Arthur Achleitner
Das Schloß im Moor
Arthur Achleitner

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163 Zehntes Kapitel

Amtsrichter Doktor Thein saß in seinem kahlen Büro am aktenreichen Schreibtische und wollte einen Akt vom Obergericht lesen, doch die Gedanken weilten im Schloß Ried. Seit dem letzten Besuch bei Tristners war es dem hageren, als verknöcherten Amtsmenschen verschrienen Doktor seltsam um das Herz geworden. Zunächst erinnerte sich Thein, daß sein Leben nicht ausschließlich den Gerichtsakten und der Aburteilung straffälliger Mitmenschen gewidmet werden müsse, daß er eigentlich im allerschönsten Alter stehe und mit knapp zweiunddreißig Jahren berechtigt sei, sich nach einer Gattin umzusehen. Ist ein junger Mann bei solcher Erinnerung angelangt, pflegt auch das Herz eine um so lebhaftere Tätigkeit zu entfalten, wenn ein Fräulein vorhanden ist, dem Gefühle der Verehrung entgegengebracht werden können. Ganz plötzlich war über Doktor Thein die Erkenntnis gekommen, daß Olga Tristner eine herrliche Frau für ihn sein könnte, passend in jeder Beziehung. Ja, hätte Olga Tristner den von Mutter Natur verliehenen grausamen Fehler im Oberkiefer nicht, dürfte der hagere Mann kaum die Augen zu dem sonst entzückend schönen Mädchen 164 erheben. Thein ist dem Schöpfer geradezu dankbar, daß Olga solchen Schönheitsfehler hat. Zu weiterem Dank besteht jedoch zur Zeit keine Veranlassung, denn Thein hat nicht die geringste Ahnung, wie eine Werbung um Olga im Hause Tristner aufgenommen werden könnte. Es ist die Zustimmung so möglich wie eine Ablehnung, letztere würde zwar nicht das Herz vernichten, immerhin aber unangenehm sein.

Eine kuriose Seelenstimmung, dieses Wägen und Hoffen, ein Sondieren der eignen Gefühle und dabei nicht wissen, wie die Stimmung im Herzen der Erkorenen sein wird. Viel leichter ist es, Motiven mancherlei Art im Menschenherzen nachzuspüren, die geheimsten Falten einer Verbrecherseele zu durchforschen, als die Frage zu beantworten, ob die wirkliche, echte Liebe im eignen Herzen wohne, und die Möglichkeit, wiedergeliebt zu werden, bestehe. Sympathie für Olga war vorhanden, eine wahre Sehnsucht, Fräulein Tristner zur Gattin zu erhalten. Ist aber solche Sehnsucht bereits Liebe, die alles wagt und alles erträgt? Das Gefühl, das die Dichter Liebe nennen und oft wundersam zu schildern verstehen, ein Gefühl, das erschüttert, aufregt, beseligt und tief unglücklich macht, der Götterfunke zum Springen bereit – hat solches Gefühl der über einem strohtrocknen Strafgerichtsakt brütende Amtsrichter wirklich im Herzen? Wahrscheinlich nicht oder nicht in der von den Dichtern vorgeschriebenen rechtmäßigen Weise, denn Doktor Thein muß immer mehr an die Möglichkeit einer 165 Ablehnung seines projektierten Antrages denken, und dabei fröstelt es ihn. Einem gehörig Verliebten soll aber heiß um das Herz sein, der verliebte Mann soll zittern, vor Seligkeit schwitzen und Gedichte an die Geliebte machen. Doktor Thein friert aber bei 20 Grad Celsius im Schatten. Kann das Liebe sein?

