Karl Adolph
Töchter
Karl Adolph

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Fünfzehntes Kapitel

Poldi landet in einem glücklichen Hafen. Schani taucht nochmals auf, um sich von seiner Familie für immer zu entfernen. Julius der Zweite hat einen Glücksengel besessen.

»Wissen S', i hab' scho' manche Hochzeit anag'schaut. Seit a dreiß'g Jahr', wo i da am Grund wohn', hab' i m'r ka halbwegs anständige Hochzeit auskumma lass'n. Aber an so ane wia dö heutige, wer' i no lang z'ruckdenken. I will von der Hochzeit allani net red'n; denn da hab' i schon viel schönere g'seg'n. Amal ane mit dreiß'g Wäg'n. Heut' san's nur fünfe. Aber wissen S', a so a Brautpaar hab' i no net g'seg'n, außer amal im Theater. No, und da san s' alle ausg'stopft, g'schminkt und herg'richt't, daß 's grad ka Kunst is, schön zum ausschau'n. I will mit an' Wurt nur sag'n: so a schön's Brautpaar hab' i, seit i mi erinnern kann, no net g'seg'n, und das is viel g'sagt.«

Diese Worte einer alten Frau, einer derer, die bei jeder Gelegenheit Staffage bilden, sei es bei einer christlichen, jüdischen oder auch Negerhochzeit, galten der Erscheinung des Brautpaares Poldi und Julius.

370 Die Berichterstatterin hatte nicht zu viel gesagt. Man stelle sich Poldi vor in ihrem Brautkleid von Atlas, dem wallenden Schleier, die Füße in ihr ach! so ungewohnte Atlasschuhe gesteckt – ihr zur Seite Julius, Siegfried in Frack zwar, aber über alle Maßen schön und männlich, so mag man sich ein Bild der Phantasie vorstellen, wie es hier zur Wirklichkeit geworden ist.

Ich habe, genötigt durch mein strenges Amt als Schilderer wahrheitsgetreuer Vorfälle, so manches Tieftraurige zu berichten gehabt. Daher berichte ich mit besonderer Freude von Poldis Hochzeit. Wenn es eine göttliche, vergeltende Ordnung gibt, diesmal offenbarte sie sich aufs schönste.

Die Trauung in der Kirche wurde bedeutungsvoll gemacht durch Leute in tadelloser Toilette (wirklichen Zylindern und Frackanzügen) mit meist glattrasierten Gesichtern oder Köpfen mit Künstlermähnen.

Katherl glich in einer Wolke von Weiß einem kleinen Engel und ihre künftige, an die Schwester mahnende Schönheit trat nun recht zutage.

Und die glücklichen Eltern Schaumann! Der Vater stak in einem schwarzen Salonrock, die Mutter in einem Kleide, das sie bisher vielleicht nur bei mancher »Gnädigen« zu bewundern Gelegenheit hatte, für die sie schmutzige Wäsche reinigte.

Und alle drei vermeinten, der Himmel habe sich aufgetan oder sie wandelten in einer Welt des Märchens, Katherl sowohl als auch die zwei Alten.

371 Was war es aber so Wunderbares? Daß ein schönes, braves Mädchen einen ihr ebenbürtigen Gatten erhielt?

Sollen Tugend, Schönheit, Klugheit, Aufopferung für die Lieben, Barmherzigkeit für die Nächsten nicht einmal triumphieren über die Schmach der Armut? (Wer diese nicht als solche jemals empfunden, schweige und rede mir nicht vielleicht in mein Konzept!) Sollten Stolz und Güte verdammt sein zu Demütigung und Verbitterung, zu altjungferlichem Hasse gegen alle Bevorzugten, die leider selbst in den meisten Fällen keine solchen sind?

Und hatte Poldi einen Prinzen aus dem Märchenland geheiratet? Einen, der Gold um sich verstreute? O nein! Nur einen besseren »Musikanten«, dessen größter und gediegenster Vorzug der war, ein über den Durchschnitt gehendes, fast bürgerliches Einkommen zu besitzen. Ob er von seiner Kunst was verstand? Wer fragte danach? Der Wertmesser war dafür gegeben. Herr Julius hatte ein Einkommen, das ihn zu höheren Ansprüchen anwies als zu dem, ein armes »Nahrermensch« zu erwählen.

Julius der Erste hatte eine »Mesalliance« zu begehen gefürchtet, mochte Poldis Schönheit allein schon gegen solche Bedenklichkeiten streiten. Auf Grund dieses Besitztitels werden noch ganz andere »Mesalliancen« geschlossen, die irgendeine künstlerisch unscheinbare Theaterdame zu ganz respektablen sozialen Höhen heben.

372 Aber Julius der Zweite, der wahre Künstler, hatte eine Poldi erwählt, die äußerlich auch minder schön hätte sein können.

Wenn etwas in den Kreisen Poldis Mißfallen erregte, so war es nur die »gute Partie«. Nicht der Neid wegen des schönen Bräutigams bestimmte das Urteil all derer, die sich in solchen Fällen überhaupt ein Urteil machen, sondern der Neid, daß ein armes Mädchen eine voraussichtlich glänzende Versorgung erhielt.

Poldi hatte das Märchen mit dem Prinzen erlebt. Mit dem wirklichen, ritterlichen, schönen – nicht einem knieschwachen, hüstelnden, verlebten Prinzen des genealogischen Kalenders. Einem Prinzen aus dem Reiche der Schönheit, der Kraft und der Kunst.

War es wirklich ausgleichende Gerechtigkeit seitens irgendeiner unbekannten, lenkenden Macht: war es eine Sühne für das traurige, obzwar teils selbstverschuldete Schicksal Reserls, die weiß Gott in welchem Pester Bordell ihre Nächte vertrank und ihre Tage verschlief vielleicht reuig, vielleicht in ihre Lage freudig sich findend – kurz, das seltene Märchen hatte eine schöne Auferstehung gefunden.

Ich will nicht über die häßlichsten Giftblüten am Geistesstamme der Menschheit: Neid und Verleumdung, mich weiter aufregen. Ich kann nur mit Bedauern konstatieren, daß Poldi sowohl wie ihr Gatte diesen unsichtbaren, aber oft tödlichen Pfeilen nicht entgingen.

