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Zweites Kapitel

Nachdem der Baron fort war, warf sich Gaston von Outreville in einen Fauteuil, vergrub den Kopf in beide Hände und grübelte so lange, daß seine chinesische Tusche vollkommen Zeit hatte, einzutrocknen. »Aus welchem Grunde,« fragte er sich, »bietet mir diese Dame die Hand ihrer Tochter und hunderttausend Franken Rente an?«

Die einzig mögliche Erklärung erschien ihm schließlich die, daß Frau Benoît einen tüchtigen Hüttenmeister zum Schwiegersohn haben wollte. »Sie hat von mir gehört,« dachte er, »man hat ihr von meinen Forschungen und Entdeckungen erzählt, ich war ja im Faubourg bekannt genug, bevor ich die Dummheit und Eitelkeit jener gesellschaftlichen Beziehungen recht erkannt. Aller Wahrscheinlichkeit nach braucht das Hüttenwerk einen Mann, denn Mutter und Tochter zusammen geben noch immer keinen Hüttenmeister ab. Wer weiß, ob die Arbeiten nicht eingestellt sind und das Unternehmen in Gefahr schwebt? Alle Wetter, wir wollen es retten. Zu Hilfe, Outreville! wie unsre heldenhaften Vorfahren, die ihre Schwerter selber ›schmiedeten‹, zu sagen pflegten.« Und dann rieb er seine chinesische Tusche wieder an, und beendete gewissenhaft seine Zeichnung.

Am nächsten Morgen ging er schon vor dem Frühstück mit großen Schritten im Luxemburger Garten spazieren. Mittags setzte er sich in einem Lesezimmer fest, in dem er sämtliche Tageszeitungen und alle Monatshefte nacheinander durchblätterte. Seit langer Zeit hatte er sich keinen ähnlichen Ausschweifungen hingegeben. »Zum Glück verheiratet man sich nicht oft,« dachte er, »sonst würde man wenig zum Arbeiten kommen.« Um fünf Uhr fing er an Toilette zu machen, was eine geraume Zeit in Anspruch nahm; erwartete er doch, mit seiner Braut zu speisen. Es schlug gerade halb sieben, als er beim Baron eintrat. Er hoffte, von seinem alten Freunde zu erfahren, was Frau Benoît dazu getrieben, gerade ihn zum Schwiegersohn zu wählen, aber der Baron war geheimnisvoll wie ein Orakel; er achtete Gastons Stolz zu hoch, um ihm die Wahrheit zu erzählen. Als sie an das kleine Haus in der Rue Saint Dominique kamen, bemerkten sie zwei Arbeiter, die auf einer Stehleiter hockten und einen Raum über dem Thorweg ausmaßen.

»Raten Sie,« sagte der Baron, »was die braven Leute da oben machen? Sie nehmen das Maß zu einer Marmortafel, welche die Worte: ›Hotel Outreville‹ zieren sollen.«

»Ein guter Witz,« erwiderte Gaston und überschritt die Schwelle.

»Sie glauben mir nicht? Bitte auf einen Augenblick. Holla, Herr Renaudot, sehe ich recht? Sind Sie's?«

»Ja, Herr Baron,« erwiderte der Marmorschleifer im Herabsteigen.

»Wann glauben Sie die Tafel anbringen zu können?«

»Nicht vor einem Monat, Herr Baron, des Wappens wegen, das über dem Namen eingemeißelt werden muß.«

»Einen Monat?! Beim Marquis von Croix-Maugars haben Sie ja nur vierzehn Tage gebraucht?«

»Ja, Herr Baron, aber das Outrevillesche Wappen ist auch viel komplizierter.«

»Das stimmt. Guten Abend, Herr Renaudot. – Hm, was sagen Sie nun, Sie Skeptiker?«

»Ich? Ich frage, in welches Feenmärchen Sie mich hineinführen?«

»Ein wenig ›Gestiefelter Kater‹, da ein Marquis drin vorkommt.«

»Sehr verbunden!«

»Und ein wenig ›Dornröschen‹, denn die zukünftige Marquise, welche Sie niemals gesehen hat, schläft unschuldig und in süßer Sicherheit in ihren Wäldern von Arlange und wartet darauf, daß der Königssohn komme und sie erwecke.«

»Was! Sie ist nicht hier?«

»Wir werden sie wissen lassen, wie sehr Sie diesen Umstand bedauert haben.«

Frau Benoît empfing ihre Gäste mit offenen Armen.

Rechtzeitig von dem Erfolg der Angelegenheit benachrichtigt, hatte sie ein Diner wie für einen Erzbischof bestellt. Mit Vorstellungen wurde nicht viel Zeit verloren; man lernt sich bei Tisch am besten kennen.

Die Unterhaltung zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn ging ganz vergnüglich vorwärts. Gaston sprach von Arlange, Frau Benoît erwiderte mit dem Faubourg; sie stürzte sich in eine Flut von Fragen über den Adel, er kam mit einem kleinen Umweg immer wieder auf die Hüttenwerke zurück; jeder verfolgte eigensinnig seinen Lieblingsplan. Diesen hartnäckigen Kampf klärte niemand auf, nicht einmal der vortreffliche Baron, der sich vollständig dem einzigen Vergnügen seiner Jahre hingab, und dem Diner mehr Ehre anthat als der Unterhaltung. Frau Benoît war weit entfernt davon, die Passion ihres Schwiegersohnes zu erraten, und Gaston argwöhnte nichts von der Manie seiner Schwiegermutter.