Das Auge haftet an der eingedruckten Stelle im Akt: »Der Eusebius Krimpelstetter ist hinreichend verdächtig . . .«

Die Lippen flüstern aber das Diktum Anakreons; »Schlimm ist es, nicht zu lieben, schlimm aber auch, zu lieben.«

»Herrgott, welch ein Zustand!« brummte Doktor Thein und erwog die Frage, ob die Werbung nicht doch besser unterlassen werden sollte. Ja, wenn man die Angelegenheit schriftlich, sozusagen halbamtlich, in Fluß bringen könnte! Etwa mit der Anfrage des Bayrischen Amtsgerichtes, ob Fräulein Olga Tristner geneigt sei, gemäß § 254 des Bürgerlichen Gesetzbuches einen Vertrag zu schließen, und ob Frau Helene Tristner zu einer Vertragssanktion gemäß § 1305 BGB. bereit sei? Wie einfach wäre das für beide Teile! Die Antwort würde geradezu bequem sein, wenn beispielsweise Fräulein Olga auf das amtliche Schreiben brevi manu schreiben würde: »Nach § 254 BGB. genehmigt.« Die Fahrt im Zylinder würde Thein ja von Herzen gern bewerkstelligen und sich den Verlobungskuß holen. Aber Damen darf man bekanntlich nicht mit Paragraphen kommen, tut es einer 166 trotzdem, fällt er sicher mit Trompeten und Pauken durch.

»Herein!« rief Doktor Thein, als energisch an seine Kanzleitür geklopft worden war.

Ein Gendarm brachte ein altes Weiblein zu Gericht und meldete, daß die Verhaftung wegen Landstreicherei und Bettels erfolgt sei. Papiere besitze das Weib nicht, auch will es taub sein.

Ärgerlich brummte Doktor Thein etwas dergleichen, daß der Gendarm auch etwas Gescheiteres hätte tun können, als eine ausweislose Landstreicherin aufzugreifen.

Stramm dienstlich erwiderte der Gendarm: »Verzeihen, Herr Amtsrichter, gemäß meiner Instruktion war ich zum Aufgriff verpflichtet!«

»Na ja, es ist schon gut! Wird halt eine große Schererei geben! Führen Sie das Weib zum Amtsdiener, dessen Frau das Weib einer Leibesvisitation unterziehen soll. Hernach wird die Landstreicherin mir wieder vorgeführt.«

»Sehr wohl, Herr Amtsrichter! Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf: Das Kopftüchel der Streunerin scheint nach Salzburg oder Oberösterreich zu verweisen!«

Doktor Thein notierte sich diese Mutmaßung und gab das Zeichen zum Abtreten.

Als nach Verlauf einer halben Stunde der Amtsdiener die Landstreicherin wieder in die Kanzlei führte, mußte Thein sich geradezu zwingen, um mit 167 den Gedanken bei der nichts weniger denn angenehmen Angelegenheit einer Vernehmung zu bleiben. Eben hatte er zitiert: »Das Paradies der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde, in der Gesundheit des Leibes und am Herzen des Weibes.« Ein Blick auf die Landstreicherin, die mutmaßlich weiblichen Geschlechtes ist, genügte, um den Dichter gründlich zu desavouieren, denn am Herzen dieses Weibes kann das Paradies der Erde sicherlich nicht gelegen sein.

Nach Entfernung des Amtsdieners begann Doktor Thein mit dem Verhör der Landstreicherin.

»I hear' (höre) nit gut!«

Unwillkürlich schrie der Richter bei Wiederholung der Frage, wo das Weib beheimatet sei, aus vollem Halse.

Die Antwort blieb die gleiche.

Doktor Thein kam auf den Gedanken, daß vielleicht Simulation von Taubheit vorliege; zur Erprobung nahm er das dicke Bleistück, welches als Aktenbeschwerer diente, und ließ es hinter dem Rücken des Weibes zu Boden fallen.

Die Landstreicherin blieb wie angemauert stehen und ignorierte den nicht geringen Lärm, welchen das schwere Blei beim Aufprallen am Boden verursachte und den ein wirklich Schwerhöriger oder auch ganz Tauber durch die Schalleitung des Bodens und Körpers hören müßte.

Also Simulantin! dachte Thein und sprach ganz leise: »Ja, Weibele, das ist eine böse Sach mit dir! 168 Ich kann dich nicht behalten, Schwerhörige müssen ins Spital gebracht werden! Du bist ganz taub, also kommst du ins Irrenhaus! Zwangsjacke, wenig zu essen und viel Schläge!«

An der betroffenen Miene des Weibes konnte der Richter erkennen, daß jedes Wort verstanden worden ist.