373 Nicht jedes Leben eines armen Mädchens muß ja in Entsagung oder gar Verkommenheit enden. Oder sich zu einem neuen Gliede schlingen an der bisherigen Kette zwar ehrenhafter, aber bleiern schwer empfundener Armut. Es gibt auch einen Aufstieg zur Höhe. Zur Höhe, die ich meinem Volke wünsche. – – – –

Poldi war einem unbewußten Instinkt gefolgt, als sie ihre Anschauung vom Leben, ihren Begriff von menschlicher Glückseligkeit demjenigen der Trümmler Tini und ihrer verlorenen Schwester entgegensetzte.

Reinlichkeit! Sich bewußt zu sein, daß jeder Schritt den wir getan, ein unbeirrter zu einem unbekannten Ziele strebender gewesen ist, sich bewußt zu sein, für seine Lage das möglichste getan zu haben und ohne Reue einmal ein Glück genießen zu dürfen.

Poldis Leben hätte keinen Zusammenhang mehr mit Aufregungen gehabt, wenn ihr nicht am letzten Ende bei der Gratulationscour in der Sakristei eine Wolke von Pelz, Spitzen, Federn, Seide, Parfüm und glühenden Umarmungen entgegengewallt wäre.

Und diese Wolke bedeutete nichts anderes als ganz einfach – die Trümmler Tini. Auf welchem Wege sie Kenntnis von der Hochzeit ihrer besten und einzigen Freundin erhalten, weiß ich nimmer anzugeben. Kurz, sie war da, laut und aufdringlich und schön wie immer. Schluchzend hing sie, wie einmal bei Gelegenheit der Überreichung des hochherzigen Geschenkes, und am Grabe ihres »Vatterls«, an Poldis Halse.

»Gelt ja, Herzerl, jetzt bist endli erlöst von der Marterei. I wünsch' d'r tausendfaches Glück und Seg'n zu dein' Ehr'ntag I hab' selber amal das 374 Leb'n mitg'macht wia du. I waß, wia si a so a Leb'n in an' Salon mitmacht. Herentgeg'n, Polderl, wann ma net wußt', daß ma für was Besser's auf der Welt is, war' ma nah' dran, daß ma sie vom Fenster abistürzt. Du waßt, was i mitg'macht hab'. Du warst ja bei der Leich' von mein' armen Vatterl dabei. Du kannst di erinnern, wia i in die Gruab'n hab' hineinspringen woll'n. O Polderl! I vergunn' d'r net, daß d' das amal mitz'machen hast.«

Diese Erinnerungen waren angesichts des Ortes, der eben vollzogenen freudig-feierlichen Handlung und der ganzen Festgesellschaft so sehr am Platze, daß es wahrlich nur die Trümmler Tini zustande bringen konnte, ihnen Ausdruck zu geben.

Poldi war, wie gar nicht wundernehmen kann, ganz fassungslos über einen Überfall, den sie am wenigsten vermutet. Daß ein ganz loses Band der Zusammengehörigkeit von Tini anläßlich des Todes ihres Vaters aufs neue um die ungesuchte Freundschaft geschlungen, war bisher das einzige Zeichen einer solchen gewesen. Aber Tini liebte es, sich in Szene zu setzen. Vielleicht meinte sie, der ganzen heutigen Feier ein Relief verliehen zu haben, gleichwie damals in derselben Kirche der greise Bürgermeister, der erschienen war, um die Leiche ihres Vaters zu ehren.

Tini hatte einen flammenden Blick der Bewunderung auf Poldis Bräutigam nicht zu zügeln vermocht. Vielleicht zum erstenmal im Leben ward sie von einem ihr bisher unbekannten Gefühl erfaßt: dem der Eifersucht. Heute sah sie zum erstenmal, wie schön Poldi 375 eigentlich war. Diese arme, protegierte Poldi, die einst froh war, einiger abgelegter »Fetzen« teilhaftig zu werden. Und dieser schöne, blühende, jungendfrohe Mann war nun der Gatte derselben Poldi. Der Gatte! Tini, bei aller Unbekümmertheit um die Würde eines Verhältnisses, täuschte sich im Augenblick über diesen Umstand nicht im geringsten.

Aber diese Regung war doch nur eine flüchtige. Tini hatte das Los gezogen, das ihr allein zustand. Und Tini wird einmal nicht unglücklich werden. Sie wird in ihren alten Tagen eine Rente besitzen und Rettungshäuser für gefallene Mädchen protegieren. Sie wird Beiträge für fromme Stiftungen leisten und mancher Weihnachtsbeteilung für arme Kinder vorstehen.

Tini war das glückliche Opfer einer unglücklichen Erziehung. Sie entwuchs ganz einfach dem Willen ihres Erzeugers, der, von bürgerlicher Moral beschwert, für das »Höherstreben« seiner Tochter keinen Sinn besaß. Sein Spießbürgertum war an der Natur seines Sprößlings auf Strand geraten.

Und von diesem Spießbürgertum unangetastet, hätte Tini, wenn es nach dem Willen des Vaters gegangen wäre, ein besseres Los treffen können? Sie hatte eines verstanden: eben das für sie beste Los zu ziehen. Im Gegensatz zur armen Reserl war sie katzengleich auf weiche Pfoten gefallen. Tini und Poldi bedeuteten zwei Weltanschauungen. Und jeder war die ihre gerecht geworden.

376 Beide waren in ihrer Art Starke. Poldi durch ihre Sittlichkeit, Tini durch ihre Unbekümmertheit um die Gesetze der Moral.

Auch Reserl hatte höher gestrebt und die lustige Mirzl war von denselben reinen Instinkten erfüllt gewesen wie Poldi. Beide waren gescheitert, weil sie vielleicht zu schwach gewesen. Die arme, trotzköpfige Reserl; und die noch ärmere Mirzl durch ihre Ungeduld, vom Lebensbaum das zu pflücken, was ihr als das Köstlichste dünkte, und dann durch ihre Bekümmertheit um die Moral. Starke müssen reuelos sein.

Also Tini hatte ihre Freundin in der Art begrüßt, wie nur sie die Gabe besaß, Trauer oder Freude zu äußern. Aber über sie dürfen noch andere Zeugen der Traufeierlichkeit nicht vergessen werden.

Vor allem der erste Beistand, der Sedlmaier Gustl, mit Frau und Tochter und Schwiegersohn. Dann Müller, der, auf der Suche nach einem neuen Quartier begriffen, offenbar verschiedene Gasthäuser als die beste Auskunftstelle angesehen, und der am Vortag der Hochzeit der ihn nun allein tröstenden Katherl und der einmal nicht scheltenden Mutter mit den Tränen der Reue über sein Drahrertum auch die über ein lange verborgenes Liebesleid vermischte.