Des Kampfes müde, ließ Gaston endlich die Hüttenkunde fahren, und Frau Benoît war in der glücklichen Lage, ihn über alles befragen zu können, wovon ihr Herz voll war. Sie kannte das Hauptbuch ihres Vaters, jenes prosaische Adelsverzeichnis der Pariser Noblesse auswendig; es fehlte ihr kein einziger Name, den Hozier anerkannt haben würde.

Um sich zu überzeugen, daß Gaston in der Lage war, sie überall einzuführen, unterwarf sie ihn, ohne daß er dessen gewahr wurde, einem Examen, das er in aller Unschuld vortrefflich bestand. Ihr Ehrgeiz ward bis zur Seligkeit befriedigt, als sie hörte, daß Gaston hier gespeist und dort getanzt habe, daß er in jenem Hause geduzt wurde und daß man in einem andern mit ihm schmollte; daß er in seinem zehnten Jahre mit dem Herzog so und so gespielt habe und in seinem zwanzigsten mit dem Prinzen so und so ausgeritten war. Sie schrieb in ihr Gedächtnis aus steinernen und ehernen Tafeln alle nahen und entfernten Verwandten ihres Schwiegersohnes ein. Hätte sie einen einzigen vergessen, so würde sie geglaubt haben, sich gegen ihre eigne Familie zu vergehen.

Nach dem Kaffee wurde ein Spaziergang durch den Garten gemacht; der Abend war wundervoll und der Himmel strahlte wie zu einem Fest geschmückt. Frau Benoît zeigte dem Marquis die benachbarten Besitzungen.

»Hier,« sagte sie, »haben wir den Grafen von Preux, kennen Sie ihn?«

»Er ist ein leiblicher Vetter meines Vaters.«

Die Glückliche verzeichnete triumphierend diesen unverhofften Verwandten.

»Dort,« fuhr sie fort, »wohnt die Marschallin von Lens. Es wäre ein seltsames Zusammentreffen, wenn sie auch zur Familie gehörte.«

»Nein, gnädige Frau, aber sie war die Patin meines verstorbenen Bruders.«

»Schön,« dachte Frau Benoît. »Wenn der dicke Haushofmeister noch lebt, werden wir ihn hinauswerfen lassen. Welch ein Schatz ist doch solch Schwiegersohn!«

Hätte Gaston den Vorschlag gemacht: »Lassen Sie uns über die Mauer springen und die Marschallin überraschen,« Frau Benoît wäre gesprungen.

Aber der Baron, der gern gleich nach Tisch zu Bett ging, blies zum Rückzug und Gaston folgte ihm.

Ein schönes Coupé mit Frau Benoîts Namenszug erwartete sie vor dem Hause.

»Mein liebes Kind,« sagte der Baron, sobald die Wagenthür geschlossen war, »ich habe brillant gegessen, und Sie? Aber in Ihren Jahren macht man sich nichts aus dem Essen. Wie gefällt Ihnen Ihre Schwiegermutter?«

»Sie scheint durchaus nach Wunsch; eine eitle oberflächliche Frau, die sich nicht in den Betrieb der Werke mischen und meinen Experimenten nichts in den Weg legen wird.«

»Um so besser, wenn sie Ihnen gefallen hat. Sie haben sie jedenfalls vollständig erobert; Frau Benoît hat es mir durch ein Zeichen gesagt, als ich ihr die Hand küßte. Ich glaube, wir können unsern Heiratsantrag stellen.«

»Schon?«

»Das ist der Lauf der Dinge in den Märchen. Sobald der Königssohn die Schöne geweckt hatte, heiratete er sie vom Fleck weg, ohne die Erlaubnis seiner Eltern einzuholen.«

»Ich habe leider niemand um Erlaubnis zu fragen.«

»Wenn Sie morgen noch zu früh finden, können wir ja noch ein paar Tage warten, ich stehe zu Ihren Diensten. Sie werden mir auch Ihren Geburtsschein und einige andre notwendige Papiere geben müssen.«

»Jederzeit! Meine Papiere sind alle in einen Stoß zusammengebunden; nehmen Sie daraus, was Sie für nötig halten.«

Am nächsten Morgen kam Herr von Subressac, um den Geburtsschein zu holen, und nahm in einem Anfall bewußter Zerstreutheit alle übrigen Papiere mit. Er übergab Frau Benoît das Aktenpaket, welche dasselbe aus besondrer Vorsicht einem Paläographen, einem früheren Schüler der »Ecole des Chartes« und Hilfsbibliothekar bei der königlichen Bibliothek, unterbreitete. Die Rechtsgültigkeit des kleinstes Wisches wurde untersucht und bescheinigt. Alsdann erst brachte der Baron seinen offiziellen Antrag vor, welcher mit Acclamation angenommen wurde. – Die strahlende Witwe schwankte kurze Zeit, ob sie die Hochzeit ihrer Tochter in Paris feiern, oder ob die großartige Ceremonie in der kleinen Kirche von Arlange stattfinden sollte. Einerseits hatte es etwas außerordentlich Verlockendes, den Hauptaltar von Saint Thomas d'Aquin mit Beschlag zu belegen und das halbe Faubourg durch die Hochzeitsmesse aus Rand und Band zu bringen; andrerseits aber galt es eine Revanche zu nehmen; ja, es war sogar von allergrößter Wichtigkeit, die letzten Spuren des Marquisats von Kerpry auszulöschen. So entschied sich Frau Benoît für Arlange, aber mit dem festen Vorsatz, sehr bald nach Paris zurückzukehren. An ihren Wagenbauer schrieb sie folgende Zeilen:

»Geehrter Herr Barnes! Ich reise am 5. Mai ab, um meine Tochter zu verheiraten, welche, wie Sie wissen, sich mit dem Marquis von Outreville vermählt. Sofort nach meiner Abreise ersuche ich Sie, meine sämtlichen Equipagen abzuholen, sie aufzuarbeiten und das beiliegende Wappen auf die Thüren malen zu lassen. Ferner bitte ich Sie, mir so schnell als möglich einen Staatswagen in altem Stil, sehr breit, sehr hoch und in der denkbar vornehmsten Form anfertigen zu lassen. Der Kutscher und die Lakaien werden weiß gepudert erscheinen; richten Sie sich mit der Zusammenstellung der Farben danach.«

Dann fiel ihr plötzlich ein, daß es ja ihre Tochter sei, die ihr die Pforten der Gesellschaft erschließen würde, und dieser Gedanke feuerte sie zu einem Ausbruch mütterlicher Liebe an; sie schrieb an Lucile, die sie nicht gerade durch eine allzu häufige Korrespondenz verwöhnt hatte:

»Mein liebes Kind, meine süße Kleine, meine angebetete Lucile! Ich habe den Mann gefunden, nach dem ich für Dich ausgeschaut habe: Du wirst Marquise von Outreville werden. Ich habe ihn unter Tausenden für Dich gewählt, auf daß er Deiner würdig sei; er ist jung, schön, geistreich, von altem und ruhmreichem Adel, mit den berühmtesten Familien Frankreichs verwandt. Liebe Kleine! Dein Glück ist gemacht, und zugleich auch das meine, denn ich lebe ja nur für Dich! Bald wirst Du in Paris sein und dieses entsetzliche Arlange verlassen haben, in dem Du wie ein schöner Schmetterling in einer schwarzen Puppe gelebt. Du wirst in den vornehmsten Häusern empfangen und gefeiert werden; ich werde Dich von Vergnügen zu Vergnügen, von Triumph zu Triumph führen. Welch ein Anblick für das Auge einer Mutter!«

Frau Benoît war beweglich wie eine Meise. Ihre Füße berührten kaum den Boden, ihr Gesicht war um zehn Jahre jünger geworden; ihr Haupt leuchtete glanzumstrahlt. Gegen den Marquis war sie so zärtlich, umgab ihn mit einer solchen Fülle von Sorgfalt, daß Gaston, der seit langer Zeit von niemand verzogen worden war, eine aufrichtige Freundschaft für seine Schwiegermutter empfand. Er war fast immer in ihrer Gesellschaft, begleitete sie überall hin und langweilte sich nicht mit ihr, obgleich sie jeder Unterhaltung über die Hüttenwerke aus dem Wege ging.

Zwei Tage vor ihrer Abreise nahm Frau Benoît ihn für den ganzen Tag in Anspruch. Zuerst führte sie ihn zu Tahan, wo sie einen langen, großen, flachen Kasten aus Rosenholz, der inwendig in verschiedene ungleiche Fächer eingeteilt war, aussuchte.

»Welchen Zweck hat dieser seltsame Koffer?« fragte Gaston beim Herausgehen.

»Es ist der Hochzeitskorb meiner Tochter.«

»Aber gnädige Frau,« erwiderte der Marquis mit dem ganzen Stolz des Unbemittelten, »ich sollte doch meinen, es wäre meine Sache –«

»So meinen Sie eben unrichtig. Wenn Sie erst Luciles Gatte sein werden, mein lieber Marquis, mögen Sie ihr so viel Geschenke machen, wie Sie wollen, vom Tage der Trauung an haben Sie freie Hand, bis dahin aber ist es meine Sache, meine Tochter zu beschenken. Ich finde die Sitte im höchsten Grade unpassend, daß ein Bräutigam seiner Braut vor der Hochzeit, also zu einer Zeit, in der er ihr noch gar nichts ist, Kleidungsstücke und Schmuck im Wert von fünfzigtausend Franken schenkt. Sagen Sie immerhin, daß dies lächerliche Vorurteile seien, jedenfalls bin ich zu alt, um mich zu ändern. Heut werden wir meine Hochzeitsgeschenke aussuchen, in vier Wochen will ich gern, falls Sie es so wünschen, Ihnen die Ihrigen aussuchen helfen.«

Am 5. Mai nahm Frau Benoît Abschied von ihrem Schwiegersohn und bestellte ihn für den 12. nach Arlange. Sie übernahm es, das erste Aufgebot in der Kirche und auf dem Bürgermeisteramt zu besorgen, während Gaston seinem Hemdenfabrikanten und seinem Schneider das Messer an die Kehle setzte.

In der bei einer Abreise unvermeidlichen Konfusion packte Frau Benoît die sämtlichen Papiere des Hauses Outreville aus Versehen in ihren Koffer.

Luciles erster Gedanke, als sie Frau Benoît wieder sah, war, daß man ihr ihre Mutter in Paris vertauscht habe.

Die hübsche Witwe war niemals so nachsichtig gewesen. Alles, was Lucile that und sagte, war gut: »Sie betrug sich wie ein Engel und was sie sprach war Goldes wert«. Niemals würde diese zärtliche Mutter im stande gewesen sein, sich von einer so vollkommenen Tochter zu trennen; sie gab sich das Wort, Lucile überall hin zu folgen, bis in den Tod an ihrer Seite zu sein, und wie in Ruths Geschichte versicherte sie ihr: »Wo du hingehst, da will ich auch hingehen.«

Lucile öffnete ihr Herz dieser neuen Mutter und erfuhr zu ihrer lebhaftesten Befriedigung, daß es sehr viel junge und schöne Marquis ohne goldgestickte Röcke gäbe.