»I hear' nit gut! Geh, schenk mir was!«

»Hm! Glaube nicht, daß dir der Bezirkshauptmann von Salzburg was schenkt! Und der von Zell am See erst recht nicht.

Die Landstreicherin zuckte fast unmerklich bei Nennung dieses Ortes, beharrte aber auf Simulation absoluter Taubheit.

»Ich muß dich also per Schub nach Zell am See transportieren lassen!«

Die Landstreicherin setzte sich auf den Boden, gestikulierte wie verrückt und tat dann, als falle sie in Ohnmacht.

Da war nun die Bescherung! Doktor Thein guckte im ersten Augenblick fassungslos auf die Landstreicherin; eine solche Situation war ihm in der Praxis, die manche Absonderlichkeit mit sich brachte, doch noch nicht vorgekommen. Aber halt! Das »Handbuch für Untersuchungsrichter« muß auch für diesen Fall Hilfe bringen. Flink holte Thein das praktische Buch hervor, suchte im Kapitel über Simulation, und ein Lächeln der Befriedigung huschte über sein Antlitz. »Gott segne dich! Du bist und bleibst unser Nothelfer!«

169 flüsterte Thein und wandte sich an die Simulantin, der er zurief: »So, Weibele, jetzt wirst du mit kaltem Wasser begossen, und hernach mußt du vierundzwanzig Stunden auf Eis sitzen!«

Das Wörtchen Eis wirkte Wunder: im Nu stand das Weib auf den Füßen und flehte um Barmherzigkeit.

»Wo bist du beheimatet?«

»In Zell am See! I hab' nix g'stohlen, nur um Almosen gebettelt!«

»Na also!« Flink schrieb Thein dieses Geständnis nieder, dann fertigte er einen Schubschein aus, schellte dem Amtsdiener und gab dem alsbald erschienenen Beamten Auftrag, die geständige Landstreicherin durch die Gendarmerie über die Landesgrenze schaffen zu lassen.

Der Fall war erledigt dank der Eisfurcht, wie sie Zigeuner und fast alle Landstreicher hegen.

Kaum hatten das Weib und der Amtsdiener die Kanzlei verlassen, trat der Gendarmeriewachtmeister von Heilbrunn mit – Baron Hodenberg ein.

Doktor Thein war darob weit überraschter als vorhin, als die Landstreicherin in Ohnmacht fiel. Verwundert fragte Thein, was diese Vorführung zu bedeuten habe.

»Herr Amtsrichter!« rapportierte der Wachtmeister, »der Herr hier hat, wie ich in Erfahrung gebracht, zu Heilbrunn mehrmals auffallend hoch Hasard gespielt. Ich habe den Herrn zur Ausweisleistung aufgefordert, 170 die mir verweigert worden ist. Da der Herr daraufhin plötzlich abreisen wollte, erschien mir dies verdächtig, ich habe den Herrn daher verhaftet und liefere den Verdächtigen hiermit dem Gericht ein!«

Noch ehe Doktor Thein ein Wort gesprochen, erhob Baron Hodenberg Protest gegen seine Verhaftung und fragte entrüstet, doch artig, welchen Verbrechens man ihn bezichtige.

Thein hatte ein peinliches Gefühl, die Pflichttreue des Wachtmeisters kam entschieden sehr ungelegen, und die Frage des Barons war ebenso begreiflich wie sein Protest gegen eine zunächst kaum zu rechtfertigende Verhaftung. Aber da diese nun erfolgt, Hodenberg dem Gericht eingeliefert war, hatte der Amtsrichter die beschworene Dienstpflicht, den »Fall« gewissenhaft zu untersuchen, den Verhafteten so lange in Gewahrsam zu behalten, bis sich entweder die Schuldlosigkeit ergibt oder der Häftling belastet der Strafkammer überwiesen werden muß. Doktor Thein befahl nun, es solle der Wachtmeister seinen Bericht sowie alle Nebenumstände der Verhaftung zu Papier und sowohl den Bericht als auch alles Gepäck Hodenbergs zu Gerichtshänden bringen. Unterdessen werde der Baron einem Verhör unterzogen werden.