»Wissen S', Muatta . . . waßt, Katherl, die Fräul'n Poldi hab' i gern g'habt, wia ma nur an' Menschen gern hab'n kann. Aber i Viech, i b'soffenes, hätt' mi ja gar nia trau'n dürfen, an so was z'denken. Muatta, gestern bin i wieder umg'fall'n; verzeih'n S' mir's! Das war aber ka so a g'wöhnlicher Rausch, 377 das war a Gedankenrausch, a Verzweiflungsrausch, verstengan S', Muatta? . . . I hab' m'r mei ganz' Leb'n in Kopf g'setzt und so recht drüber nachdenkt, was für a Viech i bisher g'wesen bin. O Poldi . . .«

Und zum letztenmal in dieser Wohnung, mit Poldi unter einem Dache, barg Herr Müller das Haupt unter der Decke und weinte wie gewöhnlich. Und Katherl tröstete ihn wie sonst.

In einer Bank saßen einträchtig nebeneinander Rachel und das Fräulein Direktrice. Diese als Vertreterin der Firma, jene auf eine Bitte Poldis für den Nachmittag freigegeben. Ohne mich in diesem Augenblick in eine Art von Betrachtung über Konfessionen einzulassen (was nur beschränkter Gemüter würdig ist), will ich doch die Frage zur Entscheidung stellen, welches Gebet für die christliche Braut ein inbrünstigeres war: das der armen, kleinen Jüdin oder das des Fräulein Direktrice mit Christum im Herzen?

Herr Hanisch hatte sich grollend ferngehalten. Sein Groll war mit einem gewissen Staunen gemischt, als er von der Beschäftigung des Herrn Julius hörte. Sie stand in seiner Vorstellung auf gleicher Höhe mit einem Kunstpfeifer oder Tanzmusiker. Ein Mensch offenbar, der, was er nachts verdiente, auch regelmäßig durch die Gurgel jagte, der nicht auf spätere Zeiten dachte und der vor allem dem Begriff eines Sparkassenbuches vollständig fremd gegenüberstand.

Herrn Hanischs Gefühle, soweit von solchen die Rede sein kann, waren tief verletzt. Sie erstreckten 378 sich auf den Verlust eines schönen Weibes, des einzigen, das seine Fischaugen jemals zu betasten geruhten. Dann beklagte er eine ihm entrissene Spekulation, die schon erwähnt wurde. Hanischs Sparkassenbuch, Poldis Geschicklichkeit, Schönheit und Liebenswürdigkeit hätten einen Salon gegründet, dem in Kürze hohe Herrschaften zustreben mußten.

Der kniffige Zögerer hatte die Gelegenheit einigemal versäumt über Berechnen und Überlegen. Es gab Stunden, wo Poldi schweren Herzens zwar, das Opfer für die Ihren gebracht hätte, das Weib eines sparsamen Handwerkers vom Schlage Hanischs zu werden. Aber ihr guter Engel hatte sie vor einer Hölle bewahrt, die Männer mit Sparkassen, Scheckbüchern, eisernen Tresors und Safedepots einem jungen, schönen Weibe im Laufe der Zeit bereiten können . . .

Als die Trauung beendet war, sang ein wohlgeschulter Künstlerchor den Brautmarsch aus »Lohengrin«.

Vater Schaumann neigte sich zu seiner Frau und sagte mit vor Schluchzen heiserer Stimme:

»Waßt, Muatta . . . Jetzt wär's am schönsten, mir könnten am Fleck sterb'n. Wann 's kan' Himmel drob'n gibt, so gangerten mir wenigstens von an'. Wann ma a so a schöne Freud' mit aner Tochter derleb'n kann, wünschert i mir nix anders als Töchter.«

»D' Reserl hat uns es anders 'zagt . . .« meinte die Mutter ebenfalls weinend.

379 Die Sonne der Seligkeit war verdüstert worden durch eine finstere Wolke.

Ja, Reserls Schatten lagerte sich auf alle Freudigkeit des Tages; flüchtig zwar, aber der Schatten war dennoch da. Wäre Reserl doch wahrlich tot gewesen!

Nur einer wurde von niemanden vermißt: Schani.


Es war ein Kaffeehaus: Schilder mit drei Billardkugeln und gekreuzten Queues, sowie der Ankündigung von Frühstück-, Tages- und Nachtpreisen, kleine Fensterrahmen mit gelben Vorhängen, im Innern eine rote Tapete mit Goldbronzeornamenten, ein automatisches Werkel, eine Kredenz, rotgepolsterte Bänke an den Wandseiten und die üblichen Marmortische samt Stühlen, sowie ein geflicktes Billard in der Mitte des Zimmers – das alles ließ die Bezeichnung »Tschoch« gleich auf den ersten Blick als gerechtfertigt erkennen.

Mehr noch drei Mädchen, deren eines eine Gürteltasche trug, als Zeichen ihrer Kassierinnenwürde.

Die drei langweilten sich.

»Gehts, hört' m'r auf! A so a stiere Zeit jetzt! Hat scho gar ka Mensch mehr a Geld?« sagte die mit der Tasche.

»Die Zeiten werd'n immer schlechter. Und dann lassen die Frau und der Herr ihr'n Grant an uns 380 aus. War' mir eh liaber, mir hätten jeden Tag feine Wurzen.«

»Geh! Da herin! Wann a besserer Herr hereinkummt, nimmt 'hn ane von draußt mit. Das Lokal sollt' für solche verboten sein. Dö ham eahna Straßen. Wann i das will, wir' i ka Kassierin herin. Bis i das verdien', was di mit amal hat . . .«

»D' Alte kummt! Der Feuerdrach'! Wann i nur dö wohin trag'n kunnt'! . . .«

»Küß' d' Hand, gnädige Frau,« scholl es von allen dreien der Besitzerin des Lokals, der Bös-Mutter, entgegen. Es gibt Schwammgeschäfte, die ihren Produkten mit mehr oder minderer Naturähnlichkeit die Form einer menschlichen Gestalt für Auslagenzwecke verleihen. Einer solchen minder gelungenen Wiedergabe glich die Gestalt der Bös-Mutter. An der Seite der Kredenz stand ein alter, wackeliger, zerfetzter Lehnstuhl, der Herrschersitz der Gefürchteten. Feuerwasser schien in ihren Augen nicht nur für die Gäste im »Kognakzimmer« (einem kleinen Nebenraum, in dem man bei Damenbedienung für unerhörtes Geld das unerhörteste Gesöff bekam), sondern auch für sie selbst von größter Wichtigkeit zu sein.

