Karl Adolph
Töchter
Karl Adolph

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Sechstes Kapitel

Gibt Mitteilung über das Los solcher Mädchen, die keinen gesellschaftlichen Aufstieg versuchen. Handelt von Sängerinnen, Fürstinnen und künstlerischen Dingen.

Die Tage armer Nähmamsellen, ob sie nun mit fleißigen Händen die Nadel führen oder als lebendes Modell die Phantasie von Seide, Samt, Atlas, Spitzen vor den Augen meist nur allzu kritischer Käuferinnen in das richtige Licht zu stellen haben, gleichen an Eintönigkeit einem öden Landregen, der kein Ende erwarten läßt. Ungesehene und unbegehrte Schönheit welkt bei dem Licht elektrischer Lampen oder dem fahlen Tagesschimmer eines öden Hofes. Jeglichen Morgen das Erwachen mit der lähmenden Aussicht auf ein neues Morgen voll grauer Eintönigkeit, ohne Heiterkeit, ohne Abwechslung und ohne den Schimmer einer fröhlichen Hoffnung.

Diese armen Heldinnen der Arbeit, die meist die guten Hausgeister der Familie sind – wer bewundert sie? Wer begehrt sie, außer zu dem Ergötzen einiger 126 lustiger Stunden? Selbst die Poesie hat einen erlogenen Schimmer um sie gewoben. Man hat sie zu Geschöpfen gestempelt, die, von steter Liebeslust erfüllt, sich dem nächstbesten Stutzer an den Hals werfen und für ein Souper die Triebe der eleganten Herren befriedigen helfen. Ein wenig rührselige Schönrednerei, ein bißchen spitzfindiges Philosophieren und das arme Geschöpf ist abgetan als Begriff, der ebenso unwahr als unwürdig ist, wie meist alles, was die Seele des Volkes betrifft.

Poldi hatte einen weiten Weg nach ihrem Arbeitsort und um sechs Uhr früh verließ sie alltäglich ihre Wohnung, unbekümmert um Kälte oder Regen, und wanderte ihrem Ziele zu, das so viel an stündlicher Aufopferung, Selbstverleugnung, Selbstbeherrschung, Arbeitsunrast und Entbehrung heischte.

Poldis heiteres, anspruchsloses Gemüt empfand die Bitternisse dieses Lebens nicht in dem Maße, als sie wohl von einer mehr quälerischen Natur aufgenommen worden wären. Sie war gleich allen Genügsamen dankbar für jeden kleinen Lichtblick ihres sonnenlosen Daseins, dem selbst die Häuslichkeit so viel an Kümmernissen bot.

Es wäre wahrhaft ein Wunder gewesen, hätte sich Poldis nun voll entwickelte, jungfräuliche Schönheit nicht eines Schwarmes jener zudringlichen Männlichkeit zu erwehren gehabt, die die Liebe in ihrer sinnlichsten Form nicht dieserhalb allein schätzt, sondern erst als Anlaß der unwürdigsten Renommage. Und wenn sich Vertreter dieser Männlichkeit Dichter heißen, ist diese Renommage noch unheilvoller, da sie gedruckt, 127 belobt, empfohlen und gelesen und die Tochter des Volkes gleichsam als dankbar zu jagendes Freiwild geschildert wird.

Viele hatten es schon mit mehr oder minder empfehlenden Künsten der Unwiderstehlichkeit versucht, sich Poldi zu nähern. Aber diese wußte mit einer Abweisung von eisigster Kälte bis zum lebhaftesten Erzürnen allen Annäherungsversuchen entgegenzutreten. Da eine leider allzuverbreitete gute Meinung von sich selbst besonders jene Herren auszeichnet, die in buntes Tuch gekleidet sind und mit dem Säbel klirren, so fehlte es an Anfechtungen von dieser Seite am wenigsten. Aber Poldi war stolz. Dieser Stolz allein hätte sie bewahrt, das Thema eines Kasinoklatsches zu werden.

Da ihr Weg von zu Hause nach ihrem Arbeitsort auch durch einige Anlagen führte, durchschritt sie in Frühlings-, Sommers- und Herbstzeit stets diese. Mein Gott! Diese paar Anlagen mußten ihr mit ihrem Grün für karge Minuten das ersetzen, was man gemeinhin »Natur« nennt. Das heißt eine Abwechslung für den Städter im Banne der staubigen, heißen Straßen und dumpfigen Arbeitsorte. Ich glaube noch einmal, endgültig der Versicherung überhoben sein zu dürfen, daß ich nicht von den Städtern spreche, die ihre Erholung in den Schweizer Bergen oder in einem fashionablen Strandbad suchen.

Die letzte grüne Etappe auf Poldis Wanderung bildete der Rathauspark, der sich unfern ihres Arbeitsortes befand. Und die karge Mittagspause pflegte sie ebenfalls dort zu verbringen. Dort genoß 128 sie unbeachtet ihr dürftiges mitgebrachtes »Mittagsmahl« und dann lauschte und träumte sie, wie arme Nähmamsellen zu träumen pflegen, von Schönheiten, die ihnen für Ewigkeit verschlossen bleiben, von der weiten, reichen Welt, die im letzten Sinne doch nur Müßiggängern ihre Wunder bietet, von der Erlösung durch einen modernen Prinzen und all dem wunderlichen Zeug, das neunzehnjährige Mädchen zu träumen pflegen.

Und in einen solchen Traum fiel Julius, der Julius des ersten Kapitels, der interessante, melancholische, gebildete Mann – der Dichter. Wie er es angefangen, die spröde, stolze, abwehrende Art des jungen Mädchens zu besiegen? Offenbar, weil er trotz aller Weltgewandtheit kein zudringlicher Laffe war und weil er ein Buch in der Hand hielt, das eigentlich vermöge einer Banalität des Zufalls zum Anknüpfungspunkt wurde – kurz, weil es sich erwies, daß dieses Bändchen lyrischer Eigenbau des jungen Mannes war.

Da besonders gedruckte Verse dem Volke als eigentlich wahre »Dichterei« erscheinen, konnte Poldi nicht anders, als den jungen, feinen Mann für eine Art von höchst bevorzugtem Wesen zu halten, zudem da er sehr bescheiden und nicht im mindesten zudringlich auftrat.