Am nächsten Morgen nach Frau Benoîts Ankunft kam ihre Freundin, Frau Mélier, um ihr die bevorstehende Heirat ihrer Tochter Céline mit Herrn Jordy, Besitzer einer Zuckersiederei in Paris, anzuzeigen. Herr Jordy war ein sehr reicher junger Mann und Frau Mélier hatte keine Ursache, ihre Freude darüber zurückzuhalten, daß ihre Tochter so gut versorgt sei. Frau Benoît erwiderte mit der Nachricht von Luciles bevorstehender Heirat mit dem Marquis von Outreville. Man beglückwünschte sich gegenseitig und küßte sich wiederholt. Als Frau Mélier fortgefahren war, rief Lucile, die seit ihrer Kindheit mit der künftigen Frau Jordy befreundet war, freudig aus: »Wie schön sich das trifft! Wenn ich nach Paris gehe, werde ich ganz nahe bei Céline sein; sie wird zu mir kommen, ich werde sie besuchen, wir werden uns alle Tage sehen.«

»Gewiß, mein Kind,« erwiderte Frau Benoît, »wirst du Céline in deiner großen, wappengeschmückten Staatskutsche mit den gepuderten Lakaien besuchen, aber ob du sie bei dir empfangen wirst, das ist ein andres Ding. Man ist seinen Kreisen etwas schuldig und immerhin ein wenig Sklave der Gesellschaft, in der man lebt. Wenn eine Herzogin deinen Salon besucht, so schickt es sich nicht, daß sie mit der Frau eines Zuckersieders, der Frau eines Mannes, der Zuckerhüte verkauft, bei dir zusammentrifft. Das ist aber gar kein Grund, ein Gesicht zu schneiden; du kannst ja Céline vormittags bei dir sehen.«

»Gott, welch dummes Land ist dieses Paris! Da möchte ich viel lieber in meinem armen Arlange bleiben, wo man seine Freunde zu jeder Stunde sehen kann.«

»Die Frau soll ihrem Manne folgen,« erwiderte Frau Benoît sententiös.

Das große Ereignis, welches sich in Arlange vorbereitete, war bald in der ganzen Umgegend bekannt.

Da Frau Mélier gerade auf ihrer Visitentour war, um eine Heirat anzuzeigen, konnte sie ohne besondere Mühe auch gleich zwei veröffentlichen.

In jedem Hause, in dem sie Besuch machte, wiederholte sie denselben Satz, den sie sich beim Fortgehen von Frau Benoît zurechtgelegt: »Gnädige Frau, ich kenne die Teilnahme, welche Sie unsrer ganzen Familie entgegenbringen, viel zu genau, um es mir versagen zu können, Ihnen die bevorstehende Heirat meiner lieben Céline in eigner Person anzukündigen. Sie heiratet zwar keinen Marquis, wie Fräulein Lucile Benoît, aber einen ebenso schönen als guten Fabrikbesitzer, Herrn Jordy, welcher in seinem dreiunddreißigsten Jahre bereits einer der reichsten Zuckersieder in Paris ist.« Frau Mélier hatte gute Pferde; ihr Wagen und die Neuigkeiten, die sie mitbrachte, legten noch an demselben Tage zehn Meilen zurück. »Das Faubourg Saint Germain« der Provinz begann die arme Lucile zu beklagen und ergriff begierig die Gelegenheit, über Frau Benoît zu spotten, die für ihre Tochter einen zweiten Marquis von Kerpry aufgegabelt hätte. Frau Benoît vernahm alles, was über sie gesprochen wurde, ohne eine Miene zu verziehen. Sie nahm die Papiere der Familie Outreville und fuhr zu Frau von Sommerfogel, einer alten, sehr einflußreichen Baronin, mit einer scharfen Lästerzunge.

»Frau Baronin,« sagte sie mit vollendetem Respekt, »obgleich ich leider nicht öfter als zwei oder dreimal die Ehre hatte, Sie bei mir zu sehen, so haben diese wenigen Male doch genügt, mich von der Unfehlbarkeit Ihres Urteils, von Ihren enormen Kenntnissen in allen Dingen, welche die vornehme Gesellschaft betreffen, von Ihrer scharfen Beobachtungsgabe zu überzeugen. Sie wissen, daß ich das Unglück gehabt habe, von einem Diebe betrogen worden zu sein, der, ich weiß nicht wo, einen vornehmen Namen gestohlen hatte; heute bietet sich für meine Tochter eine ausgezeichnete Partie in der Person des Marquis von Outreville. Ich habe seinen Stammbaum und alle Urkunden seiner Familie bis zu einer weit zurückliegenden Epoche in Händen, aber ich bin nur eine arme bürgerliche Frau, ohne jede Urteilsfähigkeit – man hat mir das grausam genug bewiesen – und ich wage nicht mehr selbständig zu denken. Gestatten Sie, Frau Baronin, daß ich Ihnen die Akten vorlege, die mir anvertraut worden sind, damit Sie dieselben in letzter Instanz begutachten?«

Diese kleine Rede war nicht ohne Geschick; sie schmeichelte der Eitelkeit der Baronin und erregte ihre Neugier; sie kam der hübschen Witwe freundlich entgegen und übernahm mit sichtlicher Befriedigung die wichtige Aufgabe, die diese ihr anvertraute. Noch an demselben Tage erließ die Baronin ein Aufgebot an den Adel der Umgegend, und Gastons Papiere passierten vor ungefähr dreißig Landedelleuten Revue.

Das war es, was Frau Benoît bezweckt hatte. Die ärgsten Feinde der Hüttenbesitzerin wandten sich ihr wieder zu. Es fand ein allgemeines Konzert von Lobeserhebungen statt, bei dem Frau von Sommerfogel das Amt eines Orchesterdirigenten übernommen hatte.

