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Gaston zerknitterte Frau Benoîts Brief und steckte ihn in die Tasche. Dann wandte er sich zu Jacquet, der ihn dummdreist ansah und seine Mütze zwischen den Händen drehte: »Hat die Frau Marquise dir nichts aufgetragen?«
»Das Fräulein? Nein, Herr, sie hat mich nicht 'mal angeguckt.«
»Gibt es einen Richtweg nach Dieuze?«
»Ja, gnädiger Herr.«
»Schneidet er ab?«
»Eine gute Viertelstunde.«
»Sattle Forward und Indiana, aber sofort. Halt, ich werde dir helfen. Du wirst mir den Weg zeigen. Wenn wir vor dem Wagen ankommen, sollst du einen Louis haben.«
Eine halbe Stunde später hielten Jacquet im Stallkittel und der Marquis im Hochzeitsfrack vor der Post in Dieuze. Jacquet weckte einen Stalljungen und erkundigte sich, ob während der Nacht Pferde bestellt worden seien. Die Antwort lautete günstig; seit dem Abend hatte sich kein Reisender sehen lassen.
»Hier,« sagte der Marquis zu Jacquet, »sind die zwanzig Franken, die ich dir versprochen habe.«
»Gnädiger Herr,« fragte der kleine Reitknecht schüchtern, »gilt der Louis denn nicht mehr vierundzwanzig Franken?«
»Schon lange nicht mehr, du Dummkopf!«
»Mein Großvater sagte doch so. Zu seiner Zeit galten zwei Louis und vierzig Sous fünfzig Franken.«
Gaston antwortete nicht; er lauschte nach Arlange hinüber.
»Nein Herr! Ach es ist sehr traurig!«
»Was?«
»Daß der Louis auf zwanzig Franken gefallen ist.«
»Hier, du Esel, ist noch einer, und nun halt den Mund.«
Jacquet schwieg aus Gehorsam und begnügte sich damit, zwischen den Zähnen zu murmeln: »Wenn der Louis noch vierundzwanzig Franken gälte, würden diese beiden Louis und die vierzig Sous, die die Frau mir gegeben hat, zusammen gerade fünfzig Franken machen. Aber die Zeiten sind schlecht, wie mein Großvater sagte.«
Gaston hielt eine runde Stunde auf seinem Pferde.
Schließlich fing er an, sich zu ängstigen, daß dem Wagen irgend ein Unglück zugestoßen sein könne.
Jacquet beruhigte ihn.
»Es ist vielleicht möglich, Herr, daß die Damen die große Poststraße gefahren sind, ohne Dieuze zu berühren.«
»Schnell fort!«
»Das wäre umsonst, Herr, sie sind uns beinahe zwei Stunden voraus.«
»So führe mich schnell nach Hause zurück.«
Gaston fand das Haus, wie er es verlassen hatte. Der Reisewagen war nicht in der Remise und im Stalle fehlten zwei Pferde. Gastons erster Gedanke war, sich Jacquets Schweigen zu versichern und das Abenteuer seiner nächtlichen Verfolgung geheim zu halten. Er fand kein besseres Mittel, als seinen Vertrauten nach Paris zu schicken. »Geh, nimm die Diligence nach Nancy,« sagte er ihm; »in Nancy kaufe dir einen Platz nach Paris in der Rotunde Billigster Platz der französischen Diligencen.. In Paris läßt du dir den Weg nach dem Hotel Outreville, Rue Saint Dominique zeigen und bestellst Frau Benoît, daß ich in zwei Tagen nachkommen werde. Hier das Geld für die Fahrt.«
»Herr,« fragte Jacquet mit einschmeichelnder Stimme, »wenn ich den Weg zu Fuß machte, könnte ich dann das Geld behalten?«
Statt jeder Antwort erhielt er einen Fußtritt, der ihn von Arlange entfernte und ein Stück näher nach Paris brachte.