Gewöhnlich war sie schon damit gefüllt, wenn sie aus der Wohnung nach einem Nachmittagsschlaf in das Lokal herabkam. Es handelte sich nun darum, welche Gefühle die belebende Flüssigkeit auf sie ausgeübt. Manchmal zänkische, manchmal wohlwollende und manchmal solche sentimentaler Natur.

Zu Zeiten, wo die Mädchen im Lokal mit den Gästen zechten und sich im Dienste des Geschäftes ihre 381 Gesundheit unheilbar ruinierten, leuchtete die ganze oberste Schwammpartie vor Wohlwollen. Die Bös-Mutter verdiente dann ihren Beinamen mit vollstem Rechte. Sie war von einer zugleich würdevollen und zärtlichen Mütterlichkeit.

»Albin' . . . Albin'! Sie g'fall'n m'r heut' gar net. Schaun S' Ihna in 'n Spiagel! Was red' i und sag' i immer: Essen S' mehr z' Mittag und gengan S' mehr spazieren. Aber natürlich . . . so junge Flitscherln verstengan das besser. Sie! . . . Sie! D' arme Bös-Muatta wird scho längst im Grab' lieg'n und dann erst werd'n S' auf meine Red'n kumma.«

Wenn ihre sentimentale Stunde gekommen war, saß die sonderbare Mutter auf dem Wrack eines einstigen Lehnstuhles, die Mädchen auf Stockerln um sie, und dann gab sie mit tränenden Augen Erinnerungen aus alten Zeiten zum besten. Dann glich die Szene bedeutend einem Bilde, wo Großmütterchen ihren Enkelchen wundergoldene Märchen erzählt.

Das heißt, bis der böse Riese, nicht des Märchens, sondern der Wirklichkeit erschien. Das war der »Bös-Vatta«. Nicht vielleicht, daß er der leibliche Ehegemahl der »Mutter« gewesen wäre. Er war ganz einfach ihr halbehelicher Beistand, ihr »Gschwuf«, ihr Sklavenhälter, das rohe, männliche Element des Betriebes, das, durch kräftige Muskeln unterstützt, vier betrunkene und krakeelende Gäste mit einem Wurf zur Tür hinauszuwerfen vermochte. Nichtzahlende wurden erst gewaltig geohrfeigt (an welcher Ausübung gerechter Vergeltung sich auch die jeweilige Kassierin beteiligte), dann einem oft merkwürdig 382 schnell auftauchenden Wachmann zu weiterer Amtshandlung übergeben.

Also wenn der »Bös-Vatta« auf der Bildfläche erschien und die Idylle betrachtete, wurde sein von Wein erhitzter Kopf noch gewaltig röter. Er fühlte sich verantwortlich dafür, daß die Mädchen ihre Zeit nicht mit bloßem Herumlungern ausfüllten. Das konnte nur geschehen, wenn kein Gast anwesend war. Und dieser Umstand allein vermochte es, daß er aus seiner schönen, im Gasthause geholten Ruhe aufs schnödeste gerissen ward.

»No, ös Menscher, für das werd't's g'füattert, daß ös um dö alte, b'soffene Banistiererin sitzts? Derer hau i noch amal was auf dös ausbrennte Hirnkastl, daß 's ausananderfliagt. Schauts, daß 's auf eure Plätz' kummts! Setzts enk zum Fenster, sunst kummt sein Lebtag ka Mensch eini.«

Die Mädchen gehorchten dann erschreckt, indes sich »Bös-Vatta« und »Bös-Muatta« so saftige, unzweideutige Grobheiten und Unflätigkeiten sagten, daß sogar die rote Tapete noch um einiges röter zu werden schien.

War aber die »gnä' Frau« einmal in der Laune der Bissigkeit, dann konnte sie allen die Erde zur Hölle machen. Den Mädchen wurde gekündigt, oft wurden sie, und wenn es mitten in der Nacht war, hinausgeworfen. Gerade, daß sie ihre Habseligkeiten zusammenpacken konnten.

Am fürchterlichsten konnte der »Herr« werden, wenn ein neu eingetretenes, ihm zu Gesicht stehendes Mädchen seinen Anträgen nicht gleich ein geneigtes 383 Gehör schenkte. Er betrachtete das weibliche Personal als seinen Harem, eine Ware, über die er verfügen konnte, wie es ihm beliebte. Ein Anlaß zu Äußerungen der Wut war bald gegeben. Da so ein mit den Verhältnissen oft unvertrautes, junges Ding, das vermeinte, einen anständigen Bedienungsposten gefunden zu haben, gegen die Gäste gleich spröde war wie gegen den »Herrn«, so war der Grund zur Ausmusterung bald gegeben. Auf die verletzendste und schamloseste Art wurde es auf die Straße gesetzt, indes »Mutter« von ihrem Lehnstuhl her in der erbaulichsten Weise auf das abziehende weinende Mädchen einsprach.

»Seg'n S' es, seg'n S' es! So is's, wann a jung's Madl nix annehmen will. Ja, ja, Kinder! Von Ältern is no immer was z' lerna. Mir hab'n das scho längst hinter uns, was ös no mitmachen müaßts. So is aber das junge Bluat heutingstags. Nix annehmen von and're Leut', von seine Dienstherr'n und dann geht's halt z'grund. In Gott'snam'! Mir halten Ihna net z'ruck. Bei jeden Posten muaß g'arbeit't und g'folgt werd'n. Ihnere Eltern, wann S' no solche hab'n, können a Freud' über so a Töchterl hab'n. Wann a Gast was will, net auf eahm schau'n, wann der Herr oder d' Frau was sagt, an' kecken Schnabl hab'n, faulenzen woll'n: ja, liab's Kind, das geht net. Pfiat Ihna Gott! Vielleicht treffen S' es wo anders besser . . .«

Heute war die »gnädige Frau« nach einer offenbar richtig dosierten Mischung in wohlwollender Laune, trotz des noch leeren Lokals. Denn um diese Zeit 384 kamen gewöhnlich »Lebemänner«, die was springen ließen. Über die Vorgänge im »Kognakzimmer« wurden beide Augen zugedrückt, wenn die Mädchen nur fleißig Bestellungen bei der Kredenz machten.