O diese Dichter,
Die Traumichnichter,
Das san halt G'sichter,
Das is a G'lichter . . .

129 sang einmal ein Volksbarde, der sich selbst »Dichter« fühlte.

Julius war ein junger Mann aus sehr gutem Hause, dem der väterliche Monatszuschuß gestattete, am Studium sozusagen zu naschen. Bisnun hatte er sich keiner Fakultät endgültig als Jünger in die Arme geworfen. Er hatte ja am Ende Zeit und der Verkehr mit der Muse der Dichtkunst und anderen ihrer Söhne war ein ganz hübscher Zeitvertreib. Solche Söhne aus anständigen Häusern hat die Kunst gar viele, bis sich jene als Erben des väterlichen Scheckbuches lieber dem Studium der Kurse hingeben und Erwartungen hegen, die mit Verwaltungsratsstellen und Ministerstühlen in Zusammenhang stehen.

Julius war kein sogenannter »heuriger Hase«. Im Gegenteil, er betrieb die Weiberjagd aus Passion, aber mit Geschmack. Er hatte unleugbares Talent, schöne Verse zu machen und eine kleine Stimmung auszunutzen. Auf mehr als auf schöngeformte Verse oder kleine Skizzen mit viel »Stimmung«, in denen immer und immer das Weib oder der Wienerwald die Hauptrolle spielte, langte es allerdings mit seiner Kraft nicht. Da er gleich vielen Dichtern nur sich selbst und daneben einen winzigen Ausschnitt des Lebens sah, war er formlos-weich, sentimental, kokett, manchmal aufhauend, aber nie gefühlvoll und männlich-kräftig. Der Salon war der Treibhausboden seiner Kunst. Ausflügen in das Reich der wahren Natürlichkeit wehrten seine Erziehung, seine verfeinerte Genußsucht, die er Ästhetik zu nennen liebte, und ein wehleidiger Egoismus.

130 Das Weib des Volkes war ihm des Anschauens wert, wenn es schön war. Doppelt, wenn seine Eroberung Mühe kostete. Mit dem Blicke des Kenners sonderte er zwischen leichter Ware und einer wirklichen »Eroberung«. Zu einer solchen zählte er Poldi. Pah! Wenn noch so spröde – aber nichts weiter als Nähmamsell. Die Aufzeichnungen solcher unwürdiger Verführungsjägerei nannte er Dokumente des Lebens und er bildete sich wirklich ein, Kunst zu betreiben, wenn er niedrige, sinnliche Sensationen in ein verlogenes philosophisches System kleidete und auf den Büchermarkt warf, was um so leichter geschehen konnte, als er für Druck und Ausstattung die Kosten trug.

Solcherart war Poldis Ideal beschaffen, das sie mit dem Maße maß, das wir an alle Ideale anzulegen lieben: dem unendlicher Vergrößerung. Aber endlich dämmerte ihrem einfachen Sinne das Verständnis auf, daß zwischen Mann und Weib ein »ideales« Verhältnis auf die Dauer ein Unding sei. Sie wußte, daß es nur zweierlei Lösungen gab, wenn sie eine dritte nicht kurzerhand von Anfang an von sich gewiesen hätte.

Die Geliebte im »rein menschlichen Sinne« zu werden, wäre Poldi nie eingefallen. Sie besaß neben natürlicher Keuschheit, wie schon gesagt, viel Stolz. Und dann – sie war nicht eigentlich in Liebe entbrannt zu dem Dichter, wie eine unschuldige Täuschung ihr vorsagte. Sie liebte nur mit unbewußter Sehnsucht in ihm den Träger einer verfeinerten Kultur, den Bringer und Genießer eines Teiles der 131 Schönheiten dieses Lebens, den Anwärter auf mühelosen Aufstieg zu Höhen, die für die demütigen Augen Poldis dem gewöhnlichen Manne versagt blieben.

Also Poldi, die von der Unsicherheit eines weiteren freundschaftlichen Verkehrs und der Aussichtslosigkeit eines andern Verhältnisses überzeugt war, endete den kurzen schönen Frühlings- und Sommertraum, wie ihn das erste Kapitel an einer betrüblichen Stelle schilderte.

Um nun alle Leser, ob männlich oder weiblich, über die Nachwehen dieses Abschiedes für den Dichter zu beruhigen, sei mitgeteilt, daß dieser mit einem Groll verletzter Eigenliebe und Siegesbewußtseins beim nächsten Fiakerstandplatz einen Wagen bestieg und ins Café Zentral fuhr.

Dort sonderte er sich von seinen Bekannten ab (was, als auf Inspiration deutend, teilnahmsvoll respektiert wurde), ließ seine Melange unbeachtet kalt werden, verscheuchte den Kellner, der mit einer Armlast von Zeitungen herbeigerannt kam, machte unter vielem Stirnrunzeln Notizen in sein Taschenbuch, rauchte ein halbes Dutzend Zigaretten und erhob sich endlich mit der erleichterten Miene eines Menschen, der sich irgendeiner Last entbunden fühlt.

Seelische Schmerzen sowohl, als die Aussprache mit dem Genius lassen auch in einem Dichter das Gefühl des Hungers keine Unterdrückung leiden. Also ging man in Gesellschaft zu Mitzko, von dort brach man anderswohin auf und um vier Uhr früh tat sich im Café Riedl die Verheißung eines holden Wunders auf.

132 Der Dichter war sowohl mit seiner abgetanen Liebe, einem neuen Buche sowie dessen Titel ins reine gekommen. Dieser hieß, wie die Freunde erfuhren und die Blätter in den nächsten Wochen andeuteten, »Pfade ins Finster, eine Wiener Geschichte«.

Es war ungefähr dieselbe Stunde, als Poldi nach einem lautlosen Sichsattweinen in Schlummer gesunken war.


Auch an dem heutigen Tage begann die alltägliche, zur Gewohnheit gewordene Wanderung durch die Gassen und Straßen wie stets im Verein mit tausend anderen, die teils schlenderten, teils hasteten, aber alle mit dem einen Ziele vor Augen: dem Arbeitsort.

Plötzlich hörte sich Poldi von einer vertrauten, heiteren Stimme angerufen, die sie schon lange nicht gehört. Ein hübsches, junges, dralles Mädchen mit einem Gebäckkörbchen und einem »Milchhäferl« hielt die einsam und sinnend Wandernde an.