Gaston stieg halbtot vor Müdigkeit in den zweiten Stock hinauf und warf sich auf sein Bett, nicht um zu schlafen, sondern um ruhiger über das seltsame Abenteuer nachzudenken.
Luciles Flucht gerade in dem Augenblick, wo er sich ihrer Liebe am sichersten glaubte, war ihm vollständig unerklärlich. Jedenfalls war diese Abreise vorher verabredet gewesen, denn daß dieselbe in einer Viertelstunde unvorbereitet in Scene gesetzt sein sollte, erschien ihm unmöglich. Hatte Lucile aber vorher davon gewußt, dann war das ganze Wesen der jungen Frau eine einzige Lüge gewesen. Das Glück, das aus ihren Augen leuchtete, der sanfte Druck ihrer Hand inmitten des wirbelnden Walzers, die süßen Worte, die sie ihrem Gatten ins Ohr geflüstert, alles, alles wurde zu Täuschung, zu Koketterie, zu Unwahrheit. Und doch, wenn sie ihn nicht liebte, weshalb hatte sie ihn geheiratet? Es war ja leicht genug, ein Nein statt eines Ja zu sagen, ihre Mutter würde sie schwerlich gezwungen haben, da sie ihre Flucht begünstigt hatte. Gaston erinnerte sich des Streites, den er erst heute morgen mit Frau Benoît gehabt, freilich war es nicht schwer, den Aerger und die Rachsucht der Witwe zu begreifen, wie aber hatte es diese ehrgeizige Mutter angefangen, in kaum einem Tage, das Herz ihrer Tochter so gänzlich umzuwandeln? Weshalb hatte Lucile ihm kein Wort der Aufklärung geschrieben? Dieser Gedanke veranlaßte ihn, Frau Benoîts Brief wieder aus der Tasche zu ziehen; dabei bemerkte er ein Wort, das ihm beim ersten Lesen entgangen war. »Ihre Frau und Ihr Geld!« Als ob es sich um Geld gehandelt hätte! Was ist demjenigen eine elende Summe Geldes, der etwas verloren, das sich für kein Geld zurückkaufen läßt!
Gaston bildete sich, ganz mit Unrecht, ein, daß seine Schwiegermutter dies Wort nur geschrieben habe, um ihn an die bescheidene Lebensstellung zu erinnern, aus der sie ihn ans Licht gezogen, und seine gekränkte Würde empörte sich darüber.
Nachdem er den unglücklichen Brief noch einmal gelesen, überzeugte er sich, daß es eine Schande sein würde, nach Paris zu gehen; wer konnte denn wissen, ob er seiner Frau oder seinem Gelde nachliefe, und er beschloß, in Arlange zu bleiben, bis Lucile ihm geschrieben haben würde.
In Wahrheit lagen die Dinge folgendermaßen. Nachdem der Tanz vorüber, war Lucile, das Herz voll freudiger Erregung, ihrer Mutter in ihr Zimmer gefolgt. Kaum war sie eingetreten, als Frau Benoît ihr im Handumdrehen das weiße Kleid auszog, sie in ein warmes Morgenkleid hüllte und ihr einen Shawl um die Schultern warf, während Julie ihr statt der seidenen Schuhe ein Paar Stiefel anzog. Ohne Lucile Zeit zu lassen, über diesen plötzlichen Kleiderwechsel auch nur ihrer Verwunderung Ausdruck zu geben, sagte ihre Mutter, gleichfalls die Toilette wechselnd: »Gaston hat meine Bitte erfüllt, mein Liebling; wir reisen sofort nach Paris.«
»Jetzt gleich? Mir hat er noch nichts gesagt!«
»Es ist eine Ueberraschung, die er dir bereiten wollte, mein liebes Kind, denn im Grunde hast du es doch bedauert, daß du das schöne Paris nicht sehen solltest!«
»Nein, Mama.«
»Du hast es bedauert, ich kenne dich besser.«
Ein leises Klopfen an der Thür; Frau Benoît zitterte.
»Wer ist da?« fragte sie.
