Heinrich Zschokke
Die Prinzessin von Wolfenbüttel
Heinrich Zschokke

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10.
Die Großfürstin an die Gräfin Julie B.

Petersburg, den 5. Oktober 1715.

Das erste Opfer meiner wiedergekehrten Kräfte wird Dir, geliebte Julie, gebracht . . . vielleicht ist's auch das letzte; und wär' es so, o so klage nicht, sondern wünsche Deiner Freundin Glück, daß sie bald ihr Ziel errungen!

Die gute Königsmark hat Dir meine Krankheit und deren Ursachen gemeldet. Du weißt, daß mir nach dem Leben getrachtet wird . . . ich aber weiß, daß es mir endlich unmöglich wird, den Nachstellungen meiner Meuchelmörder zu entrinnen. Und wer bürgt mir dafür, daß nicht jetzt schon wieder ein langsames Gift durch meine Adern schleicht?

Niemand als die Königsmark, du und meine bekannten Mörder wissen von dem schrecklichen Ereignis. Einer meiner Köche ist seitdem unsichtbar geworden. Ich will ihn nicht verfolgen; den Bösewicht verfolgt die Erinnerung seiner That.

Ich fühle das nahe Ziel meiner Laufbahn. Ich sehne mich nach ihm. Ein solches Leben zu verlieren ist Gewinn.

O Julie, wie umgewandelt ist alles, seit wir beide voneinander schieden! Ach, hätte ich's damals ahnen können, ich wäre im Schoße meiner schönen Heimat gestorben! Ausgerüstet mit Sinn für jede Schönheit der Natur, entzückt von jedem kommenden Frühling, schon durch jene rührenden Schilderungen begeistert, welche Reisende uns von der Majestät der Alpen, von dem Zauberlande Italien gaben, sehnte ich mich mit unaussprechlicher Begierde, nur einmal jenen Wundergarten des Erdballs sehen zu dürfen – mein Wunsch blieb unerfüllt. Die willenlose Fürstentochter ward auf ewig in die kalten, traurigen Wildnisse der entlegensten Enden unseres Wertteiles verbannt. Mit einem Herzen, welches voll Schwesterliebe sich an jedes Wesen schloß, und nur Liebe forderte, verwies mich das Schicksal zu Halbbarbaren, die nur rohe Triebe kennen und mich nicht verstehen. Ich sehe sie für Mord und Hader eifrig, und nur vergnügt, wenn berauschende Getränke ihren Verstand verwirren. Noch sind sie von den umherschweifenden Tartaren durch nichts verschieden, als daß sie zur Kenntnis eines geringen Teils vom Luxus des gebildeten Europas gelangt sind . . . Könnte ich auch die Beherrscherin dieser Wilden sein, ich zöge doch den Stand der ärmsten Unterthanen im freundlichen Deutschland vor.

Ich mußte abbrechen. Meine Kräfte verließen mich. Aber ich ergreife die Feder wieder, um Dir Lebewohl zu sagen. Dies Blatt soll der stumme Zeuge meiner Treue sein, mit der mein Herz sich an Dich knüpft, bis der Tod es bricht. Leider ist es nur ein letztes, unverständliches Stammeln . . . ein Beweis meines Absterbens, vor dem ich selbst erschrecken möchte. Denn in mir glühen noch tausend Gefühle; ich möchte sie Dir noch nennen, aber ich bin gelähmt. Ich zeichne nur tote, kalte Worte auf dies heilige Blatt. Mein Winter beginnt.

Glaube mir, Julie, ungeachtet meiner Jugend scheide ich ohne Kummer von der Lebensbühne, wo ich überall Dornen fand, Mißtöne hörte! Ich klage nicht mit diesen Worten den Schöpfer an, sondern die Thorheit der Menschen, welche die Ordnung der Schöpfung verwirren. Aber diese Thorheit, ist sie nicht wieder eine traurige Notwendigkeit in der Natur? Führt der Weg zur Wahrheit nicht immer erst durch die Gänge des Irrtums? War's nicht Werk und Wille der Natur, daß der Mensch unermüdlich sein mußte, sein Glück zu erweitern; und war's beim Mangel seiner Erfahrungen seine Schuld, wenn er unter den Mitteln falsch wählte?