»No . . . wia ham mr's? Gar neamd da heut'?«

»Das wissen S' ja, gnä' Frau, jetzt vur 'n Zins . . . Allweil stierer werd'n die Leut'. Aber murg'n is a Samstag.«

»Hör'n S' m'r mit 'n Samstag auf! Dö paar Flasch'ln Bier mach'n an' net fett.«

»Aber 's Werkel lassen S' in aner Tour spiel'n. Jede Minuten an' Kreuzer. Grad mir hab'n nix davon, gnä' Frau,« sagte die Kassierin.

»Mad'ln, versündigts euch net. Mit der Unzufriedenheit hat no kaner a Haus baut. Schauts nur, daß enk net der Herr so reden hört. Und zwa könnts euch zum Fenster setzen. Wia a Mannsbild a Madlg'sicht siecht, denkt er net so ans Spar'n. Dö letzten fünf Guld'n laßt er dann springen.«

Zwei der Mädchen begaben sich der Ordnung gemäß an ein Fenstertischchen und setzten sich gegeneinander. Die Kassierin, die sich gern Liebkind machte, blieb bei der in ihrem Lehnstuhl gelandeten Schwammfigur, um sich etwaiger Belehrungen und mütterlichen Tadels zu erfreuen.

»Hab' i d'r schon g'sagt,« meinte das eine des Mädchenpaares, »daß m'r mei Liebhaber g'schrieb'n hat? Den Briaf muaß i d'r zag'n. Der Blödigl g'spannt nix und meint, i bin in an' Dienst. Jetzt, wia mir gebaut san . . .«

385 »Mir hab'n meine Leut' g'schrieb'n. Sie glaub'n aa dasselbe. Sie woll'n, i sollt hamkumma und eahna wieder bei der Wirtschaft helfen. Hörst, so alte Leut' hab'n a Idee. Unserans soll wieder im Kuhstall arbeiten!«

»A Lustigkeit und a Geld, höcher geht's net auf der Welt. Wann mi der meine heirat'n möcht', sollt' i aa mit eahm a Wirtschaft führ'n. I bitt' di . . . kannst d'r mi mit aner Mistgabel vorstell'n? Vorderhand schickt er m'r alle Monat' was. A schön's Strumpfgeld und brauchst di net o'tapp'n z' lassen.«

»Wann er aber draufkummt? So a Mostschädel hat d'r no Gusto.«

»No . . . so kriagt er 'n Wurf, daß er mit d' Fersch'n in Himmel einischau'n kann.«

»Warst du . . . Ah!« unterbrach sie sich aufspringend. »Serwaß, Schani! Geh' spiel bei uns an' Gast, daß d' Leut' an' Respekt hab'n.«

»Geh furt, sag' i d'r! Ziag o!« war die liebenswürdige Antwort des Erschienenen.

»Jessas, Schanerl, warum denn heut gar so schief g'wickelt?« beeilte sich die Kassierin herbeieilend, zu fragen.

»O, Herr Schani! Habe die Ehre! No so kumman S' nur zu d'r alten Bös-Muatta. Wann s' aa so haßt, aber dös is s' nia. Am wenigsten mit Ihner«.

»Halts d' Goschen alle mitanand'. War gestern d' Nettel da?«

»Mit kan' Aug' hab'n m'r s' g'seg'n bis zwa, wo m'r zuag'sperrt hab'n.«

386 »No wart, Bestie! Bis i di wieder anmol in d'r Leih' hab'. Sauber wird's kleschen. Das schwir' i der Karnali. Also gar net war s' da?«

»Wia ma sag'n. Aber ka so a brummiger Kerl sein, Schanerl. Geh mach' a Bussikatzig'sicht. Dös steht d'r jetzt gar net guat.«

Aber Schani gab dem Mädchen einen ziemlich rücksichtslosen Stoß und ließ sich an einem Tische nieder.

»Schwarz laßt s' mi sein, dö Hur' dö. Gestern hab' i die letzten Düppeln verspielt und heut' bin i stier. Dabei hab' i ka Schneid'. No, so schauts net lang und bringts ma was z' trinken. An' Schwarzen mit Kognak z'erst zum Aufwarma. Dann werd'n ma weiter seg'n. San dö Weibsbilder alle so Tepp'n? Meiner Seel', i hätt' guate Lust und derlaubert mir anmal in der Hütt'n an' Spurt. Serwaß! Braucherts enk net umschau'n um dö Marmorplatt'n. Dös Hurenwerkel wurd' am ersten hin. Dann müaßt dö Alte durt an' Luftsprung mach'n, daß ma glaubert, sie fahrt am Blocksberg. Viel Kognak eini, sonst habts dös G'schwascht in G'frieß.«

»Aber . . . aber, Herr Schani. Heute siecht ma, daß S' mit 'n link'n Fuaß aufg'standen san. Daß i aber net lach'. Mit d'r Bös-Muatta werd'n S' do net so umspringa? Wo finderten S' denn wieder so bald a zweite? Sie! Sie! Weil er a bißl an' Zurn hat, möcht' er schon uns aa was antuan.«

Ja, es war Schani, Schani, der Poldis Bruder war. Schani, der der roheste Dirnentreiber und 387 Plattenhäupling geworden. Zur Schande unserer kulturellen Zustände sei es gesagt: vor Schanis Zorn zitterte alles, was mit ihm in Berührung kam. Besonders Geschäftsleute. Und unter diesen wieder Schankgewerbetreibende. Die Polizei selbst in ihren einzelnen Organen bog lieber von dem Wege ab, der mit der Horde kreuzen konnte.

Schani war nur Befehlshaber einer »linken« oder »gefehlten« Platte, die daher relativ klein war im Verhältnis zu einer rechtmäßigen. Zu solch einer aber wären einige Brüder erforderlich gewesen. Es ist sozusagen eine Dynastie in der Breite. Bei Unfällen, die sich infolge einer trotz alledem bestehenden Rückständigkeit und Lückenhaftigkeit der Gesetzgebung und infolge des Wahrspruches eines schlecht belehrten Geschworenenmaterials auch auf Jahre ausdehnen können, muß immer ein Bruder bereit sein, für den andern einzuspringen, damit die segensreiche Wirksamkeit der Genossenschaft keinerlei störende Unterbrechung erfahre. Ja . . . wären Poldi, Reserl und Katherl Jungen gewesen! Welche Ausblicke in die Zukunft!

Schani, der mit größter Beschleunigung bedient worden war, von einer Bezahlung verstand sich selbstverständlich nichts, war durch den stark mit Kognak versetzten schwarzen Kaffee in eine erheblich bessere Stimmung gelangt. Es schmeichelte ihm überdies, daß sein Herrentum so respektiert wurde, und wie Große einmal sind, sie lieben es manchmal, den nackten, einfachen Menschen zu zeigen, unbelastet von aller Würde, die, wie oft nur, grausame Bürde ist. Also 388 auch Schani tat einige Schritte von seiner olympischen Höhe.