»Die arme Frau Benoît wird nun endlich getröstet werden, ich freue mich sehr darüber, die Frau verdient es.«

»Was kann man ihr denn vorwerfen? Daß sie zum Adel gehören wollte, beweist doch nur, daß in den Augen aufgeklärter Bürgerlicher der Adel noch eine Rolle spielt.«

»Die Frau ist gar nicht dumm.«

»Und hübsch; ich weiß nicht, welch Geheimnis sie anwendet, um immer jünger zu werden.«

»Ihre Tochter ist ein kleiner Engel.«

»Wir werden sie von jetzt an oft sehen, sie gehört ja nun zu uns.«

»Das that sie schon durch ihre Erziehung. Ich höre von gut unterrichteter Seite, daß ihre Mutter stets die Absicht gehabt, sie zur Marquise zu machen.«

»Die Mutter wird nun auch zu uns gehören; eine Tochter geht nicht ohne Mutter aus.«

»Sie soll sehr reich sein.«

»Sie werden ein hübsches Haus machen.«

»Wahrscheinlich geben sie viel Gesellschaften.«

»Wir werden Einladungen zur Hochzeit erhalten.«

Am nächsten Morgen wurde Frau Benoîts Salon von einer Schar intimer Freunde überschwemmt, die sie seit zwölf Jahren nicht gesehen hatte.

Der Marquis kam am 12. Mai zur Essensstunde an. Nachdem er einige tausend Franken aufgetrieben hatte, welche ihm nur sechzig Louisdor kosteten, hatte er seine Koffer gepackt, den Baron umarmt und bescheiden die Diligence nach Nancy genommen. In Nancy nahm er die Post nach Dieuze, in Dieuze einen leichten Einspänner mit einem Postpferde, der ihn nach Arlange brachte, bei guten Wegen Sache einer Stunde. Als er sich dem Dorfe näherte, fühlte er linksseitig ein Etwas, das einem starken Herzklopfen nicht ganz unähnlich sah. Zur Schande des Gelehrten und zum Lobe des Menschen muß ich sagen, daß er nicht an das Hüttenwerk, sondern an Lucile dachte.

Eine berühmte Engländerin, Lady Montague, welche der scheinheiligen Ziererei nicht hold war, hat einmal ihre Verwunderung darüber ausgesprochen, daß der Apoll von Belvedere und ich weiß nicht, welche antike Venus, in einem Museum beisammen sein könnten, ohne sich gegenseitig in die Arme zu fallen. Es fehlte nicht sehr viel daran, daß dieser kleine Skandal bei der ersten Begegnung Luciles und Gastons stattgefunden hätte. Diese jungen Wesen, die sich niemals gesehen hatten, fühlten im ersten Augenblick, daß sie füreinander geschaffen waren. Der erste Blick machte sie zu Liebenden, das erste Wort zu Freunden; die Jugend zog die Jugend, die Schönheit die Schönheit unwiderstehlich an. Keine Spur von Verlegenheit drängte sich zwischen beide, sie sahen sich ins Auge und spiegelten sich einer in dem andern mit jener bezaubernden Naivetät, die keine Scham kennt.

Gastons Herz war beinahe ebenso unberührt als Luciles. Ihre Liebe wurde ohne jegliches Geheimnis geboren, einer schönen Sommersonne gleich, die wolkenlos aufgeht. Frau Benoît war viel zu glücklich und viel zu klug, um den Gang einer Neigung aufzuhalten, die ihren Zwecken so dienlich war. Sie überließ die Liebenden jener süßen Freiheit, zu der das Leben auf dem Lande berechtigt, und die ersten Tage des Beisammenseins waren ein langes, kaum unterbrochenes Tête-à-tête.

Lucile zeigte Gaston das Haus, den Garten und den Wald. Gleich nach dem Frühstück ritten sie aus und kamen wie Kinder, die heiter in die Schule gehen, erst nach Hause, wenn die Tischglocke längst geläutet hatte. Nach dem Walde kam das Hüttenwerk an die Reihe. Gaston hatte die Entsagung gehabt, die Werke nicht ohne Lucile zu betreten; als er nun aber sah, daß sie die Arbeit nicht verachtete, daß sie die Leute bei Namen kannte und nicht fürchtete, ihre Kleider zu verderben, war die Freude eine doppelt große; durfte er sich doch nun ohne jeglichen Zwang der Leidenschaft seiner Jugend überlassen. Er prüfte die Arbeiten, befragte die Werkführer, gab hie und da einen guten Rat und bezauberte Lucile, die über seine Klugheit und seine Kenntnisse aufs höchste verwundert war.

Wenn Frau Benoît sie beide dann gänzlich bestaubt, oder gar von Rauch geschwärzt heimkommen sah, pflegte sie zu sagen: »Wie glücklich die Kinder sind; jedes Ding wird ihnen zum Spielzeug.«

Um von ihren Anstrengungen auszuruhen, setzten sie sich ganz hinten im Garten in eine Laube von Kletterrosen und machten Pläne, Pläne für ein Leben voll Glück und Arbeit, Liebe und stiller Zurückgezogenheit. Sie gaben sich das Wort, ihr Glück in den Wäldern von Arlange zu verstecken, den Vögeln gleich, die ihre Nester im tiefsten Dickicht eines Busches oder auf den belaubtesten Zweigen alter Bäume bauen. Von Paris wurde kein Wort gesprochen; keine Silbe vom Faubourg und den eitlen Nichtigkeiten der Gesellschaft. Lucile kannte deren Freuden nicht und Gaston hatte sie vergessen.