»Poldi, grüaß di Gott! So was Seltsam's . . .«

»Annerl!«

»Ja kennst mi denn no? Dürft' die Weanastadt die ganze Welt sein, daß ma si amal trifft. So lang scho net g'seg'n! A halbe Ewigkeit . . .«

Da seit dem letzten Wiedersehen etwa vier Jahre vergangen sein mochten, ließ sich die Zeitdauer der ganzen Ewigkeit mit acht Jahren berechnen.

Die als Annerl Erkannte war niemand anderes als die Sedlmaier Anna, die Tochter des Sedlmaier Gustl, die der Weiblichkeit besten Teil gewählt: sie war Dienstmädchen geworden. Und als solches, nicht 133 a priori, sondern weil sie elterlicherseits nichts als reinen gesunden Wirklichkeitstrieb mitbekommen hatte, weil die Verhältnisse zu Hause und die Wünsche im eigenen Busen schlicht, klar und von Kümmernissen unbeschwert blieben, hatte Annerl ihr Herz nicht an einen Dichter verloren, sondern an einen robusten, rotwangigen, muskulösen, appetitkräftigen Fleischhauergehilfen, der in kurzem Ernst zu machen und sein Annerl von der niederen Sphäre eines dienenden Geistes zu der höheren einer Allgewaltigen im Bereich einer »Fleischbank« zu führen gedachte.

Ja . . . Annerl war glückliche Braut. Ihr Fleischhauerbräutigam, der einstweilen ebenso wie Annerl selbst in fremden Diensten frondete, war im Begriff, mit seinem Ersparten eine eigene »Bank aufzutun«, was in der Geschäftssprache der Zunft heißt, er wolle sich selbständig machen.

»Waßt,« erklärte die vor Freude rotglühende Braut im Verlauf ihrer Schilderung der Verhältnisse, »in drei Tag' bin i frei und dann bleib' i daham, richt' mei Ausstattung z'samm' bis zur Hochzeit. In acht Wochen is s' und du muaßt dabei sein, Poldi. Gelt ja, du versprichst mir's!«

Annerls Gesicht war so lautere Biederkeit und Aufrichtigkeit, ihre Einladung eine so herzliche und dringende, daß Poldi sich gezwungen fühlte, diese anzunehmen.

»Schau, Polderl,« fuhr Annerl fort, »kannst mir's glaub'n, daß i nia an di vergessen hab'. Es haßt sunst zwar, aus 'n Aug', aus 'n Sinn. Gar bei Schulkameradinnen. Aber di hab' i immer guat leid'n 134 mög'n. Und net wahr, Poldi, du mi wohl hoffentli aa?«

Auch Tini hatte einmal Poldi an ein ehemals bestanden haben sollendes Freundschaftsverhältnis gemahnt. Wie verschieden aber war ihre Aufnahme damals gewesen von der heutigen. Annerls schlichte Treuherzigkeit und echte Gefühlswärme verliehen ihrem Anspruch auf Poldis Freundschaft alle Berechtigung.

»G'wiß hab' i di immer gern g'habt,« sagte Poldi mit Gefühl, »und wer hätt' di denn aa net leiden sollen? Warst allweil a lieber Batsch und i hab' a Freud', daß d' es so guat troffen hast.«

»Ane hat mi aber amal do net ausstehn können. Wirst wohl no wissen, die war m'r so guat g'sinnt, daß s' mir am liabsten Kronäugeln ein'geb'n hätt'.«

»Du manst die Trümmler?«

»Natürli. Aber hast net g'hört, was ihr g'scheg'n is, wia s' ihre Leut' hat hamsuach'n woll'n?«

Poldi erinnerte sich lächelnd. Ein klein wenig Bosheit lebt im reinsten Gemüt.

Denn am bewußten Abend, als Müller sich unsichtbar gemacht, hatte die Mutter Reserls Erzählung wiederholt. Poldi war nicht erstaunt gewesen. Sie hatte Tinis Aufstieg wohl geahnt. Und zum Entsetzen ihrer Mutter lobte sie noch die wackere Tat Trümmlers.

»Waßt,« fuhr Annerl fort, »der Toberl, in Vattern sein Freund, hat damals die Fuhr g'macht. Der hat die ganze G'schicht' am Standplatz derzählt. Du, was d'r Vatta trieb'n hat, wia er hamkumma is . . . 135 G'lacht und g'want und tanzt hat er, daß mir glaubt ham, er is narrisch wurd'n. Er hat d'r an' Pick auf die Tini, weil s' eahm damals, glaub' i, sein Zeug beleidigt hab'n soll. Jetzt – unser Vatta« – Annerl lächelte schonungsvoll, wie man lächelt, wenn es die Schwächen einer uns lieben Person gilt – »is bald über was beleidigt. Mir lassen eahm aa a Ruah, wann er recht schimpft. Denn er is do der beste Mensch. Und wann er amal net schimpfen kunnt, muaßt er wirkli scho am Tod krank sein. Wia 'hn mei Peppi (der Bräutigam Annerls) no net kennt hat, wär s bald zu an' Skandal kummen im Wirtshaus. D'r Vatta weg'n nix und wieder nix haßt eahm an' Lausbuam und an' Dreckfink und alls mögliche. Du – i sag d'r, wann i net so g'red't hätt' und d'r Peppi mi net so gern hätt' . . . Glei drauf, kehren der Hand um, war all's wieder guat. Meiner Seel', mir hab'n allweil a Angst, daß d'r Vatta an an' g'rat, der's unrecht versteht.«

Poldi, die aus der Erinnerung her das Temperament Herrn Sedlmaiers kannte, mußte bei der bekümmerten Erzählung der Freundin herzlich lachen.

Da sowohl die eine als die andere es schon eilig hatte und Annerl bei einem kurzen Plausch soviel als möglich erledigen wollte, kam sie unvermittelt darauf, Poldi zu fragen, wann diese zu heiraten gedenke. Ein Thema, das sich bekanntlich in aller Kürze erledigen läßt, wenn der eine Teil, von seinem Glücke vollauf eingenommen, durch Anhören und Vergleichen eines fremden Glücks so recht eine Steigerung des eigenen Wohlbehagens erzielen will.