»Gelt, alte Koberin, da kriagst do dö Federn. Wann i anmal so guat ausg'legt war' . . . Jetzt, gebts a Bier her, aber a Pilsner! Wann si ane in d'r Flasch'n vergreift . . . für das, was kummt, gib i kan' Garantieschein. Jetzt laßts enk was derzähl'n. Geh, mach' erst dös Bier auf! Tepperte Sau! Den ganzen Tisch machst mit 'n Fam naß! Wisch' mit d'r Schürz'n o! So . . . Jetzt'n . . . Also, losts zua; Heut' hat mei Schwester Ehr'ntag.«

»Schanerl, laß d'r gratalier'n! Bist eing'lad'n?«

»No a so blöde Frag' und i vergiß, daß i a Kavalier bin und hau' d'r a Tetsch'n eini! . . . Eing'laden wir i aa no sein? Habts a Idee? Da kennts mein' Schwesterl z' weni. Dö hat d' Nas'n so hoch, daß s' gar nimmer z'ruckfind't.«

»Wem heirat' s' denn?« forschten die Mädchen mit der Neugierde des Weibes, für das unter allen Umständen der Mann den Mittelpunkt des Interesses bildet.

»Wem s' heirat'? An Fallotten, dem i was g'schwur'n hab'. Habe die Ehre! Daß dö net Aug'n mach'n werd'n.«

»Weg'n was denn, Schani?«

»No, wann s' an' Gast finden werd'n, den s' zum einlad'n vergess'n hab'n.«

»Geh weg! Du willst hingeh'n? I bitt' di . . . dö werd'n d'r alle a Laberl.«

389 »Das will i manen. Dö werd'n im Extrazimmer singen und mir heraußt. Habts a Idee? Mir alle, d' ganze Mannschaft. Wißts, er is a so a Art Sänger und Klavierspieler. Geh! An' anständigen Rum auf das kalte G'schlader. An Hamur will i mir mitnehma von da. Dem Hundling hab' 's ja g'schwur'n. Schuldi bleibt der Schanl neamd nix.«

Dieser schöne Vorsatz erstreckte sich jedoch keineswegs auf die Begleichung der Zeche, sondern auf den Umstand, daß sein hochentwickeltes Ehr- und Männlichkeitsgefühl eine angetane Beleidigung niemals vergaß. Schani wußte, daß Rache bekanntlich ein Gericht sei, das man kalt genießen müsse. Die ihm ebenso verhaßte Schwester mußte ebenfalls getroffen werden. Tief – blutig . . .

Das Glas Rum (und ein nicht kleines) war dem Bier gefolgt. Die Mädchen hatten sich an Schanis Seite gesetzt und hingen an seinem Munde mit der unverhohlenen Bewunderung, die das weibliche Geschlecht ausgezeichneten männlichen Gestalten entgegenbringt, besonders wenn sie Menschenschlächter im großen oder im kleinen sind.

Schani war ob seines locker sitzenden Messers gekannt, gefürchtet und – bewundert. O Welt! . . . Wäre er seinen Anlagen nach ein nützliches, sich in die Millionen einreihendes Glied der Gesellschaft geworden, ein Tischler, Schuster, Schneidergeselle, ein armer Kommis, ein kleiner Beamter; Leute, die für die Allgemeinheit stündlich mehr an Heldentaten verrichten in ihrer Arbeitsfron; die alle Nichtstuer zu speisen haben, die großen und die kleinsten; alle, die 390 siech und krank sind, und alle, die gespeist werden müssen – wäre Schani einer jener nützlichen, Aufbauenden, Ernährenden, Erhaltenden gewesen, hätte er sich mit dem Zoll von Bewunderung ebenso bescheiden müssen wie alle Genannten.

Aber Schani war einer derer, die schon Blut vergossen haben. In seinem kleinen Kreise galt er dafür ebenso wie andere in sehr hohen. Man wußte es übrigens nur von dem Plattenhäuptling, aber man hatte ihm noch nichts beweisen können.

Das fürchterliche: »Jessas! I bin g'stochen . . .« kam mehr auf Schanis Rechnung, als andere vermuteten. Einer seiner Komplizen war einmal dabei abgefaßt worden und erhielt eine Strafe, die einer bald für den schäbigsten Konkurs, von Diebstahl gar nicht zu reden, erhält. Überschreitung der Notwehr. Das war die Bezeichnung für einen feigen, heimtückischen Mord gewesen.

Also Schani war durch das nachgeschüttete Glas Rum in eine Stimmung geraten, die zwei Extreme bedeutete. Im Augenblick fühlte er sich wohlig angeregt, mitteilungsbedürftig, ja fast zu einem Liebesschäkern bereit. Aber eine Kleinigkeit konnte diese Stimmung in die der fürchterlichsten, rohesten Wut verwandeln. Früher waren diesem Umschwung arme, ausgemergelte, hilflose Pferde zum Opfer geworden. In den niederen Regionen gilt dieses, aller menschlichen Selbstzucht bare, dem stumpfen Instinkt eines wütend gemachten Tieres würdige Toben für männlichen Zorn. Und je beschwichtigender, beschwörender die Worte sind, die man an einen solch unmenschlich 391 tollgewordenen Hampelmann verschwendet, desto anfeuernder in Wirklichkeit sind sie. Eine gesunde Tracht Prügel, an Ort und Stelle solch einer alkoholisierten Bestie verabreicht, würde die menschliche, anständige Gesellschaft von vielen Tragödien befreien.

»Schau'n werd'n s',« fuhr Schani fast elegisch fort, »wia i meine Schulden abzahl'. Da spießt si nix bei mir. Dö ganzen Köpf soll'n an 'n Schanl glaub'n lerna. Weh eahna, wann eahna was net recht is. A Spritzen und an Stichling ham m'r no allweil.«

Und Schani, der schon bedenklich mitteilungsbedürftig geworden, griff in die rechte Hosentasche und zog ein fürchterliches Schnappmesser hervor. Dann zog er aus einer sogenannten Revolvertasche den Gegenstand hervor, der ihr zu dem Namen verhalf.

Die Mädchen kreischten laut auf.

»Geh, steck' das ein! Gnä' Frau! Gengan S', sag'n S' eahm, er soll das Zeug wegtuan. Wann das losgeht . . .« Aber die gnä' Frau schlief.

