr sie fort, »er schlaft jetzt immer. Es g'freut eahm ka Aufstehn mehr, hat er 's letztemal g'sagt; er will nix mehr wissen von der Welt, hat er g'sagt, und dann hat er g'mant, so a Unkraut wia er g'hört net auf d' Welt. Was sagst da dazua, Poldi?« forschte Katherl mit vor Teilnahme sehr ernst gewordenem Gesicht.

Poldi sagte nichts. Ein Traum, der sich in die Wirklichkeit gerettet zu haben schien, verschwand wie eine rosige Wolke im Abendsturm. Festgeschmiedet wie an einen Fels stand Poldi da, und ihre sehnsüchtig ausgebreiteten Arme galten nichts anderem als dieser rosenroten, flüchtigen, sich rasch in fahles, häßliches Grau verwandelten Wolke. Und das tapfere Mädchen ließ wohl zum erstenmal trostlos die Arme und das Haupt sinken und grübelte wohl zum erstenmal so recht, recht tief über das Thema:

»Warum muß die Armut sein?«

Wahrhaftig – den Besten und Edelsten tritt einmal die Versuchung an: zerstöre, morde, vernichte! Nicht wahllos, sondern mit Bedacht.

Aber Poldi war ein ebenso kluges wie tapferes und mitleidiges Mädchen. Sie nahm das Leben, wie es Philosophen zu nehmen pflegen, als etwas Gegebenes, mit dem sich abzufinden der Gegenseite eine Position zu nehmen heißt. Der Fels bleibt starr, wenn man ihn mit dem Anrennen des Kopfes zu bezwingen vermeint. Aber es gibt etwas, was den dräuendsten Felsen im Laufe der Zeiten bezwingt: 231 unablässige Ausdauer, der nie ermüdende Kleinkrieg der Massen gegen das scheinbar so Festgefügte, Unabänderliche; der lautlose und aller Ansicht nach jeder Siegeshoffnung bare Kampf, den winzige Organismen gegen den körperlich ungeschlachtesten Gegner führen und in dem sie diesen zu Falle bringen.

Wie Güte und mitleidsvolle Nächstenliebe und die einfachste Liebe, die zur Familie, einen winzigen Baustein zum Glück der Allgemeinheit tragen können, dessen war sich Poldi spekulativ nicht bewußt. Sie handelte, wie es ihrem Herzen entsprach, und tat damit viel mehr, als es große Worte vermocht hätten. Sie kannte noch nichts von einer Organisation der Kräfte im Hinwirken auf ein großes Ziel. Sie lebte von der Klasse losgetrennt und tat deshalb doch nichts Geringeres, als an dem Kulturwerk der wahrhaften Menschwerdung mitzuwirken. Ob ein Wirken bewußt oder unbewußt ist, bleibt sich für den Endzweck ganz gleich.

Poldi hatte also nur einen Augenblick mutlos die Arme sinken lassen. Aber ihr von allen Eindrücken der vergangenen Nacht und des heutigen Tages erregtes Gemüt schmolz dahin in einem unendlichen Mitleiden mit dem armen Krüppel, den nicht sein körperlicher Fehler, sondern den das Bewußtsein seiner Unnützheit innerlich zerfraß.

Sie öffnete, nachdem sie die Schwestern zur Ruhe angewiesen, die zum Zimmer führende Tür. Auf dem alten, häßlichen Sofa schlief der Vater. Poldi blieb plötzlich im Weiterschreiten stehen. Das unbarmherzige helle Tageslicht zeigte ihr den Schläfer in 232 vollster Deutlichkeit. Kein einziges Zeichen der Verwüstungen des Kummers und eines verzweiflungsvollen Leides blieb ihren Blicken erspart. Die Wangen schienen noch hohler als sonst, die Farbe noch bleierner, die Falten und Furchen noch vertiefter und der wehe Zug um den Mund noch herber.

Eine Weile stand Poldi mit gerungenen Händen da und starrte auf den Vater. Wie Reue stieg es in ihr auf, daß sie es sich gestattet hatte, eine ganz kleine, kleine Weile glücklich zu sein; daß sie vor kurzem an einem kindischen Schmerz getragen, der ihr in diesem Augenblick unendlich albern, ja roh vorkam.

Dieser arme, geknickte, unselige Proletarier, dieser wider Willen aus allem Wirken ausgeschaltete Held der Arbeit, dieser Märtyrer des Bewußtseins, ein nicht nur unnützes, sondern geradezu hinderndes Element seiner Familie zu bilden – erschütterte Poldi durch seinen Anblick dermaßen, daß ihre heute schon an reichlichen Tränenverlust gewohnten Augen sich abermals füllten.

