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Viertes Kapitel

Die nächsten drei Tage waren Tage der Erwartung. Lucile erwartete Gaston, als ob er ihren Brief schon bekommen haben könnte, und Frau Benoît hoffte, daß ihre vornehmen Schuldner ihr ihre Besuche erwidern würden. Die eine saß am Salonfenster, ihre Blicke auf den Thorweg richtend, die andre ging unter den Kastanienbäumen im Garten spazieren, die Augen der Zukunft entgegengewendet.

Der Salon war festlich mit den herrlichsten Blumen geschmückt, und seine Herrin vom Morgen bis Abend in Toilette, wie ein russischer Offizier, der seine Uniform niemals auszieht.

Während der Hausstand vollständig eingerichtet wurde, absolvierte Jacquet in einer neuen Livree im Vestibül seine Lehrzeit als Lakai. Empfindsame Herzen wird es betrüben, zu erfahren, daß all diese Vorbereitungen verlorene Liebesmüh waren, kein einziger Schuldner machte Frau Benoît seine Aufwartung.

Daran war nun nichts mehr zu ändern. Den Herrschaften war es zur Gewohnheit geworden, Frau Benoît weder mit Geld noch mit Artigkeiten zu bezahlen; kurz und gut, ihr nichts zurückzugeben, nicht einmal ihre Besuche.

Traurig dachte sie hinter einer Gardine über die Undankbarkeit der Menschen nach, als ein Coupé in scharfem Trabe vorfuhr und dem Kies auf dem Hofe harmonische Klänge entlockte. Das Herz der hübschen Witwe klopfte heftig; es war das erste Mal, daß ein andrer Wagen als ihr eigner Geleise vor ihrer Thüre zog.

Es war keiner ihrer Schuldner, nein, tausendmal besser, es war der Graf von Preux in eigenster Person. Er verschwand im Vestibül, und Frau Benoît übersah schnell wie der Blitz ihren Salon, warf einen letzten Blick auf ihre Toilette und bereitete sich auf die ersten Worte vor, die sie zu sagen haben würde; schließlich aber hatte sie doch Verstand genug, sich auf eine zufällige Improvisation zu verlassen.

Das Erscheinen des Grafen verzögerte sich ein wenig, und Frau Benoît wetterte über Jacquet, der ihn ohne Zweifel im Vorzimmer zurückhielt. Weshalb ging die Thür nicht endlich auf? Sie wäre ihrem vornehmen Besuche am liebsten entgegen gegangen, wenn sie nicht gefürchtet hätte, sich durch übertriebenen Eifer zu schaden.

Endlich ging die Thür auf – ein Mann erschien – Jacquet.

»Ich bitte näher zu treten!« sagte die Witwe außer Atem.

»Ja wen denn, gnädige Frau?« fragte Jacquet mit jener schleppenden Stimme, die den lothringischen Bauern eigen ist.

»Den Grafen.«

»Ah, das ist ein Graf! Er ist da unten auf dem Hofe.«

Frau Benoît stürzte ans Fenster und sah Herrn von Preux, der, ohne auch nur den Kopf zu wenden, seinen Wagen wieder bestieg und seinem Kutscher einen Befehl zurief.

»Lauf ihm nach; was hat er dir gesagt?«

»Er ist ein sehr netter Mann und gar nicht stolz. Er kommt wahrscheinlich vom Lande, denn er glaubte, der Herr Marquis wäre hier. Ich habe ihm aber gesagt, er wäre nicht hier.«

»Dummkopf, hast du ihm denn nicht gesagt, daß die gnädige Frau hier sei?«

»Jawohl habe ich's gesagt, aber er schien es nicht zu hören.«

»So hättest du es zweimal sagen sollen.«

»Wann denn? Er hat mich ja gleich gefragt, wann der Herr Marquis zurückkäme. Glaube, er wollte mit dem Herrn sprechen.«