»Gnädige Frau,« erwiderte Pierre, »die Reisekutsche ist angespannt.«
Die Witwe zog ihre Tochter bis an den Wagen.
»Schnell, schnell, unsre Leute sind beim Tanz, wenn sie von unsrer Abreise Wind bekämen, müßten wir erst all ihre Abschiedswünsche mitanhören.«
»Aber ich hätte ihnen sehr gern adieu gesagt,« flüsterte Lucile. Ihre Mutter warf sie in den Fond der Kutsche und schwang sich nach ihr hinein.
»Und Gaston?« fragte die junge Frau, ganz verwirrt von diesem überstürzten Verfahren.
»Pierre, wo ist der Herr Marquis?«
Pierre, der seine Lektion gut auswendig gelernt hatte, antwortete ohne Verlegenheit: »Gnädige Frau, der Herr Marquis läßt das Gepäck auf den alten Wagen laden. Er bittet die gnädige Frau, ein paar Minuten zu warten.«
Von einem geheimen Instinkt getrieben, versuchte Lucile die Wagenthür aufzumachen. Aus Zufall oder Absicht ließ sich die rechte Thür nicht öffnen. Um zur linken zu gelangen, hätte sie an ihrer Mutter vorüber gemußt, und so weit ging ihr Mut nicht.
»Julie,« sagte sie, »sehen Sie doch einmal nach, was der Herr Marquis macht.«
Julie war seit fünfzehn Jahren bei Frau Benoît im Dienst; sie ging, und kam mit der Antwort zurück: »Gnädige Frau, der Herr Marquis bittet die Damen, nicht auf ihn zu warten. Es ist ein Strang gerissen, der erst ausgebessert werden muß; der Herr Marquis wird mit Vorspann nachkommen.«
In demselben Augenblick trat Pierre an die linke Wagenthür und Frau Benoît flüsterte ihm ins Ohr: »Schlage den Richtweg ein, fahre bei Dieuze vorbei, ohne zu halten, und dann rechts weiter nach Moyenvic!«
Der Wagen fuhr im scharfen Trabe davon.
Wahrhaftig, eine seltsame Hochzeitsnacht!
Frau Benoît triumphierte, daß sie Arlange verlassen und in Gesellschaft einer Marquise dem Faubourg entgegenfuhr; die arme Braut aber steckte, ohne die Nachtluft zu fürchten, den Kopf unablässig zum Fenster hinaus, hörte dem Winde zu und versuchte, die Dunkelheit mit ihren feuchten Blicken zu durchdringen.
Als sie in Moyenvic Vorspann nahmen, warf Frau Benoît die Maske ab und sagte zu ihrer Tochter: »Du brauchst dir die Augen nicht nach deinem Manne auszugucken. Du wirst ihn erst im Faubourg Saint Germain wieder sehen.«
Lucile erriet den Verrat, aber sie hatte zu große Angst vor ihrer Mutter, um anders als mit Thränen zu antworten.
»Dein Mann,« fuhr die Witwe fort, »ist ein eigensinniger Mensch, der mir abgeschlagen hat, uns in die Gesellschaft einzuführen. Es ist in deinem eignen Interesse gehandelt, daß ich ihm durchgegangen bin. Wenn er dich liebt, wird er in vierundzwanzig Stunden bei dir sein. Es ist durchaus kein Grund vorhanden, deshalb zu heulen wie Hagar in der Wüste. Ich bin deine Mutter und weiß am besten, was dir gut ist. Ich bringe dich nach Paris und befreie dich von Arlange.«
»All mein Glück ist dahin,« schluchzte das Kind, die Hände ringend.