Der Schlafende war durch den Eintritt der Tochter, durch das leise Rauschen ihres Kleides erwacht und begriff nicht gleich die Situation. Auf seinem einen Arme richtete er sich empor und starrte das Mädchen an.

Er war um diese Zeit deren Anblick nicht gewohnt und mit der abgeschüttelten Schlafsucht regten sich Befürchtungen, denen Reserl so taktvollen und künstlerischen Ausdruck gegeben. Poldi begriff voll Zartgefühl. Daher beruhigte sie gleich den Vater.

233 »An' Extrafeiertag hab' i heut, Vatta, und i wir dir's gleich erzähl'n. Aber bleib' nur lieg'n und laß di net stör'n. I werd' derweil draußen in der Kuchel was richten.«

»Na laß nur, Poldi,« sagte Schaumann, der sich nun zurecht gesetzt hatte, »du waßt, daß i grad nur aus Zeitlang schlaf'. Was sollt' i denn sonst tuan?« fügte er mit einem schweren Seufzer hinzu.

»Aber, Vatta, a bißl Freud' am Leb'n hab'n. Net so nachgeb'n . . . Net so verzweifelt sein, Vatta. Schau, es is so viel Elend in der Welt, daß ma wirkli net waß, wer am meisten zum trag'n hat.«

»I waß, wia i an mein' zum tragen hab',« murmelte der Vater voll traurigster Resignation.

»Net wahr is 's, Vatta, daß du der Ärmste bist. Schau, andere an deiner Stell' nehmen's net so fürchterlich wia du. Was für Leut' kräuln in die Gassen umeranand und san kreuzfidel dabei!« Poldi hatte mittlerweile ihren Hut und die leichte Jacke abgelegt und war an den Vater herangetreten, den sie mit einem Arme umfing, indes sie ihm mit der rechten Hand liebevoll über das schüttere Haar strich.

»Andre und i . . . O net, Poldi, weg'n mir, daß i a Krüppel bin. I gebert no an' oder alle zwa Füaß' her . . . Aber . . .« – und hier brach ein Schluchzen die Stimme des armen Mannes – »daß i das all's mitanseg'n muaß, die Mutter . . . di . . . die zwa Klan', wia's ös alle z'grund' gehts, du und die Mutter mit'n Arbeiten und die Kinder an Verwahrlosung. Und i muaß Tag für Tag zuaschau'n und kann net helfen. Polderl, i kann net helfen. 234 O Gott! O Gott! Wann mi zwanzig Leut' z'ruckhalterten und ma werfert euch vor meine Aug'n in a brennend's Haus . . . es war' aa net viel fürchterlicher.«

»Aber Vatta, Vatta!« sagte Poldi erschreckt über einen solchen Ausbruch der fürchterlichsten Verzweiflung. »Was san das nur für Reden? Geh, geh! Sixt, das kummt nur von dein' ewigen Simulier'n. Geh a bißl hinaus, kauf d'r a Glasl Bier oder Wein, les' a paar Zeitungen! Aber net zu die Leut', die manen, sie tan dir was Guats an, wann s' dir was zum Trinken zahl'n, wo du ja do nix g'wöhnt bist. Schau', Vatta, sei g'scheit. Du tät'st es do aa für dei Familie. Mi g'freuert 's Leb'n nomal so viel, wann i wußt', du bist glücklich mit uns.«

Ein so jammervoller Blick traf die Tochter, so voll von Aufgeben jeder Glücksmöglichkeit, daß das zärtliche, warmherzige Mädchen ihn verspürte, als wäre es ein Stahl, in ihr Herz gebohrt. Aber tapfer widerstand Poldi der Rührung, nur zärtlicher schmiegte sie sich an den armen, unglücklichen Mann.

»Poldi,« sagte endlich Herr Schaumann, und aus seinem Auge rollte Träne um Träne, »waßt – wann i halt nimmer war' . . .!«

»Bitt' di, Vatta – versündig' di net! Unser Herrgott wird wissen, wia lang du leb'n sollst.«

»Na, na, Poldi. Wann er's wußt', hätt' er mi net so g'straft. Aber i bin a unnötiger Mensch, a Last für euch. Wann mi an's anschaut, glaub' i immer, daß er si hamli fragt: Is der aa no da? Poldi – mein' an' Arm no – a jede Stund' 235 verfluacht, in der i net arbeiten tät für euch! I siech den ganzen langen Tag so viel's, was i vielleicht sunst net seg'n tät'. D' Reserl und d' Katherl – o Gott! o Gott! Dö verwahrlosen vor meine Aug'n und i kann, i kann net helfen. Vom Schani mag i gar nix reden . . . Aber aa er hätt' net so werd'n müass'n, wann die Verhältnisse andere g'west wär'n. Wia i no a Mann war, da hätt' i die Pflanzerln z'recht richt'n können. Die Pflanzerln – dö i in d' Welt g'setzt hab'. Waßt, a Arbeiter is förmli a Verbrecher, wann er so a Kinderzahl in d' Welt setzt. Für wem denn? Für die Fabriken oder Bordellhäuser oder fürs Kriminal und wann's guat geht, fürs Spital, wo er wenigstens in Ruah' sterb'n kann.