Als sich der Wachtmeister entfernt hatte, erneuerte Baron Hodenberg seinen Protest im Tone höchster Entrüstung und fügte die Drohung bei, daß er Beschwerde beim Justizminister erheben werde.

Doktor Thein war wieder kühl und ruhig geworden, 171 die Überraschung war verflogen, der »Fall« war an sich unangenehm, er mußte aber streng sachlich und dienstlich durchgenommen werden. »Bitte, Herr Baron! Wollen wir in Ruhe Ihre Angelegenheiten besprechen! Wir kommen auf diese Weise viel rascher ans Ziel und Sie zurück in die Freiheit, als wenn Sie drohen und protestieren! Es kann im momentanen Stadium der Angelegenheit der Justizminister auch nur das geringste für Sie tun. Nehmen Sie Platz, bitte, und beantworten Sie meine Fragen, die ich dienstlich an Sie zu richten habe. Herr Baron können übrigens den immer peinlich wirkenden Fragen dadurch ausweichen, daß Sie freiwillig mir vollen Aufschluß über Ihre Person und Verhältnisse geben.«

»Danke! Ich ziehe es vor, über meine Verhältnisse selbst zu sprechen.« Nun begann Hodenberg zu erzählen, daß er der Sohn des Barons Hodenberg, Rittergutsbesitzers aus Hannover sei, daß sein Geschlecht direkt von Heinrich dem Löwen abstamme und eng befreundet mit den Familien Platen, Hallermünde, Borries, Veltheim, Hammerstein sei. Er befinde sich seit Jahren auf Reisen, vergeblich Heilung von Nervosität und Gemütskrankheit suchend.

Thein hatte aufmerksam zugehört und mußte sich selbst sagen, daß das von Hodenberg Vorgebrachte durchaus glaubwürdig erscheine. Besonders gefiel es dem Richter, daß der Baron mit keinem Worte sein Verweilen auf Schloß Ried erwähnte, also mit den Beziehungen zu Tristners nicht prunken wollte, was 172 entschieden zugunsten des Verhafteten sprach. Wäre Hodenberg ein Schwindler oder Hochstapler, so würde er sicherlich zur Erhöhung seines Ansehens auf Tristners sich berufen. Aber das Gericht mußte Beweise für die vorgebrachten Behauptungen haben. Höflich bat Doktor Thein, es möge der Baron ihm die Legitimationspapiere vorlegen.

Hochfahrend erwiderte Hodenberg: »Pardon, mein Herr! Mein Wort muß Ihnen genügen. Ein Mann meiner Herkunft pflegt Ausweispapiere à la Handwerksbursch nicht mit sich zu führen!«

»Hm! Wenn ich allenfalls begreiflich finden würde, daß Sie dem übereifrigen Gendarmeriewachtmeister die Ausweisleistung verweigerten, so ist es hier anders; Sie befinden sich als Häftling vor Gericht, es fordert Sie der Gerichtsvorstand auf, die Legitimationspapiere vorzulegen. Es ist dies lediglich eine Formalität. Bestätigen Ihre Papiere Ihre Angaben, so nehme ich keinen Anstand, die Haft aufzuheben und Ihnen die Freiheit wiederzugeben.«

»Ich führe keine sogenannten Legitimationspapiere mit, besitze solche auch gar nicht! Wußte übrigens nicht, daß in Bayern Paßzwang herrscht!«

»Wir haben keinen Paßzwang, wir fordern aber Ausweisleistung von Personen, die als verdächtig dem Gericht eingeliefert sind!«

»Fordern Sie nur! Ich habe die gewünschten Papiere nicht, kann sie also auch nicht vorlegen. Trauriges Land, das ein Ehrenwort nicht respektiert!«

