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Rilkes ›Neue Gedichte‹

Ein Essay wäre vielleicht noch zu wenig, ein Buch könnte es bereits sein, wollte man getreulich die merkwürdige und durchaus organische Entwicklung Rainer Maria Rilkes in seinen Gedichten gewissenhaft verfolgen. Es gibt heute schon eine jüngere Generation, die aufwuchs in der Bewunderung seiner Anfänge und, trotz aller wachsenden Ansprüche, stets aufs neue von seinem veränderten Werke befriedigt, in unveränderlicher Treue bei der alten Verehrung beharrt. Von allen deutschen Dichtern der jüngsten Epoche hat sich keiner zuverlässiger, keiner überraschender und keiner glücklicher entwickelt als Rilke – wenn wir Richard Dehmel aus dem Spiel lassen wollen, der in unserer Lyrik ja eine Rolle selbstverständlicher Überlegenheit hat, wie etwa Gerhart Hauptmann in der Dramatik. Das Geheimnis dieser Entfaltung liegt außer in der Intensität der spezifisch lyrischen Begabung bei Rilke in der unerhört gewissenhaften Konsequenz, mit der er jeden inneren Fortschritt bis zum Extrem getrieben, jeder Errungenschaft ihre letzten Folgerungen abgezwungen hat.

Bewunderungswert ist diese üppige Entfaltung aus so schmächtigem Beginn. Anfangs, in den schlanken kleinen Heftchen des Siebzehnjährigen und Achtzehnjährigen, die, längst nicht mehr im Buchhandel erhältlich, nur bei seinen treuesten Bewunderen sich finden, bot er Gedichte, wie sie nicht gerade selten sind (und besonders seitdem), kurze Strophen, sich leise wiegend in ihrer Melodie wie Blüten im ersten Winde, zarte farbige Stimmungen, von einer sanften Musik leicht getragen, bunter Schmetterlingsflug, zart und vergänglich wie diese. Dann kam die Zeit einer größeren Sorgfalt für das einzelne Wort, für »die armen Worte, die im Alltag darben«, und dann für den seltsamen, den verschlungenen, den oft wiederholten Reim, den er mit unglaublicher Virtuosität handhabte. Und immer mehr dehnte er die Grenzen der Dichtung über die Nachbargebiete aus. Betont und klingend durch den Reim, fluteten die Gedichte langsam über in Musik. In ›Mir zur Feier‹ waren viele Verse, in denen der Sinn aufflog vom Wort, um ganz dem Rhythmus, dem Gesang die Stelle zu geben, Gedichte, die gehört werden wollen wie ein Lied und nicht durchforscht auf ihren Sinn. Bis in das Äußerste, bis in das Unmögliche hinein ist hier der Übergang ins Musikalische gebahnt worden; und dann, nach diesem äußersten Erfolge, wandte sich Rilke wieder dem Worte zu, aber nun nicht seiner äußeren Gestaltung, sondern seiner inneren Färbung. Im ›Buch der Bilder‹ ist dieses »Reifen durch Vergleiche«, dies eminent malerische Vermögen, ein nacktes Wort zu umkleiden, den nackten Begriff gewissermaßen zu kolorieren durch ein Bild, die von Musik bereits beflügelten Strophen nun auch bunt sein zu lassen wie Schmetterlinge oder Paradiesvögel, sie, die schon Gesang hatten und Flug, nun auch mit allen Farben der Wirklichkeit zu schmücken, diese eigenartige neuromantische Kunst, Vollendung geworden. So hat er von jeder Phase seines Fortschreitens in die nächste einen Gewinn mitgenommen, so ist sein sinnvoller Aufstieg immer gewichtiger und bedeutsamer an Gehalt. Und so eingedrungen ist die Musik in seine Verse, so stark ihre bildnerische Kraft, daß er in diesem letzten Buche, das mehr schon der Plastik gehört als der lyrischen Malerei und Musik, bei einigen Gedichten zum ersten Male den Reim abzutun wagt, der bisher die fast charakteristischste Eigenart, das rollende Vehikel seiner Verse gewesen.