Der Mensch, im Stande der Natur, ohne Entwickelung seiner schlummernden Kräfte, Begierden und Leidenschaften, fast noch ein Tier mit wenigen Erinnerungen und Hoffnungen . . . und der Mensch in seiner höchsten Vollendung, wo er mit gebildetem Geist, ausgebreiteten Kenntnissen und erhabenen Gefühlen die einfachen Gesetze der Natur wieder lieb gewinnt und die Herrschaft zerstört hat, welche die gesetzgebende Leidenschaft übte . . . nur diese sind glücklich. Alles, was zwischen diesen beiden wandelt, die ungeheure Masse der Halbwilden . . . und von den Ufern des Tajo bis zum Ladoga-See giebt es nur diese Halbwilden . . . ist elend durch Verirrungen, durch Unnatürlichkeiten, durch Widersprüche seiner Begierden und Anordnungen mit den unbeugsamen Geboten der Natur.

Ach, Julie, vielleicht verstehst Du mich kaum! Ich deute nur aus der Ferne auf meine Todeswunden.

Erhebe Dich mit mir über das rege Getümmel der armen Sterblichen und beobachte ihr Wirken und Treiben! Was erblickst Du? . . . Sieh', überall Seufzer, überall Thränen, überall Sorge und Kummer! Wie sind der Glückseligen so wenig! Sie leben nur einzeln und einsam und hüten sich wohl, zu viel Berührungspunkte mit der Welt zu haben.

Darüber herrscht nur eine Stimme, daß der Glücklichen wenige sind; ja, die Leidenden kennen sogar die Ursache ihres Elends. Aber wer wagt den großen moralischen Aufruhr, welcher die Welt von ihrem Jammer befreit? Wer hat Mut genug, die Fesseln abzuwerfen, die ihn hindern, einzutreten in sein Paradies? Wer kündigt dem altersgrauen, allmächtigen Vorurteil den Krieg an und stiftet Versöhnung zwischen dem entarteten Menschengeschlecht und der Natur?

Mustere die selbstgeschaffenen Verfassungen und Einrichtungen der Sterblichen . . . sind es nicht Werke der vernunftwidrigsten Begierden? . . . Mustere ihre Heiligtümer, vor denen sie anbetend knieen: sind es nicht wahnwitzige Vorurteile?

Um ihren Götzen angenehm zu sein, trennen sich Männer und Weiber und entsagen mit blutendem Herzen den heiligsten und schönsten Gefühlen; verdammen sich zu ewigem Kerker in Klöstern, zu Arbeiten, welche weder dem Himmel frommen, noch der Erde, und die Mächtigen des Erdballs schirmen die Barbarei, vor der der rohe Naturmensch, wie der vollendete Weise schaudert . . . und nennen es ein heiliges, gottgefälliges Leben.

Andere, um sich Wohnungen in den Gefilden einer bessern Welt zu bereiten, bezeichnen ihre Bahn zum ewigen Leben mit Strömen Bruderbluts. Den Dolch in der Hand und Gott auf den Lippen, verfolgen sie den Mitbürger, der ihren Glauben oder ihre Hirngespinste nicht teilen will. Selbst da, wo Völker sanftere Sitten angenommen haben und Religionskriege verabscheuen, erröten sie nicht, mit christlichem Erbarmen Andersgläubige zu hassen und sie, so weit ihre Macht reicht, von den Rechten der bürgerlichen Gesellschaft auszuschließen.

Ein unersättlicher Ehrgeiz erfand die erblichen Vorrechte und Nachteile der Geburt . . . Menschen, aus demselben Stoffe gebildet, in dasselbe Vaterland gestellt, zu demselben Wohl und Weh erkoren, trennen sich in ihrem Wahnsinn, wie Wesen fremder Art, verachten oder verehren sich, als könnte es nicht anders sein. Der Edelmann blickt mitleidig auf den Bürger, der Graf auf den Edelmann, der kleine Fürst auf den Grafen, der König auf den Fürsten herab, und jeder nennt es Entwürdigung, sich mit demjenigen zu verbrüdern, an dessen Wiege ein geringerer Titel hing. Dennoch nennen sich alle, Königin und Bäuerin, Taglöhner und Kaiser Kinder Gottes, und vor ihm gleich, werden sie im Grabe auf gleiche Weise zu Staub und lassen alle ihre Titel diesseits des Grabes zurück.

So ist das Menschengeschlecht durch unzählige Schranken, bald durch Meinungen, bald durch Reichtum und Armut, bald durch selbstgeschaffene Vorstellung von Ehre und Schande, bald durch weiße und schwarze Hautfarbe, von einander geschieden, vereinzelt, ohne Liebe, ohne Freuden, stets im Widerspruch und in größerer Erwartung.

O, Julie, Du begreifst nicht, was und warum ich Dir dies sage! . . . Aber lies es oftmals, und vielleicht steigt Dir aus den Trümmern dieser Gedanken eine schöne Ahnung entgegen, wie ein Geist aus dem Grabe, der Dich einst tröstet, und Dir die Thränen vom Auge trocknet, die ich Dir nicht trocknen darf.

