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Balzacs Codices vom eleganten Leben

Wir sind eigentlich gewohnt, die seelische Persönlichkeit eines Dichters um so besser zu erfassen, je mehr wir in seine Werke eindringen. Die Balzacs aber wird in dem Maße rätselhafter, als wir mehr und mehr Bücher und Dokumente über ihn erhalten; weil sein Genie nicht so sehr durch die Intensität seiner einzelnen Bücher zur Unbegreiflichkeit sich steigert, sondern durch die Vielfältigkeit, den ganz ungeheuren Umkreis seiner Gestaltungsmöglichkeiten, diesen Kosmos von Geschehnissen aller Zeiten, dieses Kompendium aller Sitten, Gebräuche, Anschauungen und Konventionen zum Rätsel wird. Die Summe von bewältigtem Lebensmaterial in seinem Werk ist absolut unvergleichlich mit der jedes andern Künstlers. Balzac hat alles gewußt, was sein Gedächtnis und auch nur im Fluge gestreift hat, ja noch mehr, mit einer geheimnisvollen Intuition Dinge geschildert, die genau zu kennen ihm versagt sein mußte und deren Wesenheit er dank dieses genialen Spürsinns doch besser als alle Fachleute und Miterlebenden wiedergab.

Dafür ist dieses auferstandene Buch von der eleganten Welt wieder ein neues Beispiel. (Balzac hat tatsächlich nie Zeit, nie Gelegenheit gehabt, elegant zu sein (er sagt ja selbst in diesem Werk: »Der Mensch, der einmal an die Arbeit gewöhnt ist, kann das elegante Leben nie erfassen«). Als junger Mensch, ein kärglicher Student, war er ausgeschlossen durch die Armut, durch die Qual eines jämmerlich kleinen Berufs, der ihn tagsüber in eine Advokatenstube, abends und nachts in ein ärmliches Studierzimmer einschloß; damals hatte er kein Geld, um elegant zu sein, und später, als die großen Honorare kamen (um freilich rasch in nichts zu verrinnen), fehlte wieder die Muße, denn ein Werk nach dem andern nagelte ihn an den Schreibtisch hilflos an. Er hatte keine Zeit zur Eleganz und – daß er sie so meisterlich zu erklären und zu rechtfertigen versteht, darf nicht als Gegenbeweis gelten – auch kein Talent. Kein Talent, schon rein körperlich: dick, massig wie er war, mit seinem breiten, starken Nacken, der jeden Kragen zersprengte, seinem roten Gesicht und den derben Metzgerfingern. Seine Zeitgenossen wissen nichts Sonderliches von seinem persönlichen Geschmack zu berichten, im Gegenteil: Balzac verstieß gegen das oberste Gesetz, das er selber in diesem seinem Buch aufgestellt, gegen die Unauffälligkeit. Zu Hause trug er phantastische Kostüme, das berüchtigte Mönchsgewand, dieses allerdings mehr aus Eitelkeit, denn er hatte es eigens so wie die Frauen in den hoffnungsvollen Monaten als eitlen Schutz gegen seine Leibesunförmigkeit erfunden. Im Theater liebte er knallende Westen zur Schau zu tragen und jenen berüchtigten gigantischen Stock mit dem im Riesenknauf verborgenen Porträt der Madame de Hanska, den später Oscar Wilde erwarb. Man sagte ihm nach, daß er diesen Stock eigens trug, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; das mag Pariser Gehässigkeit sein, aber jedenfalls war Balzac weit entfernt von einem Lebemenschenideal, und irgendwo in seinem Werke entschuldigt er sich dafür, indem er dem Künstler als einzigem verstattet, willkürlich der Mode Schach zu bieten.