»Poldi, heirat' amal kan' Menschen, der nur auf seine zwa Händ' zum Verdiena ang'wies'n is. Liaba heirat' gar net, verdienst dir dein's und ersparst d'r was. 's Spital kummt allaweil no zeiti g'nua, aber es muaß do leichter z' gehn sein, wann ma waß, mit dir is's ganz allani aus. Du laßt ka Bruat z'ruck, die durch lauter Elend . . . Poldi! . . .«

Es ist für tapfere Naturen leichter, selbst zu leiden, als leiden zu sehen. Und Poldi litt jetzt so unsäglich, daß sie glaubte, es müsse ihr das Herz zerspringen. Sie konnte nichts anderes, als immer wieder das kahle Haupt des Vaters streicheln und Worte des Trostes stammeln. Worte des Trostes, die sie zur Stunde selbst so nötig gehabt hätte.

Julius eins und Julius zwei! In diesem Augenblick war es, als hättet ihr nie existiert. In diesem Augenblick rangen sich Gelöbnisse zum Himmel empor, 236 die von einer so reinen, zarten, hingebenden Liebe eingegeben wurden, wie sie keine, auch die reinste, sinnliche Liebe nicht zu diktieren vermöchte.

Aber Poldis vorgesetzte Tapferkeit rang sich siegreich durch. Sie vermochte sie selbst zu einem Tone scherzhaften Vorwurfs.

»Geh! . . . Is das die ganze Freud', die du an' machen kannst, wann ma unausg'schlafener von aner Hochzeit kummt? Sixt . . . der Annerl ihr Mann hat aa nur zwa Händ', und was für Händ' . . . Aber die hat 's Leb'n so g'freut und i waß 's, die wird's immer freu'n, i glaub', wann er si amal beim Fleischhack'n alle zwa Händ' weghaut.«

Reserl und Katherl, die inzwischen mit ihrem Feigenkranz sowie den Tröstungen des Herrn Müller, der unter Schluchzen eingeschlummert war, endlich zu einem endgültigen Abschluß gelangt waren, stürzten nun plötzlich herein und machten der Unterredung ein Ende. Vorher schon hatte sich Reserl in der Küche nochmals zur Erprobung ihres Stimmaterials geübt: »c d e f g a h c . . .« Offenbar fürchtete sie, durch den Genuß des vielen Essens der italienischen Frucht den lauteren Schmelz des Organs beeinträchtigt zu haben.

»Gelt, Poldi, jetzt derzählst, wia die Hochzeit war.« Und Poldi, ergriffen von den Erinnerungen einiger Stunden, die in ihrer natürlichen Knappheit der Aneinanderreihung so vieles an Ereignissen bargen, kam dem Wunsche entgegen und erzählte. Erzählte von aller Festesfreude und Lustigkeit, allem Lachen und Sang und endete mit der tieftraurigen Geschichte der kleinen Rachel.

237 Daß Poldi manches in ihrer Erzählung verschwieg, soll nicht auf Hinterhältigkeit und mangelnden Sinn für Wahrhaftigkeit geschoben werden. Aber wer wollte auch Dinge gestehen, die man sich selbst noch nicht einzugestehen wagt . . .

Die beiden Schwestern lauschten je nach Temperament und seelischer Veranlagung. Reserl ließ sich aufs eingehendste die Toiletten der Braut und der Kranzeljungfrauen beschreiben. Dann brachte sie ihr Interesse dem gesanglichen Teile des Abends entgegen. Auch dem Bilde des schönen Sängers folgte ihre Phantasie.

Für Rachels fürchterliche Absicht jedoch fehlte ihr alle Teilnahme, ebenso für die Beschreibung des häuslichen Elends der Judenfamilie. Desto mehr erwärmte sich Katherl für diese Schilderungen, bis sie plötzlich in ein lautes Weinen ausbrach.

»Warum wanst denn?« fragte Reserl.

»Na, über das arme Madl, das beim Fenster hat aussispringen woll'n.«

»Geh', du Aff'! War' s' g'sprungen! War eh nur a Jüdin. A Nähmamsell . . . I bitt' di! Wann s' no a Künstlerin g'wesen war'! . . .«

Poldi wendete sich voll Entrüstung der Schwester zu.