»Worüber beklagst du dich eigentlich? Du liebst ihn, hast ihn geheiratet, bist Frau, was willst du denn mehr?«
»So also,« sagte Lucile, »sieht die Ehe aus! Ach, ich war viel glücklicher, als ich noch Mädchen war, da durfte ich Gaston doch sehen.«
Sie wurde nicht müde, auf dem ganzen Wege von Arlange nach Paris aus dem Fenster zu blicken. Es schien ihr unfaßlich, daß Gaston ihr nicht folgen sollte. In jedem Wagen, welcher den Staub der Landstraße aufwirbelte, auf jedem Pferde, das im Galopp hinter der Kutsche herkam, glaubte sie ihren Mann zu erkennen. Diese Reise, eine Quelle des Triumphs und unsäglicher Freude für ihre Mutter, war für sie eine endlose Kette von Hoffnungen und Enttäuschungen.
Als sie am Morgen nach ihrer Ankunft in Paris ihr Fenster öffnete, war das erste, was sie sah, Jacquets Gesicht. In weniger als einer Sekunde war sie unten: Gaston mußte in Paris sein! Sie erfuhr, daß wenn er auch noch nicht angekommen war, er nicht lange mehr zögern würde, und ich überlasse es dem Leser, sich auszumalen, wie sie den Boten für eine so gute Botschaft belohnte.
Während Frau Benoît noch den Schlaf der Glücklichen schlief, erzählte Jacquet die kleinsten Details der Reise nach Dieuze.
»Wie sehr er mich liebt!« dachte Lucile, und ich glaube, sie dachte laut.
»Zum Schluß muß ich Ihnen noch sagen,« fuhr Jacquet fort, »daß der Herr Marquis mir noch acht Franken schuldig ist.«
»Da hast du zwanzig, mein guter Jacquet.«
»Schönen Dank, Fräulein; ich bin zwar meiner Sache nicht ganz gewiß, aber ich glaube, daß er sie mir schuldig ist. Ich hatte ausgerechnet, daß er mir vierundzwanzig Franken schuldig wäre, und er hat mir nur zwanzig gegeben, das sind doch vier Franken zu wenig. Und dann hat er mir das zweite Mal auch nur zwanzig gegeben, das sind wieder vier Franken, und da vier und vier acht sind – aber ich kann mich ja auch irren, und wenn ich Ihnen das Geld wiedergeben soll – –?«
»Behalte es nur, mein Junge, und ruhe dich von der Reise aus.«
Sie lief in den Garten und pflückte Blumen in einer Fülle, wie zum Fronleichnamsfest, um ihr Zimmer für Gastons Ankunft zu schmücken.
Jacquet sah ihr nach und sagte vor sich hin: »Zweiundsechzig Franken sind eine schlechte Rechnung, wie mein Großvater sagte,« und er zählte an den Fingern ab, wieviel Louisdor und Vierzig-Sousstücke er noch gebrauche, um hundert Franken voll zu machen.
Dieser Tag, der nächste und eine ganze Woche gingen vorüber, ohne Nachrichten von dem Marquis zu bringen. Frau Benoît verbarg ihren Aerger, und Lucile wagte ihren Kummer nicht vor ihrer Mutter zu zeigen; aber beide hielten sich nachts dafür schadlos, wo die eine schmälte und die andre weinte. Von morgens bis abends fuhr die Mutter ihre Tochter in einem wappengeschmückten Wagen umher, aber ohne Lakaien und Puder, denn die berühmte Staatskutsche war noch in Arbeit.
Sie zeigte ihr die Champs Elysées, das Bois de Boulogne, kurz alle Orte, welche die elegante Gesellschaft besucht, um ihr Geschmack an den eitlen Weltfreuden beizubringen, in denen man in Paris schwelgen kann, wie nirgends sonst. Da die italienische Oper geschlossen war, zwang sie Lucile, die peinlichsten Abende im Théâtre français und in der Großen Oper durchzumachen. Der kleinen Marquise machte es weder Freude, zu sehen, noch Vergnügen, gesehen zu werden. Wo immer ihre Mutter sie hinführte, sehnte sie sich nach Hause zurück, in der Hoffnung, Gaston dort zu finden.