Diese eigene Unfähigkeit zur Eleganz beweist aber gar nichts gegen sein Verständnis. Balzac hat die divinatorische Gabe der vollkommenen Rechtfertigung, er ist ein Dialektiker, der jedem Menschen von seinem Standpunkt aus recht zu geben weiß, dem Geizigen wie dem Verschwender, dem Arbeiter und dem Träumer, dem energischen wie dem schwachen Charakter, und sein merkwürdiges Talent neigt überdies dazu, jede dieser gelegentlichen Ansichten gleich systematisch zu verdichten. So hat er auch hier mit dieser raschen Art theoretischer Improvisierung ein System der Eleganz begonnen, so wie ein paar Jahre vorher eines der Liebe, so wie die merkwürdige, noch nicht ganz ausgedeutete Theorie des Willens in Louis Lambert, und die tausend einzelnen Axiome in seinen Werken, die alle irgendwie Handgriffe sind, mit denen eine sichere Faust ein System aus dem Wirrwarr der Meinung hervorziehen könnte. Ihm selber fehlte zur Möglichkeit einer absoluten Weltanschauung oder eines starren Systems überhaupt die interessierte Parteinahme. Balzac war irgendwie selbst ganz aufgelöst in seinem Werke, er war fromm mit seinen Frommen, atheistisch mit seinen Gottesleugnern, elegant mit seinen Dandies und rustikal mit seinen Bauern: er verlor sich so ganz in seinen Gestalten und ihren Meinungen, daß von ihm selber kaum etwas übrig blieb. Und nichts wäre gefährlicher (Fred hat das geschickt vermieden), als irgendeine seiner Anschauungen, auch die über die Kunst, ganz als die seine nehmen zu wollen. Er hätte immer sophistisch mit gleicher logischer Meisterschaft das Gegenteil behaupten und festlegen können.

Man betrachte daraufhin dieses Buch (das ja allerdings künstlich, aber mit viel ordnendem Geschmack und schöpferischem Fleiß von W. Fred aus einzelnen Aufsätzen Balzacs zusammengesetzt ist. Es hebt mit einem Pathos an, als ob für Balzac die Eleganz die wichtigste Sache auf Erden sei. In Wirklichkeit war, das wissen wir ja, sie ihm persönlich indifferent; aber Balzac war nichts mehr indifferent, sobald er sich damit zu beschäftigen begann und am Schreibtisch saß. Dazu gesellt sich rasch der merkwürdig verallgemeinernde Trieb, der ihm einen Gegenstand nie vereinzelt erscheinen ließ, sondern in schnell arbeitenden Gedankenreihen ihn geschwind zu einer Welttheorie formte. Balzac wollte einmal Romane schreiben, es wurde die ›Menschliche Komödie‹ daraus, ein Werk, das sämtliche Stände, Berufe, Neigungen seiner Zeit umfassen sollte. Er wollte Notizen über die Liebe verfassen, es wurde ein System daraus, und auch hier sind solche rudimentären Ansätze zu einem System des Weltmanns, das sogar mit einer gewissen Ironie die Wichtigkeit des Themas durch Nachbildung der streng wissenschaftlichen Form betont. Wie in Spinozas Ethik, so gibt es hier Axiome, Beweise, Definitionen und Konklusionen. Und wirklich, es gelingt ihm ein Anschein realen Systems, so leicht, mit so spielerischer Hand es auch gebaut ist, verlockend durch die rasende Leichtigkeit der Diktion, durch das blendende Feuer der Axiome, die wirklich wie Diamanten unzerbrechlich flimmern, und man muß sich nur rechtzeitig erinnern, daß Balzac auch den russischen Feldzug, dem er nie beigewohnt hatte, die Landschaften von Syrien, die spanischen Kämpfe mit prachtvoller Plastik geschildert hat, ohne jemals ernstliche Studien über diese Länder gemacht zu haben, um begreifen zu können, wie es möglich war, daß er, der Unelegante, der Einsame, der ewige Arbeiter ein so vortrefflicher »Elegantologist« war.