136 »So a schön's Madl wia du,« sagte mit voller neidloser Bewunderung Annerl, »muaß auf jeden Finger zehne kriag'n. A Fleischhacker war' freilich nix für di,« fügte sie mit unbewußtem Scharfsinn hinzu. »Du braucherst so was Feineres, an' Buchhalter oder an' Architekten oder so was Ähnlich's.«

Poldi war ein Weib wie alle. Und die kaum vernarbte Liebeswunde brannte aufs neue. Ja das wußte sie: ein Fleischhauer würde nicht in die Bresche treten können für einen Dichter. Auch ein anderer nicht, überhaupt kein anderer Mann, mochte er nun sein was er wolle. Die arme Poldi litt an den Impfblattern der ersten Zuneigung zu einem Manne. Die Reaktion des Organismus gegen das immunisierende Gift war noch nicht überstanden.

Aber mit bewundernswerter Fassung und mit einem lieben Lächeln reichte sie der Freundin zum Abschied die Hand.

»I muaß mi tummeln, Annerl, pfiat di Gott. Und was 's Heirat'n anbelangt – verschwör'n kann ma ja nix; obwohl i glaub', daß 's für mi gar nia dazua kommt. Sollts amal sein, so tanz'st du als die erste auf meiner Hochzeit. Vorderhand muaß i's bei dir tuan.«

Annerl, die in ihren letzten drei Diensttagen stand und es um ein geringeres weniger eilig hatte als Poldi, hätte gern an dem bei allen jungen Mädchen beliebten Garn weitergesponnen, aber die Rücksicht auf die Freundin, der eine Unpünktlichkeit Verdruß machen konnte, überwog das weitere Mitteilungsbedürfnis bis zum nächsten Wiedersehen.

137 Man trennte sich, nachdem Poldi noch einmal das feierliche Versprechen gegeben hatte, an der Hochzeit teilzunehmen. Annerl hatte ihr wiederholt versichert, daß keinerlei große Toilette erforderlich sei, daß sich alles in den gemütlichsten Verhältnissen abspielen werde, ganz wie es bei armen Leuten gang und gäbe sei.


Poldi war nach einigem Hasten glücklich bei der Stiege angelangt, die zu ihrem Arbeitsort im fünften Stock führte. Es war eine Stiege, zu der man durch einen übermäßig hohen Hausflur kam, so dunkel, groß, nüchtern und gruftähnlich still und kühl, daß es einen linde schauderte, wenn man, vom hellen Sonnenschein der Straße hereinkommend, genötigt war, die zahllosen Stufen zu ersteigen.

In den zwei unteren Stockwerken brannte selbst an den sonnigsten Tagen eine mäßig aufgedrehte Gasflamme, nur um notdürftig den Weg zu weisen. Jeder der Gänge hatte je rechts und links eine Tür und dann zwei Fenster, die als Lichtquellen gar nicht in Betracht kamen. Denn da sie in einen »Lichthof« genannten, gräulichen Schacht führten, waren sie statt mit durchsichtigen Scheiben mit geblendeten versehen. Die einzige Lichtquelle für die oberen Stockwerke bildete ein Glasdach, das jedoch durch lange Vernachlässigung schon sehr schmutzig geworden war und nur zur Erhöhung der trostlosen Düsterkeit beizutragen schien. Selbst die »Malerei« des Stiegenhauses, die einen farblosen, bleigrauen Charakter aufwies, ohne jegliche heitere, unterbrechende Farbe, 138 erhöhte nur alle angeführten Zeichen des Traurigen, Frostigen.

Aber für Gefühlseindrücke war das Haus nicht gemacht. Es war ein Geschäftshaus und damit ist alles gesagt, was sich von einem Gebäude sagen läßt. Beim Eintritt entäußerten sich alle, die hier als Angestellte oder Arbeiter den Fuß über das Bereich des Tores setzten, für eine bestimmte Anzahl von Stunden des Rechtes, sich als freie Menschen zu fühlen.

Hier herrschte nur ein Prinzip: erwerben. Hinter jeder Tür, die zu den Räumen von Advokaten, Strickgarn-, Wolle-, Seidenhändlern, Modeateliers führte, lauerte der Erwerb, für sich selbst und für andere.

Im fünften Stockwerk linker Hand, gegenüber einem »Kunstblumensalon«, befand sich das Atelier der Maison Madame Adèle Reißer née Duval. Hier herrschte die Gestrenge über ein Heer von vierzig Frauen jeglichen Alters. Der »Salon« war ein Modekonfektionsgeschäft gleich hundert anderen, mit dem unverschleierten Prinzip möglichster Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, dem Streben nach schnellst erreichbarer Wohlhabenheit der Prinzipale, durch Schmutzerei, Strenge, Nörgelsucht, unterbrochen durch liebevolle Besorgnis für den Gesundheitszustand einer besonders tüchtigen, zur Saison unentbehrlichen Arbeitskraft.

Dieser Besorgnis wußte besonders die »Direktrice« heftigen Ausdruck zu geben.

»Tan S' Ihner net verwöhnen, aber schonen S' Ihner. Abends zeitli ins Bett und am Sunntag schön daham bleib'n. Net Landpartien machen, wo 139 ma si verkühlt und in Mag'n verdirbt. Schaun S' mi an! I trink schon zwanzig Jahr mein' Brusttee, leg' mi um neune nieder und am Sunntag geh i Vormittag in d' Kirchen, dann Nachmittag a bißl nach Schönbrunn oder so wohin, wo's net weit is, und bin dabei pumperlg'sund. Hauptsach' is, bei der Arbeit bin i immer da. I man, die gnä' Frau wird's wissen.«

Die arme »Direktrice«!

Seit dreißig Jahren hatte sie so ziemlich auf alles verzichtet, was das Leben wert macht, gelebt zu sein. Durch Unterwürfigkeit nach oben, Unleidlichkeit nach unten hatte sie sich die beneidenswerte Stellung einer Sklavenaufseherin errungen. Sie war, wie das bei Fronvögten zu geschehen pflegt, gefürchteter und gehaßter als der Ausbeuter selbst. Madame pflegte auf Rechnung ihres Vorteils manches der »alten Dienerin« hingehen zu lassen, was einer anderen eine scharfe Rüge eingetragen hätte. Wohin ihr Auge nicht reichte, richtete sich das unleidlich geschäftige des »Fräulein Direktrice«. Stete Stichelreden begünstigten die Arbeitsluft und Hingabe an die Interessen des Geschäftes bei den armen Geschöpfen der Nadel.