173 »Mein Herr! Die Untersuchung wird ergeben, ob Sie ein Ehrenmann sind oder nicht. Inzwischen bleibt es für Bayern völlig bedeutungslos, ob Sie, ein wegen Hasardspieles und unsinniger Geldverschleuderung verdächtiger und deshalb verhafteter junger Mann, unser Land ›traurig‹ nennen oder ›lustig‹. Sie sind also nach eignem Geständnis ausweislos. Ich meine es gut mit Ihnen, wenn ich Ihnen vorschlage, mir die Adresse eines Familienmitgliedes anzugeben.«

»Wozu?«

»Zum Zwecke einer telegraphischen amtlichen Erkundigung bei Ihren Verwandten. Bestätigt jemand aus Ihrer Familie Ihre Behauptungen, so können Sie noch heute abend aus der Haft entlassen werden.«

Hodenberg erhob sich vom Stuhle und sprach in aller Ruhe: »Ich danke Ihnen, Herr Amtsrichter, für Ihren Vorschlag, lehne denselben jedoch ab, weil ich mich schämen müßte, wenn an meine durchweg hochgestellten Verwandten und Bekannten eine gerichtliche Anfrage käme, die zugleich meine ganze Zukunft ruinieren, meine Stellung in der Gesellschaft vernichten würde. Ich bin, wie Herr Amtsrichter ja selbst zugeben müssen, völlig schuldlos, die Untersuchung wird dies zweifellos ergeben, ich bleibe lieber in Haft, als daß ich in eine Belästigung meiner Verwandten einwillige.«

»Aber, Herr Baron, eine gerichtliche, in höfliche Form gekleidete Anfrage ist doch keine Schändung!«

174 »In Ihren Augen vielleicht nicht; in unsren Kreisen aber sicher. Lieber den größten Schaden erleiden, als mit dem Gericht zu tun haben!«

»Auch eine Auffassung! Und recht schmeichelhaft für die Gerichtsbehörden! Empfinden Sie denn nicht selbst, daß Ihre Weigerung auffällig, Ihre Bevorzugung einer vielleicht langen Haft unerklärlich und daher verdächtig ist?«

Hodenberg zuckte die Achseln und schwieg.

»Mit Ignorierung meiner gewiß gut gemeinten Vorschläge werden Sie Ihre Lage nur verschlechtern. Ich mache Sie aufmerksam, daß die Haft bis zu drei Monaten währen kann. Ergibt die langwierige Untersuchung, die mit aller Gründlichkeit durchzuführen ich verpflichtet bin, kein vollbefriedigendes Resultat, so ist damit noch immer nicht Ihre Freilassung gewährleistet. Ein einziges Wort, die Angabe einer Adresse kann Ihnen aber die Freiheit bringen!«

»Ich will nicht!«

»Dann bezweifle ich die Wahrheit Ihrer bisherigen Angaben!«

»Herr, Sie werden beleidigend!«

»Vergessen Sie gefälligst nicht, daß Sie vor Gericht stehen und sich verantworten müssen! Zwingen Sie mich nicht, Sie wegen Ungebühr vor Gericht aburteilen zu müssen! Und nun sagen Sie mir, wie das Wappen Ihrer Familie aussieht.«

»Wenn Sie die Wahrheit meiner bisherigen Angaben bezweifeln, kann eine Schilderung meines 175 uralten Familienwappens keinen Zweck haben, Sie werden ja auch meine Schilderung anzweifeln müssen.«

»Das kommt darauf an! Bitte, reden Sie!«

Hodenberg überlegte, wie wenn er sich besinnen müßte. Zögernd sagte er, im Wappen sei oben ein Helm, unten ein Schild, ringsum Arabesken, und sehr viel Gold und Silber dabei.