Frau Benoît ahnte eher als ihre Tochter, daß der Marquis ernstlich böse war. Da es ihr nicht an Charakter fehlte, hatte sie bald einen Entschluß gefaßt. »Oho,« sagte sie sich, »wenn mein Herr Schwiegersohn ohne uns fertig werden kann, versuchen wir unsrerseits, es ohne ihn zu werden; wir sind Marquise von Outreville, und haben überall Zutritt. Aber wo anfangen, das ist die Frage. Lucile kann nicht so ohne weiteres zu fremden Leuten gehen und sagen: ›Oeffnen Sie mir Ihre Thür, ich bin die Marquise von Outreville.‹ Aha, jetzt fällt mir etwas ein; ich werde meine Schuldner, meine guten vortrefflichen Schuldner, besuchen. Sie werden mich wohl etwas anders empfangen als das letzte Mal. Die Tochter eines Lieferanten mag man wohl hochfahrend behandeln, aber für die Mutter einer Marquise hat man denn doch andre Rücksichten.«
Ihr erster Besuch galt dem Baron von Subressac.
»Mein lieber Baron,« sagte sie, »welch einen abscheulichen Narren haben wir meiner Tochter gegeben!«
Der Baron war auf einen solchen Anfang nicht vorbereitet. »Gnädige Frau,« erwiderte er ein wenig heftig, »der Narr, der Ihnen die Ehre angethan, Ihr Schwiegersohn zu werden, ist das edelste Herz der Welt.«
»Mein Gott, wenn Sie nur wüßten, was er gethan hat. Seit acht Tagen verheiratet, hat er seine Frau bereits verlassen.« Und sie berichtete, ohne das Geringste zu verbergen, über die Ereignisse der letzten Tage.
Nachdem sie ihre Erzählung beendet, ergriff er ihre beiden Hände und sagte vergnügt: »Sie haben recht, Kleine, der Marquis ist ein arger Bösewicht: er hat wie Menelaus seine Gattin verlassen.«
»Herr Baron, Menelaus ist Helena gefolgt, und ich bleibe bei meiner Ansicht, daß ein Mann, welcher seine Frau fortgehen läßt, ohne ihr zu folgen, sie verläßt.«
»Glücklicherweise ist die Sache weniger ernst, da ich keinen Paris am Horizont sehe. Sie werden Ihre Tochter ihrem Manne zurückführen, das ist Ihre Pflicht; was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Die Kinder lieben sich, und das Glück wird ihnen nur um so süßer erscheinen, da es ein wenig verzögert worden ist. Sie werden Zeuge ihrer Freude, ihrer Liebe sein, und ehe zehn Monate um sind, wette ich, daß Sie mir eine Neuigkeit mitzuteilen haben werden.«
Die hübsche Witwe streckte die Hand aus und machte mit dem Zeigefinger eine kleine horizontale Bewegung, die so viel sagte als »Niemals«.
»Ja, aber was glauben Sie denn, daß daraus werden soll?«
»Kann ich auf Ihre Freundschaft zählen, Herr Baron?«
»Habe ich sie Ihnen nicht schon bewiesen, Kleine?«
»Und ich werde sie Ihnen niemals vergessen. Wenn Sie mich nicht im Stiche lassen, kann ich mich auf immer von diesem Herrn von Outreville lossagen. Was verlange ich denn von Gott und den Menschen? Die Aufnahme in das Faubourg. Was braucht's, um mich dort einzuführen? Nichts, als daß Lucile im Faubourg empfangen werde. Sie hat alle erdenklichen Rechte dazu, es fehlt ihr nur jemand, um sie vorzustellen. Würden Sie dies Amt übernehmen?«