»Fräul'n Leontin' . . . I wurd't an Ihnerer Stell' a Sterngucker, das haßt wann ma bei helliachtem Tag Stern' seg'n kunnt'. D' Aug'n niederschlag'n is unserm Herrgott liaber als d' Aug'n aufschlag'n. Gar bei der Arbeit.«

Ein sehnsüchtiger Blick nach dem Stück sichtbaren Himmels hatte die Rüge zur Folge gehabt.

140 »Fräul'n Eugenie . . . wann i bitten dürft' . . . nehmen S' a andersmal für den Atlas a Stopfnad'l, ja. Das san ja Stich' als wia mit aner solchen. Sie dürften in aner Sacknaherei das Lehrzeugnis g'holt hab'n Meiner Seel' . . . wann i mein Lebtag so g'wes'n wär', hätt' mir die gnädige Frau den Posten net anvertraut.«

So ging es den lieben langen Tag und alles duldete schweigend, wie seit Gedenken die Menschheit schweigend geduldet.

Diesem frohen Tagwerk aller Näherinnen entgegen stieg Poldi jeden Tag fünf Stockwerke, um in Madame Adele Reißers Salon zu gelangen. Und nun heben sich die Schleier von den rosigen Phantasien über Herrschaftswagen, erzherzogliche Equipagen der so gern und glaubhaft renommierenden Trümmler Tini, die als zahlendes Lehrmädchen insofern eine Begünstigung genoß, als sie für ihre Person so viel zu arbeiten brauchte, als ihr beliebte, aber mit ihrem Geplauder die anderen nicht von ihrer Arbeit abhalten durfte. Und da ein solches Abhalten seine Ahndung nie auf Tini selbst, sondern auf den jeweiligen Gegenstand ihrer Plauderlaune heraufbeschwor, so war es Sitte gewesen, Tini allein für alle Kosten der Konversation mit noch einigen zahlenden Mitgliedern der Lehrmädchengilde aufkommen zu lassen.

Denn sonst war nur ein gelegentliches Flüstern gestattet. Ausnahmen, selbst für einen lauten Zank, wurden allein Dingen zugebilligt, die das geschäftliche Interesse betrafen. In solchen Fällen, die alle Möglichkeiten menschlicher Klatsch- und 141 Verleumdungssucht und Liebedienerei offenbarten, entschied Madame unter Assistenz ihrer unerbittlichen Stellvertreterin, des armen »Fräulein Direktrice«, das sich weder seiner unwürdigen noch seiner verhaßten Stellung bewußt war.

Poldi in ihrer ruhigen, stillen Art fühlte sich niemals in den Kreis der niedrigen Erörterungen gezogen. Nach Art aller wahrhaft Stolzen ertrug sie kleinliche Kränkungen mit Ruhe, und dieser Art stillen Protestes dankte sie mehr als allem lautgeführten Streite um einen Fetzen verletzten wirklichen oder eingebildeten Rechts.

An ihrer Seite saß stumm und gedrückt, schweigsam wie eine Statue, ein kleines Judenmädchen, von einer Zartheit und Schwächlichkeit, die es nur allein vermochten, ein brennend schwarzes Augenpaar als förmlich einzigen Bestandteil der ganzen winzigen Persönlichkeit darzustellen. Das arme Kind eines kleinen Gewerbsmannes trug schon an sich alle Spuren einer erschöpften und ganz unnötigen elterlichen Zeugungskraft.

Da die kleine Rachel das Unglück hatte, einem einst von Gott erwählten Stamme anzugehören, und weil sie eben Rachel hieß – und zuguter Letzt, weil sie genötigt war, mit dem erbärmlichen Erlös ihrer Fingertätigkeit zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen, war sie das Objekt aller Sticheleien und aller böswilligen Mutwillensstreiche der Kolleginnen. Soweit Mutwillen eben gestattet war. Jegliche Verfehlung wurde auf die Schultern der »Jüdin« gewälzt. 142 Kam etwas abhanden, so kennzeichneten ein hämisches Achselzucken und bedeutsame Blicke die Täterin.

Madame, die eine anspruchslose und billige Arbeitskraft wohl zu schätzen wußte, rühmte sich dennoch genug arischer Instinkte, um die ärmste und hilfloseste Angehörige eines ob mit Recht oder Unrecht gehaßten Stammes allen Demütigungen preiszugeben, die eine unwissende, durch Erziehung und Lebensschicksale grausam gewordene Frauenschaar nur zu verhängen vermochte. Am meisten aber in hämischen Bitterkeiten und galligen Sarkasmen tat sich die Direktrice hervor, die ihrer Abneigung ein moralisch-religiöses Mäntelchen umzuhängen pflegte.

»Wahr is',« pflegte sie manchmal zu bemerken, »daß Mensch Mensch is. Aber derentweg'n möcht' i do mit kan' Menschenfresser Bruaderschaft trinken. An' Unterschied muaß 's geb'n, sunst hätt' unser Herrgott die Leut' net' zeichn't. Und jetzt – wann ma imstand is, an' Herrgott selber z' kreuzigen, g'hört sehr viel dazua. I red nur so beiläufig, denn am End' bin i no allweil net die G'scheiteste. I hab' halt mein bissel Religion und schau auf mei Herrschaft, die mi net verhungern laßt. Tue recht und scheue niemand. Das Sprüchl hat mir mein seliger Vatta ein'prägt. Und i hab' aa, Gott sei Dank, niemand zum scheu'n. Mein Stolz is, ich bin a gute Christin. Mehr verlangt mein himmlischer Voda net, wann's amal zur großen Rechenschaft kummt.«

Es versteht sich, daß derlei Gespräche stets in Ohrennähe von Madame geführt wurden, die, wie (offenbar böswillig!) behauptet wurde, die Mittel zur 143 Gründung ihres Salons einer stattlichen Abfindungssumme seitens eines Lebemannes dankte. Diese Summe verhalf der née Duval außer zu dem »Salon« zu einem Manne, der als Beherrscher einiger Kommis und Probierdamen über die Regionen des Verkaufsgeschäftes im Parterre verfügte. Er war ein ehemaliger Damenschneider.