»Was hast du geantwortet?«

»Nun, daß man nicht genau wüßte, wie man mit dem Herrn dran sei; daß es nicht den Anschein habe, als ob er wiederkommen wollte, und weil der Herr gar nicht stolz war und sich über mich zu amüsieren schien, habe ich ihm die ganze Geschichte erzählt, wie gnädige Frau und Fräulein dem Herrn Marquis mitgespielt haben.«

»Ungeheuer, mach daß du fortkommst, geh! Was bin ich dir noch schuldig?«

»Weiß nicht.«

»Wieviel bekommst du monatlich?«

»Neun Franken, gnädige Frau. Werfen Sie mich nicht 'naus! Ich habe nichts gethan. Ich will es nicht wieder thun,« und dann fing er jämmerlich an zu heulen.

»Wie lange hast du keinen Lohn bekommen?«

»Zwei Monate. Was soll aus mir werden, wenn Sie mich hinauswerfen?«

»Komm her, hier sind deine achtzehn Franken und noch zwanzig dazu, damit du Zeit hast, dir eine neue Stelle zu suchen. Geh!«

Jacquet nahm das Geld, sah nach, ob seine Rechnung stimmte, und fiel dann schreiend auf die Kniee. »Gnade, Gnade! ich bin nicht schlecht, ich habe niemals jemand etwas Böses gethan!«

»Dummheit ist das schlimmste Laster.«

»Warum denn?« heulte Jacquet.

»Weil es das einzige ist, das man niemals ablegt.«

Sie warf ihn hinaus und legte sich auf ihr Sofa.

Jacquet verließ das Haus und trug, wie der Philosoph Bias, sein ganzes Vermögen bei sich. Wer ihm gefolgt wäre, hätte ihn mit traurigster Stimme flüstern hören können: »Zweiundsechzig und acht sind siebzig, und zehn sind achtzig und zwanzig sind hundert, aber ich habe die Henne getötet, sie wird keine Eier mehr für mich legen.«

Bei Tisch erfuhr Lucile, daß Jacquet in Ungnade gefallen sei, aber sie getraute sich nicht, nach dem Grunde zu fragen. Mutter und Tochter, die letztere traurig und unruhig, die andre verstimmt und mürrisch, aßen ohne ein Wort zu sprechen, als ein Brief für Frau von Outreville hereingebracht wurde.

»Von Gaston!« rief sie. Leider nein. Das Couvert trug den Stempel von Passy und war von Frau Céline Jordy, geborene Mélier. Lucile las den Brief laut vor:

 

»Liebste Landsmännin!

»Ich schreibe Dir gleichzeitig nach unsrem Heim und nach Paris; Du hast mich seit Deiner Verheiratung so vernachlässigt, daß ich gar nicht weiß, was aus Dir geworden ist. Ich bin glücklich, glücklich, glücklich! in diesen drei Worten liegt meine ganze Geschichte. Wenn Du weitere Einzelheiten wissen willst, komm und hole sie Dir, oder sage mir, wo Du Dich versteckst. Robert ist der vollkommenste aller Menschen, abgesehen von Herrn von Outreville, über den ich erst urteilen werde, wenn Du mich mit ihm bekannt gemacht haben wirst. Wann endlich darf ich Dich umarmen? Ich habe Dir tausend Geheimnisse mitzuteilen, die ich nur Dir sagen kann, bist Du nicht seit sechzehn Jahren meine einzige Vertraute? Ich bin begierig, ob Du mich erkennen würdest, wenn ich meinen Namen nicht auf meinen Hut steckte. Du mußt Dich auch sehr verändert haben. Was waren wir doch noch für Kinder, Du vor vierzehn Tagen, ich vor drei Wochen. Wenn Du in Paris bist, komm morgen zu mir, bist Du in Arlange, sobald Du kannst. Es ist mir ein lieber Gedanke, zu glauben, daß wir nicht die vornehmen Damen spielen, sondern uns so oft sehen werden, als wir können, ohne uns die Besuche nachzurechnen. Es drängt mich, Dir mein Haus zu zeigen, es ist das reizendste Nestchen, das jemals auf Erden gebaut worden ist. Bei Dir steht es dann, mich durch den Anblick Deines Palastes zu demütigen; aber sehen muß ich Dich auf jeden Fall. Ich will es. Das ist ein Wort, dem in Passy, Rue des Tilleuls Nr. 16 niemand ungehorsam ist. Ich küsse Dich, ohne zu wissen, wo Du bist, ganz Deine