»Das soll die Schilderung eines uralten Familienwappens sein? Heraldiker sind Sie offenbar nicht? Sie haben ja keine Ahnung von einem Wappen und behaupten, so solle Ihr eignes Familienwappen aussehen! Ein sonderbarer Baron aus uraltem Geschlecht, der von Helmkleinod und Wappenbild nichts zu sagen weiß!«

»Ich bin kein Fachmann und nie in der Heraldik unterwiesen worden, daher kann ich auch keine Spezialkenntnisse besitzen. Vielleicht ein Zufall, daß Sie gerade Amateur in der Heraldik sind!«

»Durchaus nicht! Dergleichen Kenntnisse hat jeder Gebildete. Ein Aristokrat, der von Heinrich dem Löwen abstammen will, muß sein Wappen sehr genau kennen und in der Lage sein, dasselbe eingehendst und überzeugend zu schildern. Sie können das nicht, also muß ich annehmen, daß Sie mich belogen haben. Rechnen wir hinzu Ihre auffällige Weigerung einer Namensnennung, so kommen wir zur unabweisbaren Notwendigkeit, Sie bis auf weiteres in Haft zu behalten. Legen Sie alle Ihre Effekten aus Ihren Taschen hierher auf den Tisch!«

176 »Belieben Sie vielleicht auch noch eine Leibesdurchsuchung?«

»Möglich! Ich handle nach Vorschrift! Fügen Sie sich nicht, so wird der Amtsdiener die Leibesdurchsuchung vornehmen.«

»Es wird ja immer hübscher! Sie halten mich wohl für einen Raubmörder, wie? Können mir aber nichts nachweisen!«

Auf den gebieterischen Blick Doktor Theins hin legte Hodenberg aber doch gutwillig Brieftasche, Geldbörse, Federmesser, Briefe auf den Tisch.

Doktor Thein stutzte, als er die dicke Brieftasche sah, nahm sie in die Hände und überzeugte sich vom Inhalt. »Das ist ja ein Vermögen in Wertpapieren und Bargeld deutscher und englischer Währung!«

Stolz nickte Hodenberg und lächelte geschmeichelt.

»Können Sie sich über diesen Vermögensbesitz ausweisen?«

»Lächerlich! Es ist mein Vermögen, das ich aus Sicherheitsgründen und wegen möglichst freier Bewegung ständig bei mir führe. Soll das vielleicht auch verdächtig sein?«

»Fragen zu stellen, ist meine Sache, nicht die Ihre!« rief Thein und klingelte dem Amtsdiener, der alsbald eintrat und den Baron mißtrauisch betrachtete.

Doktor Thein befahl die Internierung des Verhafteten mit Krankenkost bei Selbstverpflegung, täglich zwei Glas Bier gestattet, Rauchen verboten.

177 Höhnisch lächelnd verbeugte sich Hodenberg und ließ sich willig abführen.

Ärgerlich nahm der Amtsrichter eine Prüfung der Hodenbergschen Briefschaften und des Notizbuches vor, vermochte aber nichts von Belang zu finden, sofern nicht die äußerst plump gekritzelten Notizen hinsichtlich der ungelenken Schrift auffällig waren, weil sie absolut nicht zum behaupteten Rang des Besitzers stimmen konnten. Der Inhalt jener Notizen war völlig harmlos, ohne jede Bedeutung. Es fragte sich also, wer war der angebliche Baron Hodenberg? Und das scheint eine schwer zu beantwortende Frage werden zu wollen. Nicht minder schwer wird es aber auch sein, die Haftverwahrung gesetzlich zu begründen, nachdem nichts von Belang gegen den Mann vorliegt. Geldverschleudern ist kein straffälliges Verbrechen, und Hasardspielen ist Übertretung nach  360 Absatz 14, kaum § 284, denn aus dem Glücksspiel wird Hodenberg kein Gewerbe gemacht haben. Den Mann nun wochenlang in Haft zu behalten, wird nicht angängig, nicht zu verantworten sein. Ihn aber vorschnell zu entlassen, kann den Richter in die Gefahr bringen, einen möglicherweise gefährlichen Hochstapler der Freiheit übergeben zu haben, den andere Behörden eifrig suchen. Durch den übergroßen Pflichteifer des Wachtmeisters ist der Amtsrichter unzweifelhaft in eine sehr unangenehme Lage gebracht. Es ist nicht abzusehen, was daraus werden wird. Sicher ist, so argumentierte Doktor Thein, daß der Mann gelogen hat; wer lügt, 178 kann stehlen. Ist das Geld gestohlen, so ist der angebliche Hodenberg ein Verbrecher, und das Amtsgericht hat die heilige Pflicht, festzustellen, woher der Verbrecher stammt, wo er gestohlen hat und wer sich hinter dem aristokratischen Namen verbirgt. Eine heillose Arbeit und Schererei harrt somit des Amtsrichters dank des hitzigen Zugreifens eines übereifrigen Gendarmen. Schon wollte Doktor Thein seinem Ärger durch einen Fluch Luft machen, da klopfte es zaghaft an die Kanzleitür, und auf das barsche »Herein!« trat Olga Tristner in das Zimmer, ersichtlich verstört und aufgeregt.