Madame, die gleich allen alternden, abgelegten Mätressen sehr auf Gottesfurcht hielt, rechnete der dummschlauen Intrigantin solche Worte stets sehr hoch an.

Poldi, die es sich zur Pflicht gemacht hatte, lautlos ihre Arbeit zu verrichten, sich in keine Verbindung mit den Kolleginnen einzulassen, errötete oftmals, tief über ihre Arbeit gebeugt, vor Unwillen über diese rohe Heuchelei und die niedrige Behandlung des armen, schwindsüchtigen Geschöpfes an ihrer Seite, dessen Augen stets größer und flackernder und dessen Körper stets schattenhafter erschien.

Soweit sie konnte, tat sie dem Mädchen alle Freundlichkeit an. Ach, diese durfte oft nur in einigen geflüsterten Worten des Trostes, einem aufmunternden Blick und vor allem in dem tapferen Beispiel bestehen. Und Poldi, die nach Erfüllung ihrer Pflichten nicht geneigt war, über die verbrachte Zeit nach dem Geschäftsschluß sowie über ihren Verkehr Rechenschaft abzulegen, kam manchmal in die Lage, sich nachdrücklich gegen versteckte Vorwürfe zur Wehr zu setzen, daß sie die Begleitung des armen, gequälten Kindes angenommen.

144 Damals hatte die kleine Rachel auf dem Heimweg Poldi ihr Herz ausgeschüttet.

»Fräulein . . . ich halte es nicht mehr aus. Ich halte es nicht mehr aus . . .«

»Stad sein, Batscherl,« sagte Poldi mit angenommener Lustigkeit. »Alles muaß der Mensch aushalten. Schau'n S' mi an! I hab' aa mein Kreuz zum trag'n.«

»O . . . Sie . . . Sie sind so schön und stark.«

»Kind, wann ma arm is, nützt 's Schönsein und Starksein nix. Der dümmste Kerl mit Geld is do tausendmal mehr wia unserans.«

Dann hatte die Kleine von daheim erzählt, von vielen bösen Kümmernissen, Entbehrungen, ja grenzenloser Not.

»Armer Kerl,« sagte Poldi kopfschüttelnd. »Sie san g'rad recht zum Handkuß kommen. Arme Leut . . . und so viel Kinder . . . Es ist net gerecht. Das Volk is wirkli dumm. G'rad daß die Reichen immer mehr hab'n, die für sie arbeiten. Glaub'n S' mir, Kinderl, i hab's aa net besser wia Sie. Aber i beiß halt die Zähn' z'samm' und denk' mir, die andern san mir viel z' dumm. Recht an' Stolz zeig'n, das is das beste. Mir san do no jung. Gelt'n S' ja?«

Rachel hatte mit dem blinden Vertrauen, das der Schwache dem Starken entgegenbringt, ihre schöne Trösterin angeschaut.

»Wenn ich nur so sein könnte, Fräulein, wie Sie.«

»Kurasch' muaß ma hab'n, Herzerl, und auf 'n Herrgott a bißl rechnen. So, pfiat Ihner Gott, i muaß da rechts. Leb'n S' recht wohl!«

145 An dem heutigen Tage nach der Begegnung mit Annerl kam Poldi so pünktlich, daß diese Pünktlichkeit ein mißfälliges Stirnrunzeln auf dem Gesicht der Gnädigen hervorrief. Die Direktrice, gewohnt, auf solche Zeichen zu achten, bemerkte beiläufig: »Unser Uhr geht a bißl z'ruck.« Poldi, obwohl sich keiner Verspätung bewußt, sprach dennoch eine Entschuldigung, dann ließ sie sich zu ihrer täglichen Arbeit nieder.

Man rühmt der Arbeit eine Art Allerweltsheilkraft nach. Das ist in vielen Fällen eine platte Lüge, wie sie oft auf den Phrasenmarkt geworfen wird. Ein bedrücktes Gemüt wird in dem Zwange der Arbeit noch bedrückter. Die Seele möchte sich nur für kurze Zeit der Kette entraffen, die aber unbarmherzig festhält.

Kränkungen und Sorgen werden durch Ungeduld bis zur Pein verstärkt. Oft jedoch wirkt eine stumpfsinnige Hantierung besänftigend und gewährt der Phantasie volle Zeit, sich zu betätigen.

Poldi jedoch fand heute genügend Gelegenheit über ihre Begegnung mit Annerl nachzudenken. So sehr ihrem großmütigen Herzen jegliche Regung von Neid fernstand, so blieb doch ein gewisses Gefühl der Trauer und Bitterkeit zurück bei dem Gedanken an ihre eigenen Aussichten. Sie gestand es sich nicht zu, daß sie ein unschuldiges Opfer ihrer Familie war. Daß die Sorge für eine halbblöde Mutter, einen krüppelhaften Vater und zwei unmündige Geschwister eine zu schwere Last für die Schultern eines jungen, schönen Mädchens darstellte, das nur mit Entsagung, 146 ob bitter oder heiterer, dem Verfall seiner Jugend entgegensehen konnte.

Und dieses Opfer noch stündlich mit dem Verlust seines Stolzes bezahlen müssen! Lächelnd dulden müssen, wenn der Wurm der Verzweiflung oft am Herzen fraß! Wie heiter, rein und glücklich stellten sich das Leben und die Aussichten der Freundin dar. Sie ging aus reinen Verhältnissen neuen reinen entgegen.

Annerl wird eine glückliche Geschäftsfrau, deren Arbeit nur ihr und ihrer künftigen Familie frommt. Sie wird umgeben sein von einer steten, wenn auch rauhen Zärtlichkeit. Der Kreis, in dem sie sich künftig bewegen wird, wird ein so enger, zu übersehender und doch so weiter sein. Die Eltern werden alt werden und mit Heiterkeit von hinnen gehen. Enkel werden noch ihr Alter erheitert haben und Annerl wird dann mit dankbaren Gedenken der eigenen Eltern ruhig einem solchem Gedenken der eigenen Kinder entgegenschauen.

Mein Gott! Das war, wie wenn man ein schlichtes Erzählungsbuch der Kindheit las. Und dieses Einfache, Natürliche wirkte fast wie ein Märchen, so wundervoll und dabei unerreichbar. Und wenn Poldi nun an ihr Heim dachte, ihr Heim, dem jede Faser ihres edlen Herzens galt, so vergaß sie das eigene Schicksal, und alle Inbrunst ihrer Seele verdichtete sich zu dem Wunsche: Möge es nur den Meinen einmal gut gehen!