Eines schönen Morgens teilte ihnen Frau Benoît die große Neuigkeit mit, daß heute abend der Heiratskontrakt unterzeichnet werden würde. Die Hochzeit war auf Dienstag den 1. Juni festgesetzt. Die Civiltrauung sollte abends vorher auf dem Bürgermeisteramte stattfinden.

Da es kein Vergnügen ohne Arbeit gibt, ging der Unterzeichnung des Kontraktes ein endloses Diner voran, zu dem die ganze vornehme Nachbarschaft geladen war.

In Erwartung der Gäste gingen Lucile und Gaston im Garten spazieren; er in einen leichten weißen Sommerstoff, sie in rosa Barege gekleidet. Als sie in den Bereich des Hüttenwerkes kamen, wurde Gaston von dem Inspektor angeredet, der sehr viel von ihm hielt und ihn gern um Rat fragte. Sie traten alle drei in eine der Werkstätten ein und ein interessantes Experiment wurde vor ihren Augen begonnen. Als es auf der Fabrikuhr vier schlug, eilte Lucile fort, um sich umzukleiden, während sie Gaston zurief: »Sie haben Zeit genug, das Experiment zu Ende zu sehen, bleiben Sie, ich will es!«

Er blieb und war so lebhaft bei der Sache, daß er selbst mit Hand anlegte und sich gründlich schmutzig machte.

Um fünf Uhr eilte er mit aufgekrempelten Aermeln und schwarzen Händen davon und geriet geradeswegs in eine Gruppe von Gästen, die sich in den elegantesten Toiletten im Garten ergingen. Jemand erkannte ihn und rief ihn beim Namen. Es war der Ingenieur der Salzwerke von Dieuze, der mit ihm zugleich promoviert hatte. Gaston fiel seinem Freunde um den Hals und küßte ihn auf beide Backen; dabei hielt er aber seine Hände in die Höhe, um seinen Freund nicht schwarz zu machen.

Einige adlige Damen waren zwar etwas erstaunt, daß ein Marquis das Aussehen eines Schornsteinfegers habe und einen Salzwerkbeamten auf beide Backen küßte, aber sie söhnten sich wieder mit ihm aus, als er in einem neuen Frack aus der letzten Nummer des »Journal des Tailleurs« wieder erschien.

Sein Platz bei Tisch sollte zwischen Frau Benoît und der Baronin Sommerfogel sein, allein die alte Dame hatte eine heftige Migräne bekommen, als sie im Begriff gewesen, in den Wagen zu steigen, und ihre Absage traf bei der Suppe ein. Ihr Couvert wurde herausgenommen und Gaston saß auf diese Weise neben seinem Freunde, dem Ingenieur. Er war der Mittelpunkt aller Blicke; jeder der Gäste, besonders die Deputierten des Adels, erwarteten einen freundlichen Blick, ein liebenswürdiges Wort von ihm, wie man bei Hofe ein Wörtchen des Königs zu erhaschen hofft, aber seine beiden Passionen nahmen ihn zu sehr in Anspruch, als daß er daran gedacht hätte, all die Absonderlichkeiten zu beobachten, deren Mittelpunkt seine Person war. Er hatte nur Augen für Lucile und Ohren für seinen Nachbar.

In einer Pause hörte man ihn zu dem Ingenieur sagen: »Du hast eine unterirdische Eisenbahn in deinen Salzwerken; wieviel zahlst du für die Schienen?«

»In Frankreich dreihundertsechzig Franken für tausend Kilo. Die englische Tonne, die fünfzehn Kilo mehr hält, wird franko an Bord des Schiffes, zwischen elf Pfund zehn Schilling bis zwölf Pfund fünf Schilling bezahlt.«

»Ich glaube, daß wenn man gewisse Sparöfen anwendete, deren Plan ich dir zeigen werde, man dahin gelangen würde, eine ausgezeichnete Ware weit unter dem englischen Preise zu liefern; ich denke die Tonne etwa zu zweihundert Franken, vielleicht auch noch weniger.«

»Du bist noch ganz der Alte!«

»Oh, ich bin schlimmer geworden. Habt ihr zuweilen Drahtseilbrüche?«

»Leider sehr oft. Erst vorigen Monat haben wir vier Menschen dabei verloren.«

»Ich werde dir ein Mittel gegen diese Unglücksfälle angeben.«

»Was, du hast das Geheimnis gefunden, Drahtseilbrüche zu verhüten?«

»Nein, aber ein Mittel, um die Lasten, welche die Drahtseile etwa fallen lassen, im Schacht in der Schwebe zu halten. Ich habe dies System drei Jahre lang in einer Steinkohlengrube in Saint Etienne erprobt, und wir haben keinen einzigen Unfall zu beklagen gehabt.«

Der ganze Adel des Bezirks sperrte die Ohren weit auf, und Frau Benoît war der Ansicht, daß man lange genug beim Dessert gesessen habe. Sie hob die Tafel auf. Auf dem Wege nach dem Salon flüsterten die Herren vom Adel über den Marquis: »Ein sonderbarer Edelmann, der sich die Hände in einem Hüttenwerk schwarz macht, Beamte umarmt, Maschinen erfindet und billig Schienen verkauft.«

Die Nachsichtigsten, die freilich nicht in der Mehrheit waren, versuchten ihn zu verteidigen. »Was ist denn dabei?« sagten sie, »Ludwig XVI. fertigte Thürschlösser an.«

»Ludwig XVIII. machte lateinische Verse.«

»Heinrich III. rasierte seine Höflinge.«

»Wer aber,« nahm ein gestrenger Kritikus das Wort, »hat sich damit unterhalten, Kohlen in einer Grube zu brechen?«

»Mein Herr,« entgegnete ihm einer der Nachsichtigen, »mein Vater hat zur Zeit der Emigration in Berlin Streichhölzer fabriziert.«

Frau Benoît wußte sehr genau, daß man sich über Gaston lustig machte, aber sie nahm es sich nicht zu Herzen.