Schani fühlte sich sichtlich durch den von ihm erregten Schreck belustigt und geschmeichelt. Er legte auf eines der Mädchen an, das vor Angst kreischend in das Kognakzimmer lief.

»Was plärrst denn a so? D'r Revolver is ja versichert. Da schauts her! Der kann derweil gar net losgeh'n.«

392 Und er demonstrierte den Versuch, ihn gebrauchsfähig zu machen.

»Laß eahm in Ruah'. Laß 'hn, wie er is.«

»Von mir aus. War' aa schad', wann i a so ane von euch knallt hätt'. Das is aber für andre herg'richt'.«

In dem Augenblick öffnete sich die Tür und ein Mädchen trat ein, das auf den ersten Blick die Straßendirne erkennen ließ. Ein breiter Hut mit nickender, falscher Straußenfeder, eine ebensolche, ein paarmal um den Hals geschlungene und dennoch fast bis zur Erde reichende Boa, ein Handtäschchen, ein hoher, stockdünner Schirm, eine mächtig aufgedonnerte, sichtlich rot gefärbte Haarfrisur, rot und weiß geschminktes Gesicht, das alles ließ keinen Zweifel über den Beruf der Besucherin aufkommen.

Schani, der sie schon lange erwartete, gelangte nun zu dem Punkte, wo sich seine Roheit betätigten konnte. Der Blick, den er der Eingetretenen zuwarf, war kein beruhigender. Welche Mißhandlungen nur verriet er? Aber statt, wie er geglaubt, ihm ängstlich entgegenzueilen, setzte sich das Mädchen, ohne ihn zu beachten, an einen entfernten Tisch gegenüber dem Ausgang zur Kaffeeküche und bestellte laut einen Kaffee. Schani stieg das Blut zu Kopfe, teils von dem genossenen Getränk, aber am meisten aus der sich anerzogenen Wut, die sich über alles verbreitete, das seiner stets geschmeichelten Eitelkeit widerstrebte.

Er stand langsam auf und ging mit langsamen, eine bedrohliche Schwerheit ausdrückenden Schritten auf das an seinem Platze zwar ruhig, doch immerhin 393 ängstlich harrende Mädchen zu. Die drei anderen Mädchen, die mit Zittern einer aus früheren Beispielen ihnen genügsam bekannten Szene entgegensahen, wagten keinen Laut. Wer wollte zwischen den Löwen und sein Opfer treten?

»Wünsch' guat'n Ab'nd, Fräul'n. Vielleicht därf i so frei sein, daß i mi da an Ihnern Tisch niedersetz'. Sie kummen m'r so bekannt vur . . .«

Die Ärmste erzitterte unter diesem ironischen Tone, der nichts Gutes verhieß, und einen scheuen Blick warf sie nach der Tür, die zur Küche führte.

Schani bemerkte den Blick und deutete sich ihn auf seine Weise.

»Aber Fräul'n . . . durt is zwar aa a Ausgang, aber wer wird denn durt hinausgeh'n woll'n, wann i Ihna, bei der Haupttür vurn hinausbegleiten will, das haßt, wann mei Begleitung angenehm is?«

Eine tiefbange Pause folgte. Endlich änderte Schani den angenommenen ironischen Ton. Seine Stimme kündete nun nichts mehr Gutes.

»Hast übrigens a Geld bei dir?«

Abermals wars das Mädchen einen scheuen Blick nach der Küchentür.

»Nutzt d'r nix, du Ruaß. Aussi kummst m'r net, wann i net will. Also . . . hast a Geld?«

»Na.«

»Was? Na? Du . . . i bin zu kane Tanz jetzt aufg'legt. Hast eh scho was am Rubisch bei mir steh'n. Jetzt, derweil hab' i ka Zeit. Aber aufgeschob'n . . . 394 Also reib umi. I brauch Maßen. I lieg' d'r wegen dir, du Karnali, alsa stierer auf der Erd'.«

»Wann i d'r sag', i hab' ka Geld,« war auf einmal die wie von aller Pein der Angst befreite Antwort. »I hab' gestern kan Herrn mit mir g'numma.«

»Was . . . du warst gar net . . .«

»Na und geh aa nimmer. Wenigstens für di net, du Schuft!« rief das Mädchen aufspringend aus. »Und waßt, seit wann nimmer? Seit d' mi 's letztemal g'haut hast, nur desweg'n, weil i net leid'n hab' woll'n, daß d' mei selige Muatta das g'haßen hast, was i bin. Mit mir hast machen können, was d' woll'n hast. Aber an meine Leut' trau di net an! Meiner Seel', eher derwürg' i an', der mir das nomal sagt. Es gibt Sachen, mit die i net g'spaßen laß.«

»Hörst, Nettl, laß di erst amal anschau'n! Bist über d' Nacht vielleicht vertauscht wur'n? Du Beschtie, du ölendige! Du haßt mi an' Schuft'n? Nur weil i die Alte a Hur' haß? I sag's no amal.«

Eine Weile sagte Schani gar nichts mehr. Das erbitterte Mädchen hatte ihn einige Male ins Gesicht geschlagen, mit aller Kraft, die äußerste Wut zu verleihen vermag. Man hatte dieser Verlorenen das einzig Heilige geschmäht, das sie besaß; das, was für jeden Gebildeten das Verehrenswerteste unter Menschen ist, war diesem armen, geschminkten, geputzten, mißbrauchten, verachteten und oft geschlagenen Geschöpf all das, was andere Gott und Religion benennen.

Der Schmutz, der um das Mädchen aufgesprüht war, hatte nie die väterliche Schwelle erreicht. Verführt, gefallen – die Eltern hatten von dem Abstieg 395 ihrer Tochter nie etwas geahnt. Die Unterstützungen wurden, als von einem braven, ehrlich verdienenden Mädchen stammend, entgegengenommen. Und beide Alten waren mit einem Segenswunsch für ihr Kind dahingegangen.

Diese durch den Schmutz gezogene Seele hatte eine heilige Stelle, an der sie tief verwundbar war.

Schani konnte sich erst langsam von den Schlägen in sein Gesicht, noch langsamer von seiner Verblüffung erholen. Dann wollte er auf das Mädchen.

»Ferdl! Hilf!« gellte dieses.

Schani drehte sich instinktiv um. In der Küchentür stand sein gefährlichster Feind, der, ebenso nie verzeihend wie Schani, eine einstige, in seinen Augen blutige Beleidigung zu rächen hatte.