Céline.«

 

»Die liebe Céline! Ich werde morgen für den ganzen Tag zu ihr gehen. Du brauchst mich doch nicht, Mama?«

»Nein, ich werde auch eine meiner Freundinnen besuchen.«

»Wen denn, Mama?«

»Du kennst sie nicht, die Gräfin Malésy.«

Seit zwölf oder dreizehn Jahren hatte Frau Benoît diese verehrungswürdige Freundin nicht gesehen, auf die sie ihre letzte Hoffnung setzte.

Sie fand sie wenig verändert. Zwar war die Gräfin infolge des Geschreis ihrer Gläubiger taub geworden, aber diese Taubheit war gefälliger Art, denn sie verhinderte sie nicht, zu hören, was ihr lieb war. Im übrigen war ihr Auge sehr gut und ihr Magen vortrefflich. Frau von Malésy erkannte ihre Gläubigerin sofort und empfing sie mit einer rührenden Vertraulichkeit.

»Guten Tag, Kleine, guten Tag; ich habe Sie in der Voraussetzung angenommen, daß Sie viel zu klug sind, um Geld von mir zu fordern!«

»Oh, Frau Gräfin, ich habe Ihnen niemals einen eigennützigen Besuch gemacht.«

»Liebe Kleine! ganz das Ebenbild Ihres Vaters. Ja, mein Kind, Lopinot war ein edler Mensch.«

»Sie beschämen mich, Frau Gräfin.«

»Begreifen Sie es, daß man einer armen Frau, wie mir, Geld abverlangt? Vor kaum einem Jahre habe ich meine Tochter an den Marquis von Croix-Maugars verheiratet – eine gute Partie, ich gebe es zu – aber diese Heirat hat mir die Augen aus dem Kopfe gekostet.«

Fräulein von Malésy hatte keinen roten Heller Mitgift bekommen.

»Ich, gnädigste Frau, habe meine Tochter an den Marquis von Outreville verheiratet.«

»Was meinen Sie? Wie nennen Sie den Mann?«

Frau Benoît machte ein Sprachrohr aus ihren beiden Händen und schrie: »Marquis von Outreville.«

»Schön, schön, ich höre; aber welcher Outreville? Es gibt echte und falsche Outrevilles, von den echten ist nicht mehr viel übrig.«

»Mein Schwiegersohn ist ein echter.«

»Sind Sie dessen gewiß? Ist er reich?«

»Er hatte gar nichts.«

»Desto besser für Sie! Die falschen sind verteufelt reich. Sie haben die Güter und das Schloß gekauft und als Zugabe noch den Namen bekommen. Was für eine Nase hat er?«

»Wer?«

»Ihr Schwiegersohn.«

»Eine römische Nase.«

»Mein Kompliment! Die falschen Outrevilles sind die reinen Affen – sie haben sämtlich aufgestülpte Nasen.«

»Es ist derselbe, der auf dem Polytechnikum gewesen.«

»Ich kenne ihn, ein bißchen verrückt, aber von den echten Outrevilles. Sie sind doch eine kluge Frau, können Sie sich erklären, wie es möglich war, eine solche Dummheit zu begehen?«

Jetzt war die Reihe an Frau Benoît, die Taube zu spielen.

Die Gräfin wiederholte: »Die Dummheit, sage ich, Ihre Tochter zu heiraten. Sie ist wohl sehr reich?«

»Sie hat hunderttausend Franken Rente mitbekommen. Wir Bürgerlichen haben die Gewohnheit beibehalten, unsern Töchtern eine Mitgift mitzugeben.« – Da hast du es.