Der Tag verstrich wie alle anderen und Poldi strebte nach Hause wie sonst. Dieselben Wege, 147 dieselben Gassen und trotz allem, was sie daheim erwartete, erfüllt von der Sehnsucht nach den Ihren, an die ein einfaches Naturgefühl sie kettete.

Daheim angelangt, fand sie die Eltern und Katherl vor, das, dem Gebot der Schwester gehorchend, bei deren Ankunft schon anwesend war. Reserl war nicht zu Hause.

»Wo is denn die Reserl,« fragte Poldi, nachdem der einfache Abendtisch bereitet war.

Die Mutter nahm eine wichtige Miene an.

»Ihre Stunden nimmt s' halt«, sagte sie mit der gemachten Oberflächlichkeit, die auf Wichtiges vorbereitet.

»Stunden? Ja was für Stunden?«

Poldis Gesicht drückte ein Staunen aus, das man etwas Unverständlichem entgegenbringt.

»Na ja . . . halt Stunden! G'sangsstunden, wannst es so besser versteht. Sie lernt jetzt singen.«

»Singen? I glaub', das tuat s' sowiaso mehr als gnua. Was will s' denn da eigentli lernen? A neuch's Couplet? Und Stunden . . . G'sangsstunden? Is s' denn a Konservatoristin? Kan G'spaß, Mutter! Ös habts a Hamlichkeit vor mir.«

»Weils d' es scho durchaus wissen muaßt, leugnen täten mir's auf die Läng' der Zeit do net.. D' Reserl hat zwa Lehrerinnen g'funden, die ihre Stimm' ausbilden, die ganz fäminal sein soll, wia s' behaupten. Und die ganze G'schicht kost't nix, rein gar nix«, schloß Frau Schaumann mit dem Bewußtsein, allen zu gewärtigenden Einwendungen den kräftigsten Riegel vorgeschoben zu haben.

148 Das Erstaunen Poldis schien trotz dieses Riegels ein immer größeres und unangenehmeres zu werden.

»Jetzt waß i nimmer, Mutter, wohin i mi auskennen soll. Wer san die zwa Lehrerinnen? Seit wann lernt d' Reserl bei ihnen, warum erfahr' i das erst heut? Und dann – was soll die G'schicht' für an' Zweck hab'n? Vatta – was waßt denn du davon, daß i an' g'scheiten Aufschluß kriag.«

Der arme Vater zuckte wehmütig mit der linken Schulter, wie um auszudrücken, daß er selbst ebensowenig Teilhaber des Geheimnisses sei wie Poldi, und daß er wohl nicht mehr der Mann sei, Dinge im Haushalt, die schief gehen wollten, gerade zu richten.

Katherl aber kam allen Beantwortungen auf Poldis Fragen zuvor.

»Das san zwa Fürstinnen, Poldi. Waßt?«

»Fürstinnen? Was red'st denn du wieder daher, Katherl! Wo san denn die zwa Fürstinnen? Bin i denn heut scho ganz narrisch?«

»No, bei uns im Haus wohnen s', im ersten Stock in der Fünfer-Wohnung. Es san kane ganzen Fürstinnen, waßt, sondern nur so halberte. Bis eahnere Fürsten kummen und daß s' nimmer fürchten müassen, daß s' eahner Onkel einsperren laßt nach Sibirien.«

Die Mutter nickte lächelnd bestätigend mit dem Kopfe, als wäre sie geneigt, damit einer kindlich-lallenden Erzählungskunst ermunternd beizuspringen.

Poldi, die von dem unsinnigen Geplauder nichts verstand, war wie vor den Kopf geschlagen. Aber das Hereinstürzen Reserls sollte ihr endlich 149 Erleuchtung bringen. Reserl, augenscheinlich von Musik förmlich vollgesogen und alter Gewohnheit gemäß ihrem Genius durch das Singen einer Coupletstrophe Luft machend, schrillte:

Mondnacht is, Mondnacht is,
Alles is still . . .«

Als sie der Schwester ansichtig wurde, stellte Reserl ihren »Gesang« ein, nahm aber eine Miene an, die darauf hindeutete, daß ihr an einer kommenden Auseinandersetzung nichts mehr gelegen sei, gleich vielen, die eine endliche Befreiung vom drückenden Zwange und ein offenes »der Kunst in die Arme werfen« als die glücklichste Lösung eines unerquicklichen Zustandes betrachten.

Sobald Poldi anwesend war, versiegte die ohnehin schwache elterliche Autorität vollkommen. Man war geneigt, sich der Tochter und Schwester völlig unterzuordnen. Die Mutter rieb vor Verlegenheit die Hände in der Schürze, der Vater verriet in seinen ängstlichen Augen die schwere Besorgnis vor dem Zusammenstoß zwischen den beiden Töchtern. Eine durch Veranlagung schon passive Natur, hatte ihn seine Krüppelhaftigkeit und Nutzlosigkeit zu einem ängstlichen, stets sich scheu duckenden Menschen gemacht. In einem Alter, in dem andere Väter noch machtvoll in die Geschicke der Familie einzugreifen pflegen, war er an Willenstätigkeit einem Greise gleich geworden.

O – der Arm! Der Schlachtarm der Arbeit . . .!

150 Die ruhig bestimmte, wenn auch immer freundliche Art der ältesten Tochter beherrschte alle: die kindische Mutter, den krüppelhaften Vater, die kleine mit schwärmerischer Zuneigung an der großen, schönen Schwester hängende Katherl, die ungebärdige, frühreife Reserl, sogar Schani, der seinen verbissenen Respekt in eine Art Haß umgesetzt hatte.

Poldi zeigte ihre Autorität stets nur dann, wenn sie deren Äußerung für nötig hielt. Ihr stetes Bestreben war darauf gerichtet ihr Heim zu einem so weit als möglich sorglosen und friedlichen zu gestalten. Ihr war die Miene nicht entgangen, mit der sich Reserl trotzig gewappnet hatte. Indes beschloß sie, kein unvermitteltes Verhör anzustellen, sondern tat, als wüßte sie von nichts. Das ärmliche Abendessen wurde eingenommen wie sonst. Aber eine gedrückte Stimmung lagerte über der Familie.