Man muß, ich sagte es schon, die verschiedentlichen Theorien dieses »arbiter elegantiarum« nicht gar zu ernst nehmen wollen. Man darf nicht vergessen, daß im letzten Grunde diese Apologien der Eleganz nur aus unbefriedigter, unzulänglicher Sehnsucht entstanden sind, nämlich um die Mittel zum zureichenden Leben, ein paar schöne Honorare für Zeitschriftenartikel zu erlangen, daß hier von Eleganz geschrieben wurde, um selbst Eleganz zu zeugen. Die Zusammenstellung als Buch ist ja nur eine nachträgliche, eine künstliche, aber eine künstlerische. Ich finde es von W. Fred außerordentlich klug, daß er jene entzückende ›Petites misères de la vie conjugale‹, dies aufrichtigst-ärgerlichste aller Ehemannsbücher hier aufgelöst hat, weil es ja gewissermaßen das Innenleben dieser leichten Durchschnittsexistenzen gibt, deren gutbeschneiderter Außenfläche alle diese Theorien gelten. Denn, das ist eine der hübschesten Erkenntnisse Balzacs in diesem Buch, man darf die Eleganz nicht als etwas Äußeres nehmen. Eleganz verlangt Seele, ja sogar Bildung. »Man muß mindest sein Abiturium gemacht haben, um ein elegantes Leben führen zu können«, heißt ein Axiom, und Balzac meint damit, daß das rein Äußerliche, das viele an der Eleganz verachten, nur ein Reflex bestimmter seelisch verfeinerter Zustände sei. Das Kleid ist für ihn ein Uhrzeiger des Charakters. Blättert man seine Romane durch, so wird man merken, welchen Wert er als schaffender Künstler der Kleidung zuspricht. Ehe er einen Menschen zu beschreiben beginnt, befaßt er sich mit seiner Kleidung, inwieweit sie der Mode gehört, spürt den Flecken und den Rissen in seinem Mantel nach, er schätzt seine Ausgaben ab und gleichzeitig das Geschick, mit dem er sie bestreitet. Wie oft in der ›Comédie humaine‹ schildert er den Unterschied zwischen einem neuen oder rasch auf Glanz gebügelten Hut, und einmal läßt er in den ›Verlorenen Illusionen‹ den geschmacklosen Frack des Louis de Rubempré ihm sogar zur Katastrophe werden. Balzac liebt den Dandy, weil er eine Menschenklasse für sich ist und ihn jede Spezies des Irdischen, sobald sie zum Typus wird, in die Schilderung hinreißt. Und so hat er auch dem armen alten Brummell, dem berühmtesten Gecken, hier ein Denkmal gesetzt, das alle Daten und Anekdoten und Schilderungen über ihn reichlich aufwiegt. Es ist einer der reizvollsten Artikel dieses entzückenden Buches und verdiente sehr bekannt zu werden.

Überhaupt, dies Buch strahlt mit Funken, es verlockt einen nach rechts und links, schmeidigt einem die Nerven durch sein elektrisches Spiel mit Worten und Meinungen. Bekommt man es in die Hand, ohne etwas von Balzac zu wissen, so vermutet man irgendeinen genialen Lustspieldichter als Autor dahinter, einen Beaumarchais oder Molière, irgendeinen, der das Leben nur als Farce betrachtet und mit einer ungeheuerlichen Leichtigkeit und seligen Schwebe des Empfindens zu erfassen weiß. Und da erkennt man wieder die unendliche Verwandlungsfähigkeit Balzacs, sich selbst mit dem Stoffe zu verändern, leicht zu werden an den leichten Dingen, tragisch an den verworrenen, bedeutsam in seinen philosophischen Erörterungen, jene geheimnisvolle Seelenlosigkeit der ganz Großen, die, wie bei Shakespeare, das Göttliche und Unbegreifliche des vollendeten Künstlers darstellt.

W. Fred, der ja mit seinen eigenen Werken über die ›Lebensformen‹ anscheinend absichtslos ein bedeutsam Kulturelles will, irgendwie die Deutschen von der Schwere und Langweiligkeit zu erlösen, hat sich mit dieser Zusammenstellung ein großes Verdienst erworben. Er hat den Deutschen an einem vollendeten Beispiel gezeigt, wie man leicht sein kann, ohne oberflächlich zu werden, theoretisch scheinen, ohne in einem Wust von Papier zu ertrinken, und vor allem, daß es auch einem großen Künstler ansteht, manchmal nicht ganz ernst zu sein und mit den Dingen zu spielen, die er sonst ethisch zu werten und in leidenschaftliche Gegensätze zu bringen gewohnt ist. Einen zweiten Band hat er uns versprochen: wir erwarten ihn ungeduldig.


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