Wer den in der Tür Stehenden so ansah, würde ihm nie dessen mit der Schanis auf einer Stufe stehenden Gefährlichkeit angemerkt haben. Klein, unter dem Begriff männlicher Kleinheit, gedrungen, mit einer gebogenen, spitzen Nase, lebhaften, kleinen Augen, mit einem Samtrock bekleidet, den spitzen Kopf wie mit einer Art Heiligenschein von einem Plüschhut bedeckt, machte er dem Unbefangenen einen keineswegs bedrohlichen Eindruck.

Aber Schani wußte es besser. Der Krieg war erklärt bis zur Vernichtung, denn Ferdl hatte ihm seine »Geliebte«, das heißt seine Melkkuh weggenommen. Weggenommen, nicht vielleicht in freiem Tausch errungen: nicht auf einem Wege, der freien, würdigen, gefestigten Männern vom Schlage Schanis und Ferdls ziemte, war dieser in das Heiligtum der Liebe 396 eingebrochen. Nein, feigerweise, und hatte vorher noch die Sklavin gegen den Herrn gehetzt.

Im Nu war das Lokal erfüllt von Gekreisch und Gebrüll. Die Schankmädchen rannten auf die Straße und gellten um Hilfe. Die längst erwachte »Bös-Mutter« verkroch sich in eine Ecke.

Schani hatte rasch nach dem Revolver gegriffen. Aber – es war zu spät. Der war ja dummerweise versichert. Nur noch das Messer . . . Eine schreckerfüllte Frauengestalt stand bebend an dem Tische und sah mit großen, leeren Augen auf die Kämpfenden.

»Schani!« gellte es, »gib acht!«

Schani hatte gut achtzugeben. Einmal war das Messer des Gegners zwischen die Rippen gedrungen, herausgezogen worden und hatte sich noch einmal rief eingebohrt.

Ferdl nahm wie nach einer gelungenen Arbeit den Hut ab, wischte sich damit über das Gesicht und setzte sich dann nieder. Entfliehen? Wozu? Er würde doch bald eingeholt werden. Und am Ende . . ., was war es denn? In einem Nachbarstaat hätte man die Sache einen unglückselig verlaufenen Ehrenhandel geheißen, an dessen verhängnisvollen Ausgang kein vernünftiger Mensch denken konnte. Natürlich nur für bestimmte Persönlichkeiten. Für Ferdl und Schanl lautete die Losung anders: »Aner muaß dran glaub'n, entweder er oder i«.

Dieser Anschauung gab auch Ferdl Ausdruck, als er zu den eindringenden Passanten, dem heimkehrenden »Bös-Vatta« und dem Polizeimann ruhig 397 sagte: »'s Herz muaß ma hab'n. Sunst liegert i jetzt durt.« Dann ging er ruhig, als ob nichts geschehen wäre, ohne irgendwelche Erregung, geschweige denn Renitenz mit dem Wachmann durch das rasch angesammelte Publikum, dessen drohende Stellungnahme ihn nicht im mindesten angriff. Er stand unter dem Schutze des Gesetzes . . .

Mittlerweile lag ein Hut neben, eine Boa samt dazugehörigem Frauenleib über der Leiche und eine Stimme jammerte unausgesetzt:

»Schani . . . o! Schani! Verzeih mir's do!« . . . Die Unglückliche hatte ihren Peiniger noch geliebt.

* * *

Die Hochzeitstafel fand in dem schönen, behaglichen Extrasaal eines Stadtrestaurants statt.

Es war ein gänzlich verschiedenes Publikum gegen das bei der Hochzeit der Sedlmaier Anna. Es ging lustig, auch laut, aber nicht so laut zu wie auf dieser. Es gab keine Fiaker, mit Ausnahme des Sedlmaier Gustl, der sich aber so gesittet und still verhielt, wie früher einmal unmenschlich und brüllend. Es gab keine kampflustigen, ironischen Fleischhauerjünglinge, keine Preisathleten, keine Duettensänger. Es gab auch kein schöngelocktes Haupt und keinen idealen Schnurrbart, aber ach! auch keinen Kellerlacher und keine lustige Mirzl mehr . . .

Poldi war in dem von ihr ersehnten Lande der Schönheit und Reinheit angelangt.

Indes es drinnen lustig zuging und Toaste stiegen, Tränen freudiger Rührung vergossen wurden und 398 Kellner aus und einflogen, hatte sich draußen im Schankzimmer allmählich eine kleine Schar von Gästen niedergelassen, die Wirt und Personal wie die anderen Gäste nur mit Besorgnis betrachteten. Man kannte sie an ihren Hüten, ihrem Gehaben und ihren Mienen. Wenn diese Gäste was vor hatten, dann war es mit der schönen Hochzeitsfeierlichkeit vorüber. Wirt und Kellner taten daher alles mögliche, um den »Herren« keinen Anlaß zu einer berechtigten Unzufriedenheit zu geben. Ja, der Wirt erschien alsbald, stellte einen Liter Wein auf jeden Tisch und bat die Herrschaften insgesamt, dies als eine Spende des Brautpaares zu betrachten und auf dessen Wohl zu trinken.

Es wäre wohl alles umsonst gewesen. Einer der mit so viel Unbehagen betrachteten Gäste wendete sich an seinen Nachbarn.

»D'r Schanl kummt no net«, flüsterte er. »Jetzt um die Zeit hätt' bald die Hetz' angeh'n soll'n. Dö Güll, was d'r alle da ham. Allani könna ma nix tuan.«

»Waß net, wo er bleibt! Herb'stellt san m'r. Maßen sollt' er aa a bißl mitbringen. Wann er net bald kummt, gengan m'r. Als a stierer sitz i do net gern. Net weg'n da allani. Da san s' froh, wann ma ohne G'stank'n o'ziag'n. Aber a paar Kranln möcht' i gern wieder im Sack g'spür'n . . .«


399 ». . . vor Liebe und Liebesweh'«, hatte der junge Gatte geendet. Brausender Beifall lohnte seinen Vortrag. Dann, nach einigem Gesumme, ward es, wie es öfter geschieht, urplötzlich still. Wie wenn alles sich verabredet hätte.

Die schöne Braut meinte lächelnd:

»Jetzt geht a Engel durchs Zimmer . . .«

Poldi – es war dein und deines Mannes Rettungsengel. Für diese Stunde war der Revolver in Schanis Händen bereit und in eben dieser Stunde wärst du Braut und Witwe zugleich gewesen . . . 400

 


 


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