»Ei, Fräulein Olga, welch lieber Besuch! Herzlich willkommen im kahlen Gerichtszimmer! Womit kann ich dienen?« rief Thein und eilte Olga entgegen. »Bitte abzulegen und Platz zu nehmen!« Olga schüttelte den Kopf und rang nach Atem und Fassung.

»Um's Himmels willen, was ist denn passiert? Weshalb diese Aufregung, gnädiges Fräulein?«

»Herr Doktor!« ächzte Fräulein Tristner.

»Bitte, reden Sie. Kann ich Ihnen irgendwie dienen, behilflich sein, ich stehe zur Verfügung!«

»Danke im voraus! Helfen Sie, Herr Doktor, Baron Hodenberg . . .«

Überrascht blickte Thein auf Olga, blitzschnell fragte er sich, wie das Fräulein wegen der Verhaftung Hodenbergs in so große Aufregung geraten könne.

»Der Baron ist heute – verhaftet worden!« stöhnte Olga.

179 »Stimmt! Vor wenigen Augenblicken war der Mann hier.«

»Ist Hodenberg wieder in Freiheit gesetzt?«

»Nein, Fräulein Tristner!«

»Bitte, geben Sie ihn sogleich frei!«

»Bedaure sehr, das ist ganz unmöglich!«

»Was liegt gegen ihn vor? Ich beschwöre Sie, bitte, sagen Sie mir alles. Er ist krank, nervös, gemütskrank! Es ist undenkbar, daß er ein Verbrechen verübt hat!«

»Es ist mir schmerzlich, Ihnen, liebes Fräulein, nicht dienen zu können. Die ›Affäre Hodenberg‹ befindet sich im Untersuchungsstadium, das Amtsgeheimnis bindet mir die Zunge. Sollte der Verhaftete aber wirklich krank sein, wovon ich während des Verhörs jedoch nichts gemerkt habe, so werde ich sogleich den Gerichtsarzt beauftragen, den Baron zu untersuchen.«

»Verhört! Sie haben ihn verhört? Was ist geschehen? Mir ist ganz wirr im Kopf! Diese Aufregung, diese Angst . . .«

»Aber, gnädiges Fräulein, die Verhaftung kann doch nicht ein Grund sein, daß Sie in Angst und Sorge geraten! Hodenberg war meines Wissens einige Zeit Gast im Schloß Ried; diese Tatsache bedingt doch nicht, daß die Familie Tristner sich aufregt!«

Olga bemühte sich, ihrer wilden Erregung Herr zu werden und kämpfte die Angst einigermaßen nieder. »Alarmierend ist die Verhaftung immerhin.«

180 »Gewiß, auch ich war überrascht, als der Wachtmeister mir den Baron vorführte.«

»Weshalb erfolgte die Verhaftung?«

»Wegen Hasardspieles und Ausweisverweigerung. Mehr kann und darf ich nicht sagen.«

»Wird Hodenberg deshalb mit Gefängnis bestraft?«

»Ja, sofern die Untersuchung keine weitere Belastung ergibt.«

»Muß denn eine weitere Untersuchung stattfinden?«

»Selbstverständlich! Wir müssen doch vor allem feststellen, wer der Verhaftete eigentlich ist!«

Taumelnd klammerte sich Olga an die Stuhllehne und rief in bitterster Seelenqual: »Wer der Baron eigentlich ist? Um Gottes willen, wer soll er denn sein?«