»Ich hätte das nicht von ihm geglaubt, ich hielt ihn für anständiger. Selbstverständlich würde ich das nicht aussprechen, meine Liebe, wenn er hier wäre, aber wir sind ja ganz unter uns. Was gibt's, Rosine?«

»Gnädige Frau, der Commis aus dem › Guten heiligen Ludwig‹ ist wieder da.«

»Ich bin nicht zu Hause. Diese Kaufleute sind unerträglich geworden. Ach, Kleine, Ihr Vater war ein edler Mensch! – Ich sagte gerade, daß man dem Marquis aus dieser Heirat überall einen Vorwurf machen wird. Ins Gesicht wird's ihm niemand sagen, aber ein echter Outreville sollte doch keine Mißhei – – Was ist denn schon wieder, Rosine?«

»Herr Majou, gnädige Frau.«

»Ich bin nicht zu Hause, bin für den ganzen Tag ausgegangen, im Begriff, aufs Land zu reisen; hat man schon je einen solchen Weinhändler gesehen? Gläubiger sind heutzutage schlimmer als Bettler, man kann sie hinauswerfen, so viel man will, sie kommen immer wieder. Ach, Kleine, Ihr Vater war ein Heiliger! Ist denn Ihre Tochter wenigstens hübsch?«

»Ich werde die Ehre haben, gnädige Frau, sie Ihnen in den nächsten Tagen eines Nachmittags vorzustellen. Mein Schwiegersohn ist auf unsern Gütern.«

»Das ist recht; bringen Sie sie nur eines Vormittags her. Bis zwölf bin ich für Sie zu Hause. – Noch jemand, Rosine? Das ist ja heute eine förmliche Prozession!«

»Herr Bouniol, gnädige Frau.«

»Sagen Sie ihm, ich ließe mir Blutegel setzen.«

»Ich habe ihm schon gesagt, daß Frau Gräfin nicht zu Hause wären. Er hat aber geantwortet, daß er im Laufe von acht Tagen bereits fünfmal hier gewesen sei, ohne vorgelassen zu werden, und daß er andre Maßregeln ergreifen würde, wenn die gnädige Frau Gräfin ihn nicht empfingen.«

»Nun, dann mag er hereinkommen, ich werde ihm schon die Wahrheit sagen. Sie gestatten doch, Kleine? Wir sehen uns bald wieder. Ach, meine Liebe, Ihr Vater war ein großer Mann!«

Als Frau Benoît in ihren Wagen stieg, sagte sie leise vor sich hin; »Mokiere dich nur, impertinente alte Person! Du hast die Schulden und ich das Geld. Ich habe dich in der Hand, und wenn es mich fünfhundert Louisdor kosten sollte, ich will, daß du mich mit eigner Hand bis mitten in den Salon deiner Tochter führst.« Mit diesen Gefühlen schied sie von der Gräfin.

Lucile lag schon lange in den Armen ihrer Freundin. Sie war um acht Uhr von Hause fortgefahren, und stieg eine Stunde später vor dem hübschen Gitter in der Rue des Tilleuls aus. Der Morgen war herrlich und Haus und Garten lagen wie in Sonnenlicht gebadet da. Alles, was da rankt und blüht, blühte und rankte sich um die Mauern. Die Glycinie mit ihren lila Trauben, die rotblühende Begonie, weißer Jasmin und Passionsblumen, die Aristolochia mit ihren großen Blättern, wilder Wein, im letzten Lächeln des Herbstes errötet, schlangen sich netzartig bis zum Dache empor. Dicke Ranken von Winden blühten bis zur Höhe der Eingangsthür, und die blauen Glocken der Kobäa schmückten sämtliche Fenster.