Katherl in ihrer Unschuld löste den Bann.

»Du, gelt ja, Resi, die zwa Fräul'n san Fürstinnen. Sixt, die Poldi will's net glaub'n.«

Diese Katherl im Innern dankbar, forschte scheinbar gleichgültig:

»Fürstinnen? Bei uns im Haus? Da hat d'r d' Reserl an' Bär'n aufbunden. Die schau'n uns arme Leut' höchstens mit an' Blick an, wenn s' in der Equipage vorbeifahr'n. Für die san mir net amal so viel wia a schöner Hund oder a schön's Roß. So was gibt's nur in die Märchenbüacher. Aber heut . . .«

»Und do san s' Fürschtinnen«, platzte jetzt Reserl heraus, der ein ungeheurer Triumph auf dem Gesicht geschrieben stand. »Aber es san russische Fürschtinnen, 151 bis eahnere Bräutigams kummen und sie heirat'n. Sie war'n alle zwa beim Theater in Petersburg. Und weil's der Onkel von die Fürscht'n net hat erlaub'n woll'n, daß s' die zwa heirat'n, hat er eahna die Polizei auf'n Hals g'hetzt, so daß s' bei Nacht und Nebel hab'n entflieh'n müassen. Alles hab'n s' müassen in Rußland z'rucklassen. An' Schmuck mit zwanzig Millionen, alle Toiletten und a paar Häuser, die eahna die Fürscht'n g'schenkt hab'n, und lauter edle Roß, mit die s' alle Tag' auf der Newa ausg'ritten san, und kostbare Pelzsachen und rote Saffianschuach und . . . derweil san eahnere Bräutigams beim Zaren bemüht. daß s' es heirat'n dürfen.«

Poldi hatte mit dem ungemessensten Erstaunen dem Geschwätz der Schwester gelauscht. Aber dann brach sie in ein helles Lachen aus. Sie fühlte sich angesichts des Grotesken beruhigt. Zwei Theaterdamen, und wohl solche letzter Sorte, hatten sich offenbar den Scherz gemacht, Reserl aufzuziehen.

»Hörst Reserl . . . für g'scheiter hätt' i di do g'halten«, sagte sie endlich. »So was glaubst du?«

»Natürlich glaub' i's«, entgegnete Reserl, deren Trotz angesichts der Ungläubigkeit Poldis den verletzten Enthusiasmus verdrängte.

»Is scho guat«, beruhigte die Schwester; »aber was san das für Stunden, die s' dir geb'n? G'sangsstunden?«

»Ja, alle zwa hab'n g'sagt, daß 's um mei Stimm' ewig schad' wär'. I hätt' Gold in der Kehl'n, das erst g'reinigt werd'n müaßt. Der Professor, der zu eahna kummt, hat g'mant, i hab' a pheminales 152 Talent und es wär' unverantwortlich, wann's z'grund gehn möcht'.«

Die ganze Ausdrucksweise Reserls war eine so aufgeklebte, ihr fremde, daß Poldi bald den Eindruck des Eingelernten weghatte. Sie beschloß, einstweilen noch auszuforschen.

»Wer is das, der Professor?«

»A G'sangsprofessor, der Talente suacht und dann ausbild't. Es kummen no a paar Madeln zu die Fürschtinnen, die a Talent hab'n.«

»Hör' einmal auf, du Urschl!« erzürnte sich Poldi ernstlich. »I waß net, halten di die zwa wirkli für so dumm, oder . . . Die zwa »Fürschtinnen« muaß i mir erst näher anschau'n. Da paßt mir gar manches net. And're Madeln, sagst, kummen aa zu ihnen?«

»Jetzt, wannst mi allweil für so dumm halt'st, laß's bleib'n. I red' nix mehr. Glaubst, alle Leut' san so wia du? Unserans kann aa was Besser's erreichen, als in d' Naherei gehn. Wann ma a Talent hat, muaß ma's ausbilden.«

»Bitt' di . . . laß mi mit dein' Talent amal in Ruah'. Daß d' im ganzen Haus herumplärrst und die neuchesten Couplets bringst, daß find' i no net so großartig. Wann's Leut' gibt, die dir solche Sach'n in'n Kopf setzen, wir' i mi bei ihnen recht schön bedanken. I glaub', daß i da aa was von aner schönen Stimm' versteh'. Aber dei Singerei für waß Gott was ausgeb'n . . .«

Poldi, die gütige, für ihre Lieben sich opfernde Poldi hätte unschuldigerweise keinen größeren Mißgriff tun können, als an dem »Talent« ihrer Schwester 153 zu zweifeln. Das Herz eines ungebildeten, vierzehnjährigen Dinges zu verhärten, braucht keiner besonders böswilligen Kunst. Nun erst bei Reserl, deren Phantasie sich Aussichten bemächtigt hatten, die eben nur bei solchem Alter gedeihen können.

Reserl stand auf, hochrot vor Erregung.

»Und do wir i d'rs zag'n, daß i a Künstlerin wir. Andre Leut' san net so neidig wia du. Und i wir erst recht singen. Unserans kann' s aa no weiter bringen als zu aner armseligen Nahterin. Schöne Aussichten für a jung's Madl! I dank dafür.« Und jedenfalls, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen und das Sieghafte ihrer Kunst so recht zur Anschauung zu bringen, schrillte sie nach ihrer bekannten Art:

»c d e f g a h c - c h a g f e d c«

Dann eilte sie hinaus, ohne zu sagen, wohin. Poldi, vielleicht in Ahnung ihres Mißgriffs, ließ Reserl gewähren. Und in einer Art von Reue beschloß sie, der ganzen Angelegenheit weniger Gewicht beizulegen, als sie im Anfang vermeinte, tun zu müssen. Die beiden »Fürstinnen« oder Sängerinnen kamen ihr so unendlich albern und abgeschmackt vor, Reserls kindische Wut so wirklich kindisch, daß Poldi nicht bedachte, daß sie vor wenigen Jahren Tinis Aufschneidereien ebenso gläubig gelauscht.

Ihre gefaßte Art und ihr geflissentliches Übersehen der ganzen Angelegenheit beruhigten die anderen. Man war ja so gewohnt, in Poldi die Lenkerin der Familienschicksale zu sehen. 154

 


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