»Unter keiner Bedingung. Erstens kommt diese Ehre weit mehr einer Baronin als einem Baron zu, zweitens will ich mich nicht dazu hergeben, Gastons Glück noch länger hinauszuschieben, und drittens würde Ihnen mein guter Wille nicht das Geringste helfen; Ihre Frau Tochter hat unzweifelhaft das Recht, sich überall einführen zu lassen, denn sie ist Gastons Frau. Als Gastons Frau wird sie bei allen Bekannten ihres Mannes, das heißt also bei unserm ganzen Kreise die Thüren offen finden, aber glauben Sie, daß ich Ihre Tochter besonders glücklich einführen würde, wenn ich sie etwa folgendermaßen vorstellte: ›Meine Herren und Damen, Sie lieben und schätzen den Marquis von Outreville, Sie sind seine Verwandten, seine Freunde, gestatten Sie mir, Ihnen seine Frau vorzustellen, die nicht mit ihm leben will?‹ Glauben Sie mir, Kleine, ich spreche aus fünfundsiebzigjähriger Erfahrung; eine junge Frau macht niemals einen guten Eindruck ohne ihren Mann. Ich kenne Gaston lange genug, um Ihnen vorhersagen zu können, daß wenn Sie ihn hier erwarten, Sie lange auf ihn warten können. Gehen Sie nach Arlange zurück und seien Sie nicht stolzer als Mohammed, der zum Berge ging, weil der Berg nicht zu ihm kam.«
Der Rat war gut, aber Frau Benoît richtete sich nicht danach. Sie besuchte noch etliche andre ihrer Schuldner. Jedermann wußte um die Heirat ihrer Tochter, aber niemand sprach den Wunsch aus, sie kennen zu lernen. Von dem Marquis war viel die Rede; er wurde überall als ein Ehrenmann geschildert; sein Geist wurde gepriesen, seine Zurückgezogenheit und Misanthropie allgemein bedauert, auch fragte so mancher, ob er den Winter in Paris zuzubringen gedächte.
Vergebens versuchte die Witwe die Bitte, die sie an Herrn von Subressac gerichtet, wieder aufs Tapet zu bringen, sie konnte keinen Anfang finden. Trotzdem ließ sie die Hoffnung nicht fahren und nahm sich fest vor, wieder auf ihre Aufgabe zurückzukommen. Im übrigen blieb ihr noch eine Zuflucht, ein Rettungsanker, den sie bis zuletzt aufsparen wollte: die Gräfin von Malésy. Die Gräfin stand am tiefsten in ihrer Schuld, folglich hatte sie von ihr das meiste zu erwarten. Sie war eine hübsche, kleine, sechzigjährige Person, der man nicht mehr und nicht weniger nachsagte, als daß sie kokett und gefräßig sei, eine zügellose Neigung fürs Spiel habe und mit förmlicher Wut das Geld aus dem Fenster werfe.
Frau Benoît sagte sich mit vollem Recht, daß eine Person, deren Tugendpanzer so viele Blößen zeige, nicht unverwundbar sein könne und daß es nicht schwer sein dürfte, so oder so bis zu ihrem Herzen zu gelangen.
Während Frau Benoît ihre nutzlosen Besuche machte, hatte sich die reizende Marquise von Outreville in ihrem Zimmer eingeschlossen, um folgenden Brief an ihren Mann zu schreiben:
»Wie geht es Dir, Gaston? Wann wirst Du kommen? Du hast doch versprochen, uns zu folgen! Wie konntest Du es zehn Tage lang ohne mich aushalten? Als wir noch in unserm lieben Arlange zusammen waren, konntest Du es nicht übers Herz bringen, mich auch nur eine Stunde lang zu verlassen. Mein Gott, wie langsam die Stunden in Paris schleichen! Mama schilt fortwährend auf Dich, aber wenn sie nur Deinen Namen nennt, entsteht ein solcher Tumult in meinem Herzen, daß ich gar nicht höre, was sie sagt. Sie behauptet, Du hättest mich verlassen; Du wirst Dir denken können, daß ich kein Wort davon glaube. Denn schließlich bin ich doch nicht häßlicher geworden, seitdem Du vor mir auf den Knieen lagst, und wenn ich auch älter geworden bin, so ist es doch nicht viel. Noch ist nicht alles zwischen uns zu Ende, das letzte Wort ist noch nicht gesprochen und ich fühle, daß ich Dir noch ein Glück zu geben habe.