Dieser Anblick rief die süßesten Erinnerungen an Arlange in Lucile wach. In diesem Augenblick hätte sie ohne weiteres ihr Haus in der Rue Saint Dominique und seinen engen Garten hingegeben, in welchem die Blumen von dem tiefen Schatten des Hauses und dem dicken Laubwerk der alten Kastanienbäume fast erstickt wurden.

Ein Morgenkleid aus Seidenbast, in einem Rhododendronbusch halb verborgen, entriß Lucile ihren Träumereien. Sie lief darauf zu und geradewegs in Frau Jordys Arme.

Céline war eine ganz kleine rundliche Blondine, mit einer gewölbten Stirn und einem Stumpfnäschen, die bei jeder Gelegenheit ihre weißen Zähne, spitz wie die eines jungen Hundes, zeigte, welche lachte ohne irgend einen andern Grund, als das Glück, zu leben, und weinte, ohne einen Kummer zu haben, welche ihr Gesicht zwanzigmal in einer Stunde veränderte und immer hübsch war, ohne daß man jemals zu sagen gewußt, was sie eigentlich hübsch machte. Lucile glich Frau Jordy in keiner Weise; wenn es wahr ist, daß Gegensätze die Freundschaft erhalten, mußte die Freundschaft zwischen den beiden Frauen unsterblich sein. Die junge Marquise war einen Kopf größer als ihre Freundin und hatte absolut nichts von Frau Jordys Embonpoint; in ihrer schlanken und nervösen Schönheit konnte man sie Diana, der göttlichen Jägerin, vergleichen.

Durch eine Laune des Zufalls trug die Königin der Wälder von Arlange an diesem Morgen einen weißen Krepphut und ein Kleid von rosa Taffet, während die kleine blonde Bürgerin den Strohhut und das flatternde Kleidchen einer Waldbewohnerin trug.

»Wie schön, daß du gekommen bist,« sagte sie zur Marquise. Ich bitte, mir die Aufzeichnung all der Küsse zu erlassen, welche die Unterhaltung der beiden Freundinnen unterbrachen.

»Ich habe von dir geträumt. Seit wann bist du in Paris, Liebste?«

»Seit dem Morgen nach meiner Hochzeit.«

»Vierzehn verlorene Tage für mich! wie schrecklich!«

»Wenn ich nur gewußt hätte, wo du wärst,« flüsterte die kleine Marquise, »ich hätte dich so gern gesehen.«

»Und ich erst! Aber zuerst sieh mich an. Sehe ich nicht aus wie eine Frau? Würde es noch irgend jemand einfallen, mich Fräulein zu nennen?«

»Du hast recht, du hast so etwas Gesetztes an dir – so etwas –«

»Kein Wort mehr, oder ich sterbe vor Lachen. Und du? Laß sehen! – Du siehst noch immer ebenso aus. Guten Tag, mein Fräulein!«

»Ihre Dienerin, gnädige Frau!«

»Gnädige Frau! Ein himmlisches Wort! Wenn du beim Frühstück sehr brav bist, nenne ich dich beim Dessert auch gnädige Frau. Weißt du noch, wie wir immer gnädige Frau spielten?«

»Es ist noch nicht so lange her.«

»Kommen Sie, mein Fräulein, ich werde Ihnen den Garten zeigen; bitte aber, die Blumen nicht anzurühren!«

Während sie plauderte, pflückte sie einen Rosenstrauß von riesigem Umfang, hinter dem sie beinahe verschwand.

»Ich bitte um Gnade für deinen schönen Garten,« bat Lucile.

»Und ich verbiete dir, diesen Garten meinen schönen Garten zu nennen; einen Garten, in den jeder hineinkommt, den jeder sich ansehen kann, einen Garten für jedermann! Mein schöner Garten liegt da drüben hinter der Mauer; nur zwei Personen gehen darin spazieren, Robert und ich; du sollst die dritte sein. Siehst du die kleine grüne Thür? Wer zuerst da ist!«

Sie fing an zu laufen, Lucile, die sie bald überholt hatte, hinter ihr her. Frau Jordy nahm einen kleinen Schlüssel aus der Tasche und schloß die Thür auf.