»Redet nur, meine lieben Freunde,« sprach sie vor sich hin, »ich habe euch gezwungen, meinen Schwiegersohn als einen echten Marquis anzuerkennen; ihr seid hierher gekommen, um euch vor mir zu beugen; Benoît ist vergessen, ich bin gerächt. In acht Tagen reise ich nach Paris, und bis ich den Fuß wieder nach Arlange setze, werden die jüngsten von euch weiße Haare haben.«

Ehe der Kontrakt unterzeichnet wurde, holte man den Korb mit den Brautgeschenken herbei, der sämtliche Damen auf Gastons Seite brachte. Der arme Junge wurde mit Komplimenten beinahe umgebracht, und getraute sich nicht, dieselben zurückzuweisen; dagegen gelobte er sich, Lucile gleich morgen zu sagen, daß sie nicht ihm dafür zu danken habe.

Als der Notar seine Papiere auseinanderfaltete, wollte jeder der nächste sein; nicht um Luciles Mitgift kennen zu lernen, die genugsam bekannt war, sondern um nichts von der Aufzählung des Grundbesitzes und der Schlösser des Marquis zu verlieren. Die allgemeine Neugier erlitt eine herbe Enttäuschung: der Marquis von Outreville heiratete, ohne seine Güter aufzuzählen! – Am 31. Mai fand die Vermählung der beiden Liebenden auf dem Bürgermeisteramt statt, und keines von beiden zitterte in dem Augenblick, als das »Ja« gesprochen wurde.

Als der Bürgermeister, das Gesetzbuch in der Hand, zum hundertstenmal in seinem Leben wiederholte, daß die Frau dem Manne folgen müsse, machte Frau Benoît ihrer Tochter ein sehr nachdrückliches Zeichen.

Zu Hause angekommen sagte die triumphierende Schwiegermutter in Luciles Gegenwart zu dem Marquis: »Mein Schwiegersohn (denn Sie sind mein Schwiegersohn durch das Gesetz), morgen werde ich Ihnen Ihre Renten des ersten Halbjahrs auszahlen.«

»Warten Sie noch ein wenig, reizendste Mama,« erwiderte Gaston, »was soll ich mit einer so großen Summe anfangen? Das Geld,« fügte er, Lucile ansehend, hinzu, »ist meine geringste Sorge.«

»Verachten Sie das arme Geld nicht; Sie werden in wenigen Tagen in Paris mehr als genug gebrauchen.«

»In Paris! Mein Gott, was soll ich denn in Paris?«

»Festen Fuß fassen, Ihre Freunde und Verwandten aufsuchen, Anknüpfungen für den Winter und das Leben schließen.«

»Aber, gnädige Frau, ich bin fest entschlossen, nicht in Paris zu leben. Paris ist eine ungesunde Stadt, in der alle Frauen krank sind und die Familien nach drei Generationen aus Mangel an Kindern aussterben. Wissen Sie denn nicht, daß Paris alle hundert Jahre eine Wüste sein würde, wenn die Provinz nicht die Verrücktheit hätte, es immer aufs neue zu bevölkern?«

»Damit Paris nicht zur Wüste werde, haben wir beschlossen, so bald als möglich hinzugehen.«

Er wandte sich zu Lucile: »Davon haben Sie mir kein Wort gesagt!«

Lucile schlug die Augen nieder, ohne zu antworten; die Gegenwart ihrer Mutter drückte sie nieder. Frau Benoît erwiderte lebhaft: »Solche Dinge errät man, ohne daß sie erst ausgesprochen zu werden brauchen. Meine Tochter ist Marquise von Outreville, ihr Platz ist im Faubourg Saint Germain. Nicht wahr, Lucile?«

Lucile antwortete mit einem kaum hörbaren »Ja«; ihr Ja auf dem Bürgermeisteramt hatte ganz anders geklungen.

»Ihr Platz im Faubourg!« rief Gaston, der infolge verschiedener Enttäuschungen, deren Geheimnis niemand kannte, einen wütenden Haß auf das Faubourg hatte. »In das Faubourg, Sie, die Sie inmitten eines wundervollen Waldes leben, umgeben von einem Völkchen, das Sie liebt – von mir, der Sie anbetet, gar nicht zu sprechen – im Besitz eines Vermögens, das Ihnen gestattet, Menschen glücklich zu machen; einer guten Gesundheit, ohne die es kein wahres Glück gibt! Die Freuden der Familie und des Sommers, die traulichen Vergnügungen des Winters, eine Gegenwart, durch die Liebe verklärt, eine Zukunft mit kleinen rosigen Kindern bevölkert, warten Ihrer, und das alles wollen Sie gegen ein Leben voll thörichter Schmeicheleien, voll abgeschmackter Huldigungen vertauschen! Thun Sie, was Sie nicht lassen können, ich aber werde mich nicht zum Mitschuldigen einer so traurigen Veränderung machen, und wenn Sie sich für das Faubourg entscheiden, mein Fräulein, werde nicht ich derjenige sein, der Sie dort einführt!«

Frau Benoîts Gesicht bei dieser Rede glich dem eines Kindes, das sich einen Turm aus Dominosteinen erbaut hat und von dem Gebäude Stein auf Stein herunterfallen sieht. Sie war kaum im stande, Lucile zuzurufen: »So antworte doch!« Lucile aber streckte Gaston die Hand entgegen, und indem sie ihre Mutter ansah, sagte sie: »Die Frau soll ihrem Manne folgen.«

Diesmal war der Marquis weniger zurückhaltend, als der Apoll von Belvedere. Er nahm Lucile in seine Arme und küßte sie zärtlich.