»Seit ich Dich nicht mehr habe, bin ich ganz stumpf und elend. Denke Dir nur, daß es Augenblicke gibt, in denen ich glaube, daß ich gar nicht Deine Frau bin und daß die schöne Trauung in der Kirche und der Ball, auf dem wir so glücklich waren, nichts als ein zu früh entschwundener Traum sind. Kein Traum aber war der Kuß, den Du mir gegeben hast. Ich bin seit meiner Geburt viel geküßt worden, aber kein Kuß ist mir bisher so bis ins tiefste Herz gedrungen. Wahrscheinlich, weil er von Dir kam. Alles an Dir hat so etwas ganz Besonderes, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll; Deine Stimme zum Beispiel hat einen viel einschmeichelnderen Klang als irgend eine andre, niemand hat noch so ›Lucile‹ zu mir gesagt wie Du. Weshalb bist Du nicht bei mir, liebster Gaston? Ich würde Dir so gern den Kuß zurückgeben, den Du mir gegeben hast. Das wäre doch kein Unrecht, nicht wahr, da ich doch Deine Frau bin? Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie sehr Du mir fehlst. Wenn ich mit Mama ausgehe, suche ich Dich in allen Straßen; alles, was ich bis jetzt in Paris gesehen habe, ist das, daß Du nicht da bist. Abends schließe ich Deinen Namen in mein Gebet ein, morgens wenn ich aufwache, sehe ich mich um, ob Du nicht bei mir bist. Ist es möglich, daß Du mich vergessen haben könntest, während ich doch so viel an Dich denke? Vielleicht bist Du mir böse, daß ich Dich so plötzlich verlassen habe, ohne Dir lebewohl zu sagen. Ach, wenn Du wüßtest! Ich bin ja nicht abgereist, Mama hat mich förmlich entführt. Ich glaubte, Du würdest uns einholen, Mama, Pierre und Julie hatten es doch gesagt. Ich habe schrecklich geweint, als ich erfuhr, wie häßlich man mich belogen hatte. Seitdem würde ich den ganzen Tag weinen, wenn ich mich nicht zusammennähme; aber ich verbeiße meine Thränen, erstens, um keine Schelte zu bekommen, und zweitens, damit Du mich nicht mit roten Augen wieder findest. Du darfst mir nicht böse sein, daß ich Dir nicht früher geschrieben habe, aber Du hattest mir ja sagen lassen, daß Du kommen würdest, und wenn man jemand erwartet, schreibt man ihm doch nicht. Jetzt werde ich Dir so lange schreiben, bis ich Dich wieder sehe. Ich habe nicht besonders viel Ehrgeiz, denn ich kritzele wie eine kleine Katze und weiß nicht, wie man einen Satz richtig schließt. Das kommt daher, weil ich niemals an jemand geschrieben habe; ich hatte weder Onkels noch Tanten noch Pensionsfreundinnen. Komm! Laß das Hüttenwerk Hüttenwerk sein; solange wir getrennt sind, gehen uns alle Geschäfte der Welt nichts an.
»Ich werde Dich mit Mama aussöhnen, unter der Bedingung, daß sie alles thut, was Du willst, und daß sie niemals etwas Unangenehmes von Dir verlangt. Sei ganz ruhig; wenn Dir der Aufenthalt in Paris ebensowenig gefällt wie mir, werden wir nicht lange hier bleiben. Aber wenn Du nicht kommst, was soll ich dann thun? Es würde ganz leicht sein, zu fliehen, sobald Mama allein ausgeht, aber ich kann den weiten Weg doch nicht ganz allein machen! Wenn Du es aber willst, komme ich und lasse mich von Jacquet beschützen. Aber eine innere Stimme sagt mir, daß Du mich nicht bitten noch warten lassen wirst; denke nur an zwei kleine rote Hände, die sich Dir sehnsüchtig entgegenstrecken!«
Frau Benoît kam zurück, während Jacquet diesen Brief zur Post trug.
»Hast du dich nicht gelangweilt so ganz allein?« fragte sie.
»Nein, Mama,« entgegnete die Marquise.