Das neue Buch ist so ungemein reich, so über jeden Begriff farbig, so überraschend in den Motiven, daß es müßig wäre, sich an einzelnem zu versuchen. Nur im Gesamten soll es betrachtet sein und da wieder nur, inwiefern diese neue Linie ansetzt an die alten und wie sehr sie den inneren Kreis dichterischen Erlebens erweitert. Rilkes anfangs so zärtliche Stimme ist stark geworden in diesem Buch. Selbst der Bibel harter Ton ist dem Melodiker nicht mehr zu herb. Zu Flöte und Violine ist hier kräftig die Fanfare gesellt, zu den sanften Aquarellfarben der starke Meißel des Bildners. War ihm früher ein Gedicht ein Einfangen aus der Flut großer Gefühle, ein abgelauschter Ton großer Harmonien, ein leicht Genommenes von einem Überfluß, ein nur zufällig nach unten ins Leben Niedergebeugtes, so ist es hier ein Wirkliches, ein einzelner kleiner Augenblick, herausgearbeitet aus der Umlagerung, ein singuläres Ding, wie ein Tropfen spiegelnd gegen den Himmel gehalten, ein Gegenstand, den eine Sekunde ganz mit dem Leben seiner Umwelt bereichert, ein Splitter Alltag, eingefügt an seine Stelle im Ungeheuren. In die toten Dinge ist eine Bewegung gebracht, die erschreckend und fast gespenstisch wirkt. Durch den geheimnisvollen Mechanismus der Bilder in Bewegung gesetzt, beginnen sie sich zu rühren, wie die Schatten in den Nächten Bewegung zu haben scheinen, sie trinken eine Lebendigkeit um sich aus dem Menschen, der sie ansieht, werden organisch und beseelt, willenskräftig und schicksalsträchtig. Totes beginnt zu erwachen, Unfaßbares jählings Hände entgegenzureichen. Da ist der alte Platz in Furnes. Ein lebloses Beisammensein von Häusern. Aber bei Rilke

»Ladet der Platz zum Einzug seiner Weite
Die fernen Fenster unaufhörlich ein,
Während sich das Gefolge und Geleite
Der Leere langsam in den Handelsreihn
Verteilt und ordnet. In die Giebel steigend
Wollen die kleinen Häuser alles sehn,
Die Türme voreinander scheu verschweigend,
Die immer maßlos hinter ihnen stehn.«

Jedes Ding ist erschöpft und bis in die letzte Fiber hinein ausgedeutet in Vergleichen. Rilke hat wie Hofmannsthals Held verlernt, »die Dinge einfach schon zu fühlen«. Und nur als Bilder begreift er sie, als ein stetes Aneinandererinnern der Dinge, und so wird das ganze Leben um ihn ein ungeheurer Zusammenschluß, ein ewiges Sicherläutern, ein wechselseitiges Ineinandergreifen. Nichts kann dem Dichter einzeln oder bedeutungslos sein, der es immer schon ganz unbewußt in Beziehung zu den anderen Dingen sieht, der eine geheimnisvolle Durchsichtigkeit des Wesenhaften besitzt, so daß er Farbe, Ton, Geste und Geschichte von Menschen und Dingen losschälen kann wie Blätter, sie einzeln anordnen und schichten nach seinem Willen. Mit diesem beispiellos intensiven Betrachten umreißt er nicht mehr die Gegenstände, sondern er dringt in sie ein, durchmeißelt sie, und nicht mehr der Malerei ist nun seine Kunst genähert, sondern der Plastik. Und wie Rilke Plastik empfindet, mag sein Buch über Rodin bezeugen, dem er durch viele Monate als Sekretär zur Seite stand, von dem er dieses letzte Geheimnis gelernt zu haben scheint, auch im kalten Stein noch Licht und Schatten, Farbe und Bewegung ordnend zu verteilen, ohne Kolorierung polychrom zu sein, nur durch den inneren Rhythmus bewegt, durch die Reinheit der Linie allein melodisch.

Und auch hier ist schon wieder dieses Bestreben bis zum Äußersten gebracht. Auch hier scheint mir ein tieferes plastisches Eindringen nicht mehr möglich und Rilke in manchen Versen vielleicht schon hinaus über die Grenzen der rein dichterischen Kunst. In seinem Wollen ist etwas von der Ungenügsamkeit der verwegenen Alpinisten, die nur noch die nie erstiegenden Gipfel reizen. In drei oder in vier Büchern hat Rilke schon ein immer verschiedenes Äußerstes erreicht, und seine Umkehr war immer ein Beladensein mit Neuem und Niegekanntem. Und so wird auch sicherlich dieser Weg wieder in ein Neues und vielleicht noch Wunderbareres führen, in dem diese unerhörte Plastik – hier noch Selbstzweck – wieder nur Mittel sein wird einer intensiveren Gestaltung und einer neuen Annäherung zu neuen Vollendungen.


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