»Hier,« sagte sie, »ist unser reservierter Park. Die Blüten dieser Linde blühen nur für uns. Hier gehen wir jeden Morgen spazieren, ehe die Arbeit beginnt, denn wir sind Frühaufsteher, ich habe die guten Gewohnheiten von Arlange beibehalten. Was Robert betrifft, so weiß ich nicht, wie er es anstellt, ich mag noch so früh aufwachen, ich finde ihn immer, den Kopf in die Hand gestützt, ernsthaft damit beschäftigt, mich im Schlaf zu beobachten. Komm 'mal ein wenig auf diese Seite. Hier hatte der frühere Besitzer ein großes Untier von Grotte gebaut. Robert hat sie dreiviertel abtragen lassen. Er hat Geschmack wie ein Engel; er ist Baumeister, Tapezier, Gärtner, er kann alles. Nun komm!«

»Noch ein Weilchen; es ist so schön unter den großen Bäumen!«

»Wir kehren gleich zum Frühstück hierher zurück. Erst mußt du unser Haus sehen, dann zeige ich dir meinen Mann; er ist noch in der Fabrik. Du wirst sehen, meine Lucile, wie schön er ist. Du weißt doch noch, welchen Unsinn wir früher über unser Ideal schwatzten? Mein Ideal war ein großer brünetter Mann mit einem Knebelbart und Augenbrauen schwarz wie Tinte. Mein Mann gleicht diesem Bilde ganz und gar nicht, Liebste. Er ist nicht größer als Papa, sein Haar ist kastanienbraun, er hat einen hübschen blonden Bart, weich wie Seide, und mein Ideal finde ich jetzt ganz abscheulich; ich glaube, wenn ich ihm auf der Straße begegnete, würde ich mich vor ihm fürchten. Robert ist sanft und zärtlich; er weint sogar, Liebste. Gestern in der Dämmerung saß er neben mir; wir machten allerlei Pläne und ich setzte ihm meine Ideen über Kindererziehung auseinander. Er ließ mich ruhig sprechen und vergrub den Kopf in beide Hände, als wolle er tief in sein Innerstes hineinblicken. Als ich zu Ende war, küßte er mich, ohne ein Wort zu sagen, und ich fühlte eine große Thräne auf meiner Wange. Wie schön doch Männerthränen sind! Mama hat mich gewiß sehr lieb, doch so hat sie mich niemals geliebt. Du wirst mir vielleicht nicht glauben, aber ich gebe dir mein Wort, daß er Männern gegenüber stolz, steif, ja zuweilen sogar schrecklich sein kann. Es ist mir erzählt worden, daß unsre Arbeiter voriges Jahr im Begriff waren zu streiken, um einen Werkführer los zu werden. Robert hatte rechtzeitig von dem Komplott erfahren; er begab sich unverzüglich mitten in den Haufen von fünfzig bis sechzig aufständischen Männern hinein und erdrückte den Aufstand im Keim; alles im Hause fürchtet ihn, nur ich nicht. Habe ich nicht recht, stolz darauf zu sein? Es kommt mir fast so vor, als ob ich all die Leute kommandierte, welche ihm gehorchen. Meine Lucile, wie schön ist doch die Ehe! Am Abend noch zwei getrennte Wesen, am Morgen ganz eins; zwei Hälften einer Seele, eins zum andern gehörig, wie die siamesischen Brüder, die sich nicht trennen können, ohne zu sterben. Hier ist unser Zimmer, wie gefällt es dir? Er hat die Tapete und Stoffe wie ein Kleid für mich ausgesucht: blau, zu Ehren meiner blonden Haare. Und die Tapete ist ja auch eine Toilette, die uns aus der Entfernung kleidet. Du, meine schwarzäugige Braune, hast gewiß ein Zimmer aus rosa Seide?«

»Ich glaube ja,« erwiderte Lucile träumerisch.