Den Rest des Tages brachte Frau Benoît damit zu, Befehle zu geben und Pläne zu schmieden, auf welche Weise sie ihren Schwiegersohn nach Paris bringen könnte.

Am nächsten Morgen nach der Hochzeitsmesse nahm sie ihn beiseite: »Es ist also Ihr letztes Wort? Sie wollen uns nicht im Faubourg einführen?«

»Haben Sie nicht gehört, wie gern Lucile darauf verzichtet?«

»Aber wenn ich nun nicht darauf verzichte? Wenn ich Ihnen sage, daß ich seit dreißig Jahren (ich bin jetzt zweiundvierzig) alles daran gesetzt habe, in das Faubourg zu dringen? Wenn ich Ihnen ferner sage, daß ich Sie weder um Ihres Aeußeren, noch um Ihrer Talente willen gewählt habe, sondern einzig um Ihres Namens willen, der mir alle Thüren öffnet? Glauben Sie vielleicht, daß ich Ihnen hunderttausend Franken Rente gebe, damit Sie Ihre Zeit mit Arbeiten verlieren?«

»Verzeihung, gnädige Frau. Was zunächst den Preis eines reinen Namens betrifft, so bin ich eitel genug, zu glauben, daß der meinige mit zwei Millionen nicht zu teuer bezahlt wäre. Das kommt indes gar nicht in Betracht, da Sie mir überhaupt nichts gegeben haben. Das Hüttenwerk und der Wald sind Luciles Erbteil; die Rente, die wir Ihnen auszuzahlen haben, repräsentiert die Zinsen der Summen, welche Sie in das Unternehmen gesteckt haben, und der zweihunderttausend Franken, welche Ihnen das Haus in der Rue Saint Dominique gekostet hat. Was ich bekomme, bekomme ich also von Lucile, und mit ihr wird es mir nicht schwer werden, mich zu einigen.«

»Lucile aber haben Sie von mir bekommen,« rief die arme Frau, »und undankbar seid ihr, wenn ihr mir das Glück meines Lebens versagt!«

»Sie haben recht, gnädige Frau. Verlangen Sie von mir, was Sie wollen, ich werde Ihnen nichts abschlagen, nur das eine nicht. Ich habe geschworen, das Faubourg nie wieder zu betreten.«

»Um alles in der Welt, weshalb haben Sie mir das nicht früher gesagt?«

»Sie haben mich ja nicht danach gefragt!«

Nachdem sie Gaston verlassen hatte, sagte Frau Benoît ihrer Kammerfrau drei und ihrem Kutscher vier Worte, mit dem Marquis aber sprach sie keine Silbe mehr über seine Renten. Abends beim Tanz strahlte Lucile in Schönheit und Glück. Keine der anwesenden Frauen erinnerte sich, jemals eine so aufrichtig glückliche Braut gesehen zu haben. Alle jungen Männer beneideten Gaston. Daß niemand Lucile beneidet hätte, würde ich mir nicht gestatten zu behaupten.

Um zwei Uhr morgens hatten die Gäste sich entfernt, die jungen Eheleute waren bis zuletzt auf dem Platz geblieben, da Frau Benoît es für passend erachtet hatte, daß sie den Ball beschlössen, wie sie ihn eröffnet hatten.

Die zärtliche Mutter, deren Stirn leicht umwölkt schien, erbat die Gefälligkeit, noch ein Viertelstündchen mit ihrer Tochter plaudern zu dürfen, und führte sie in das im Parterre gelegene Brautgemach, während Gaston, um sich von dem Staub des Tanzes zu reinigen, zum letztenmal in sein kleines Zimmer im zweiten Stock hinaufstieg.

Als er die große Treppe wieder herunterkam, hörte er zu seinem Erstaunen das Rollen eines Wagens, der sich in schnellem Trabe entfernte. Er öffnete das Brautgemach – es war leer. Seidene Schuhe, zwei Ballkleider und eine Menge andrer Kleidungsstücke waren auf dem Teppich verstreut. Er klingelte, niemand erschien. Er trat auf den Hausflur; draußen traf er auf die bäurische Physiognomie des kleinen Reitknechtes Jacquet.

Er packte ihn beim Kittel: »Irre ich mich, oder habe ich soeben einen Wagen fortfahren hören?«

»Natürlich, Herr – müßten ja taub sein.«

»Wer ist denn noch so spät, nach allen übrigen Gästen fortgefahren?«

»Die gnädige Frau und das Fräulein im großen Reisewagen, mit dem dicken Pierre und Fräulein Julie.«

»Es ist gut; haben sie nichts gesagt? Nichts für mich hinterlassen?«

»Doch, gnädiger Herr, die Frau hat einen Brief für Sie hier gelassen.«

»Wo ist er?«

»Unter meinem Mützenfutter, Herr.«

»Willst du 'mal hergeben, du Esel.«

»Ich habe ihn ganz zu unterst gesteckt, um ihn nicht zu verlieren, da.«

Gaston lief an die Laterne, die im Hausflur brannte, und las folgende Zeilen: »Mein lieber Marquis, in der Hoffnung, daß die Liebe und Ihr wohlverstandenes Interesse Sie von Ihrem geliebten Arlange losreißen werden, nehme ich Ihre Frau und Ihr Geld mit nach Paris; kommen Sie, beides in Empfang zu nehmen!«


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