»Laß mi so was nimmer hör'n! Was verstehst du von an' Elend? Da sixt erst, wia guat als 's dir no geht. Sollt'st unserm Herrgott dankbar sein, daß d' es no so hast. Ma find't immer no Menschen, denen 's weit schlechter geht.«

»I dank' schön für a so a Guatgehn. Wann man das aa schon Gutgehn haßt, dann – habe die Ehre! Wia mir gebaut san, rechna ma auf was Besseres.«

238 »So? . . . Und was war' denn das Bessere?« fragte Poldi mit leichter Ironie.

»Ah! Mit dir red' i da drüber nix. Du verstehst von so was ja gar nix net.«

»No, i man', a bißl versteh' i scho aa was. Wußt aber wirkli net, wia das Besserwerd'n amal ausschaun kunnt, wann net durch Fleiß und Arbeit.«

Reserl zuckte unmerklich verächtlich die Schultern.

»Oder,« fuhr Poldi in ihrer Inquirierung fort, »glaubst wirkli, daß dei Plärrerei, dös d' für a G'sangl ausgeb'n willst, dir anmal an' Berg von Gold eintragt? Täusch' di net, mei Liabe . . . Die Goldberg' san in unserer Zeit recht klanwunzige Häuferln. Und so viel i versteh', muaß a Stimm' scho recht außerg'wöhnlich schön sein, so schön – wia . . .« Poldi brach ab, da sie sonst vielleicht zu einem verräterischen Vergleich gelangt wäre.

Zum zweitenmale hatte sie unabsichtlich Reserl in ihrem eingebildeten, vielmehr ihr eingeredeten Künstlerstolz getroffen; bekanntlich die tödlichste und am wenigsten verziehene aller Beleidigungen.

Reserl ward blutrot im Gesicht.

»I wir dir's schon amal beweisen . . . Justamend! justamend! Dann wirst spitzen. Aber i wir di so weni anschau'n, als obst net auf d'r Welt warst. Und wannst auf die Knia vur mir liegerst, wann i in d' Eklipasch oder ins Automobül steig' . . . Justamend net!« kreischte Reserl mit aller Grellheit, die ihr zu Gebote stand.

»Du!« sagte Poldi erzürnt.

239 »Justamend! Justamend! Justamend!« Dann schnitt sie eine höhnische Grimasse und stob zur Tür hinaus.

Poldi wendete sich an den Vater.

»Sag' mir nur . . . was is denn . . . was is denn dem Madl in Sinn kommen? Is die Narrheit no net aus? Ja, glaubt der Batsch wirkli, was ihr a zwa verruckte Urscheln eing'red't hab'n? Für so was muaß i die zwa jetzt halten. Jedenfalls a paar verruckte Schauspielerinnen, die . . . oder am End' . . .«

Schaumann sah die Tochter ungewiß an.

»Sag's nur weiter. Ja, das fürcht' i selber. Das is mei Sorg' und mei Angst.«

»Aber um Gotteswill'n,« sagte Poldi erbleichend. »Du manst wirkli . . .?«

»Man lernt gar viel's glauben. I six, wia's kuma kann, aber was willst tuan dageg'n?«

»Das sagst mir heut erst? Ja, Vatta – und du red'st so daher. Was man tuan kann dageg'n? Es is do dein Kind. Aber Vatta – Vatta! . . .«

Schaumann ließ wie vernichtet den Kopf sinken. Er fühlte den Jammer seiner Schwäche, seiner Unfähigkeit und ward sich zum erstenmal voll ihrer Unwürdigkeit bewußt. Sein Leid war angekränkelt von Egoismus gewesen. Er hatte nur über sein Unglück gestöhnt und es teilnahmslos angesehen, wie er die von ihm Erzeugten, Unschuldigen mit in die Hölle seiner unmännlichen Verzweiflung riß.

»Da muaß do was g'schehn,« sagte Poldi nach einer langen Pause. »Die zwa Prinzessinnen oder Fürstinnen muaß i ma anschau'n. Heut hab' i grad 240 die rechte Zeit dazua. O Vatta – wannst früher was g'red't hätt'st! Geh, Katherl,« forderte sie die Schwester auf, die voll Unverständnis gelauscht, »geh hinunter zu die zwa Fräul'n und sag', i möcht' gern an' Besuch machen. Zuvor soll aber d' Reserl heraufkommen. Sag' nur, sie braucht net glei so beleidigt sein, und i will nur desweg'n mit die Fräul'n reden, ob's wirkli wahr is, daß s' so a Talent zum Singen hat. Sonst brauchst di aber net aufhalten und nix red'n von dem, was i und der Vatta g'red't hab'n.«

Katherl gehorchte eilig. Nach einer kleinen Weile, die der Vater und Poldi stumm verbrachten, erschien sie wieder und meldete, daß in der Wohnung der Sängerinnen niemand daheim sei. Jedenfalls wäre Reserl in den Park gegangen, von wo sie zu holen die kleine Schwester sich erbot. 241

 


 


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