»Das wird er wohl wissen, er sagt es aber nicht, und ich weiß es einstweilen auch nicht, hoffe aber im Laufe der Zeit das Geheimnis aufdecken zu können.«

»So glauben Herr Doktor, daß Hodenberg sich Namen und Rang nur beigelegt hat? O Gott, meine gräßliche Ahnung!«

»Wie? Sie haben dergleichen geahnt?«

»Nein, nein! Gott, mir ist so wirr im Kopf, daß ich nicht mehr weiß, was ich denke und spreche!« stammelte Olga in Verzweiflung.

»Pardon, Fräulein Tristner, auf Grund Ihrer Äußerung muß ich amtlich fragen, wodurch Sie veranlaßt wurden, an Namenfälschung zu denken.«

181 »Ich weiß gar nichts, Herr Doktor!«

»Das ist schwer zu glauben! Einmal sagen Sie: ›O Gott, meine gräßliche Ahnung!‹ – Sodann stehen Sie in auffälliger Erregung vor mir und fordern Hilfe, Freilassung des Verhafteten! – Ich muß Sie fragen, stehen Sie zu dem angeblichen Baron Hodenberg in irgendwelcher Beziehung, die Sie veranlassen kann, in solcher Weise für den Verhafteten einzutreten?«

»Allmächtiger Gott! Was denken Sie?!«

»Ich ziehe lediglich Schlüsse aus Ihrer Äußerung und Ihrem Verhalten! Steht der Verhaftete Ihnen fern, so haben Sie doch keine Veranlassung, für Hodenberg einzutreten und seine Freilassung zu fordern! Da Sie mich jedoch um die unmögliche Haftentlassung ersuchen, muß ich glauben, daß der ausweislose Häftling in besonderen Beziehungen zu Ihnen oder der Familie Tristner steht; es ist daher Amtspflicht, hierüber Klarheit zu schaffen. Wenn Sie infolge großer, mir ganz unerklärlicher Aufregung hierüber nicht sprechen können und wollen, werde ich dienstlich Ihre Frau Mutter und Ihren Herrn Bruder vernehmen müssen.«

»Entsetzlich! Schonen Sie meine Mama! Sie weiß ja von nichts!«

»Und Herr Theo Tristner?«

»Theo weiß auch nichts!«

»Gut! Bleiben nur Sie. Bitte, sagen Sie mir, was Ihnen über den angeblichen Baron Hodenberg bekannt ist!«

182 »Ich weiß so wenig über ihn wie Sie selbst!«

»Weshalb aber dann Ihr Erscheinen in der Gerichtskanzlei und diese hochgradige Aufregung?«

Verwirrt stammelte Olga: »Die Ehre unseres Hauses!«

Schon wollte Doktor Thein darauf hinweisen, daß die Ehre der Tristnerschen Familie doch in keiner Weise berührt sei, wenn Hodenberg irgendwie in den Maschen des Strafgesetzes hängenbleibe.

Olga stotterte: »Verzeihung, Herr Doktor, Luft, ich weiß nichts, entschuldigen Sie!« und eilte wie von Furien gejagt aus der Kanzlei.

Verdutzt stand der Amtsrichter inmitten der Stube, für den Moment außerstande, sich die Flucht Olgas erklären zu können. Mählich aber kam doch der Jurist wieder zur Geltung, ruhig kombinierte Thein, bis er an die Möglichkeit geriet, daß der verhaftete Baron Olga Tristner betört, ihr Herz geraubt haben könnte, und bei diesem Gedanken überlief es Doktor Thein eiskalt. »Herr des Himmels, wenn das wahr ist, dann erwürg' ich den Kerl!« ächzte der Richter und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. Mit Ruhe und Überlegung, mit dem Aktenstudium war es für heute zu Ende, das Herz war alarmiert, wild jagten die Gedanken durch den erregten Kopf. »Luft, Luft, Clavigo!« rief Doktor Thein, verschloß Hodenbergs Effekten im Schreibtisch und eilte ins Freie.


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