»Wie? ich glaube! Du antwortest ja wie eine Engländerin – denke dir, ich mache mein Bett selbst, aber freilich Robert hilft mir ein bißchen.«

Lucile erwiderte nichts. Nachdenklich betrachtete sie ein prächtiges Durcheinander von Spitzen und Stickereien, in dessen Mitte zwei große Kopfkissen nebeneinander lagen.

Die Thür ging auf, Herr Jordy trat ein und warf seinen Strohhut auf einen Stuhl. Bei Luciles Anblick blieb er sprachlos stehen und grüßte ehrerbietig. Seine Frau aber fiel ihm ohne jeden Zwang um den Hals, und, mit einer reizenden Bewegung auf die Marquise zeigend, sagte sie: »Das ist Lucile, Robert.«

Das war die ganze Vorstellung. Herr Jordy begrüßte Lucile ohne jede Förmlichkeit; er hatte schon oft von ihr sprechen hören; sie war ihm weder fremd noch gleichgültig.

Er setzte sich und seine Frau schmiegte sich an ihn.

»Ist er nicht schön?« fragte sie die Marquise. »Aber wo kommen wir denn her? Wir müssen gelaufen sein, wir sind ja ganz naß!« Und mit einer schnellen Bewegung fuhr sie dem jungen Manne, der sich vergeblich zu wehren suchte, mit einem Batisttaschentuch über die Stirn.

Herr Jordy hatte mehr Lebensart als Céline, aber es war vergebens, daß er sie mit Blicken ansah, die streng sein sollten, das kleine Landmädchen von Arlange legte ihm beide Hände über die Augen und küßte ihn auf die geschlossenen Augenlider. »Schilt mich nicht,« bat sie, »Lucile ist seit vierzehn Tagen verheiratet, das heißt, sie ist ebenso toll wie wir.«

Die Uhr schlug zwölf, es war Zeit zum Frühstück. Sie liefen in den Garten hinab und ließen sich in glücklichster Stimmung unter den schönen Linden nieder, welche der nachbarlichen Straße ihren Namen gegeben haben. Kein Dienstbote war bei der Mahlzeit anwesend; jeder bediente sich selbst und half dem andern.

Die beiden Freundinnen, auf dem Lande erzogen und den Zierereien der Pariser Erziehung völlig fremd, waren keineswegs Liebhaberinnen von Wasser; sie tranken mit großem Vergnügen einen hübschen Burgunder in Strohflaschen, den Herr Jordy wenig Schritte weiter in einem kleinen fließenden Bach kalt gestellt hatte. Robert gefiel der Marquise schon nach kurzer Bekanntschaft; er war klug und gebildet und dabei einfach und voll Gemüt, so recht aus dem Holz geschnitten, das die treuesten Freunde gibt. Céline wollte ihren Mann im besten Lichte zeigen und beredete ihn beim Nachtisch, etwas zu singen. Er wählte eines der reizendsten Lieder von Béranger, obgleich der alte Poet schon nicht mehr ganz modern war, und die Vögel stimmten, aus ihrer Siesta aufgeweckt, eine fröhliche Begleitung über seinem Haupte an.

Lucile sang gleichfalls, ohne sich erst lange bitten zu lassen.

So lachten und scherzten sie und niemand bemerkte, daß die Heiterkeit der Marquise eine fieberhaft erregte war.

»Wie schade, daß Herr von Outreville nicht hier ist,« sagte Frau Jordy, »es ist sehr schön, sich zu zweien zu lieben, aber wenn man zu vieren ist, fängt der Wettstreit an!«

Gegen zwei Uhr ging Herr Jordy in sein Geschäft zurück, und die beiden Freundinnen fingen ihre vertraulichen Plaudereien wieder an. Céline sprach, ohne müde zu werden und ohne zu bemerken, daß das ganze Gespräch aus einem Monolog ihrerseits bestand.

Lucile hörte aufgeregt und atemlos zu; sie erfuhr und erriet manches, während ihr andres wieder völlig unverständlich blieb, einem Schiffahrer gleich, den ein Sturm auf ein verzaubertes Land geworfen, dessen Sprache er nicht versteht.

So kam die Stunde des Mittagessens heran; Céline sprach noch immer und Lucile hörte noch immer zu.

»Was nun die Kinder betrifft,« sagte die junge Frau, »so muß man hoffen, daß sie recht bald kommen werden. Denkst du zuweilen daran, Lucile? Die Liebe hat ihre Zeit, sie währt höchstens zwanzig Jahre; und schon sind drei Wochen davon dahin! Die Liebe zu den Kindern ist etwas andres, sie lebt so lange wie wir selbst und schließt uns endlich die Augen zu. Du weißt, daß ich früher nicht gerade fromm war; wenn ich aber jetzt daran denke, daß unsre Kinder in Gottes Hand stehen, werde ich förmlich abergläubisch. Was wünschest du dir, einen Sohn oder eine Tochter?«

»Ich – ich habe noch gar nicht daran gedacht.«

»Du mußt aber daran denken, Liebste. Wenn du es nicht thust, wer soll es für dich thun? Ich wünsche mir einen Sohn. Höre einmal die Bitte, die ich jeden Abend in mein Gebet einschließe: ›Heilige Jungfrau, wenn du mein Herz rein befindest, segne meine Liebe und gib, daß ich des Glückes teilhaftig werde, einen Sohn zu haben, damit ich ihn in der Furcht Gottes, in der Verehrung für alles Gute und Schöne, in allen Pflichten des Mannes und des Christen erziehe.‹«

Nun war's mit der armen Lucile vorbei. Der Thränenstrom, den sie schon lange krampfhaft zurückgehalten hatte, brach unaufhaltsam hervor, und überflutete ihr hübsches Gesicht.

»Du weinst,« rief Céline. »Habe ich dir weh gethan?«

»Ach, Céline, ich bin zu unglücklich! Mama hat mich gezwungen, am Abend nach meiner Hochzeit abzureisen, und ich habe meinen Mann seit dem Hochzeitsball nicht wieder gesehen!«

»Den Abend nach deiner Hochzeit? Seit dem Ball? Unglückliche!«

Plötzlich nahm Frau Jordys Gesicht einen sehr ernsten Ausdruck an.

»Aber das ist ja Verrat. Weshalb hast du mir das nicht früher gesagt? Seit heute morgen spreche ich mit dir wie zu einer Frau, und du bist noch ein Kind. Es wäre deine Pflicht gewesen, mich beim ersten Worte zu unterbrechen; niemals würde ich dir das vergeben, wenn du nicht so sehr zu beklagen wärst.«

Lucile erzählte ihre ganze Geschichte.

»Hast du denn nicht an deinen Mann geschrieben?«

»Ja.«

»Wann?«

»Vor vier Tagen.«

»Weine nicht mehr, mein Kind. Er wird heute abend ankommen.«

Das Essen war vortrefflich, das Eßzimmer hell und freundlich, die letzten Sonnenstrahlen spielten zwischen den Rouleaus und Jalousien, der weiße Burgunder lachte in den Gläsern und Herr Jordy liebkoste mit strahlenden Blicken das hübsche Gesicht seiner Frau; allein Céline bewahrte den Ernst einer römischen Matrone, und ich glaube (verzeih' mir's Gott) sie nannte ihren Mann »Sie«.

Um zehn Uhr fuhr die Marquise nach Hause. Céline und ihr Mann begleiteten sie an ihren Wagen. Als sie den Kutscher bemerkte, wurde Frau Jordy von einer plötzlichen Eingebung erfaßt.

»Pierre,« fragte sie in gleichgültigem Tone, »ist der Herr Marquis angekommen?«

»Ja, gnädige Frau.«

Die Marquise stürzte in die Arme ihrer Freundin und stieß einen Schrei aus.

»Was bedeutet das?« fragte Robert.

»Nichts,« erwiderte Céline.


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