Wenn ich nur einmal, ach, Julie! nur noch einmal Dich sehen könnte! . . . Es ist mein letzter Wunsch, den vielleicht keine Hoffnung krönt. Ich wollte meine bleichen Wangen an Dein Herz legten, und mit dem Gedanken an die schönen Tage meiner Kindheit sterben und zur neuen Kindheit des zweiten Lebens übergehen.

Weine nicht, meine Einzige! . . . Früher oder später, wenn die Gewalt des Himmels nicht meinen Willen bricht, werde ich wieder vor Dir erscheinen . . . nicht ich selbst, aber mein Geist! Er soll zu Dir reden, ach! und vielleicht werde ich Deine Erwiderungen vernehmen! . . . Zweifle immerhin an dieser Geistererscheinung: aber einst will ich Dich an mein Wort erinnern.

Lebe wohl! . . . Vergiß Deiner Freundin nicht. – Der Gedanke an Deine Liebe soll mir den letzten, schweren Kampf erleichtern, und in einem seligern Leben zu den ersten meiner Freuden gehören.

Lebe wohl! . . . Immer werf' ich das Blatt hin, immer nehm' ich es wieder, und die Größe meines Schmerzes hindert mich, Dir zu sagen, was ich leide. Liebe mich ewig! . . . Geister werden nicht getrennt.

Noch eins, geliebte Julie, muß ich Dir sagen! Betrachte, was ich Dir anvertraue, als ein heiliges Vermächtnis Deiner Freundin! . . . Es sind nun . . .

11.
Die Gräfin Königsmark an die Gräfin Julie B.

Petersburg, den 9. November 1715.

Wenn ich, was schon ganz Europa durch Trauerboten und Zeitungen erfahren hat, Ihnen erst jetzt melde, meine teuerste Frau Gräfin . . . o, so verzeihen Sie es meinem traurigen Gemütszustande, meiner Verwirrung, meinem unermeßlichen Schmerze! Ich will Ihnen weder diesen schildern, noch Sie trösten. Die hochselige Fürstin, die wie eine Heilige lebte, wie eine Heilige starb . . . sie ist wohl des Opfers unserer Thränen wert. Nur einige nähere Umstände ihre Todes, dessen Zeugin ich war, darf ich Ihnen nicht verschweigen.

Am 22. Oktober ward ich zur verewigten Großfürstin gerufen. Ihre längst erwartete Niederkunft war schon erfolgt. Sie hatte einen Prinzen geboren, der in der Taufe den Namen Peter, und den Titel eines Großfürsten empfing. Die Nachricht von dieser Geburt erfüllte ganz Petersburg mit Freude. Nie sah man Seine Majestät den Kaiser so vergnügt. Nur ein einziger Mensch mischte seine Stimme nicht in den allgemeinen Jubel, und dieser einzige Gefühllose war . . . o, Sie erraten ihn wohl!

Aber die öffentliche Freude ward bald durch die Nachricht vom Übelbefinden der Großfürstin getrübt. Sie wurde das Opfer ihrer langen Leiden. Als sie die Annäherung ihres Todes empfand, verlangte sie nur noch den Zaren zu sehen. Sie dankte ihm für seine väterliche Huld, nahm auf ewig Abschied von ihm und ihren Kindern, die sie mit Thränen benetzte. Sie empfahl beide dem Kaiser und übergab sie dann dem Thronfolger, ihrem Gemahl. Dieser nahm die Kinder mit sich in sein Gemach, und kehrte nicht mehr zu seiner sterbenden Gemahlin zurück, verlangte sogar nicht einmal Nachricht von ihrem Befinden, sondern begab sich auf eins seiner Landhäuser.

Die Ärzte wollten die Fürstin noch überreden, einige Arznei zu nehmen; sie rief aber mit heftiger Bewegung: »Beunruhigt mich nicht länger! Laßt mich in Ruhe sterben; ich habe keine Ursache mehr zu leben!«

Sie gab am 1. November ihren Geist auf. Auf ihr ausdrückliches Verlangen wurde ihr Leichnam nicht geöffnet und einbalsamiert, sondern in aller Stille begraben. Eben dies befahl auch ihr Gemahl, der Großfürst, welchem der Todesfall durch Eilboten gemeldet worden war. Am 7. November wurde die Totenfeier in der Hauptkirche mit all dem Pomp und den Ehrenbezeigungen begangen, welche ihrem erhabenen Range gebührten.

Der schreckliche Tag, an welchem ihr Gemahl sie mit Schlägen und Fußtritten so abscheulich mißhandelt, und sie ohnmächtig und im Blute schwimmend verlassen hatte – ich weiß nicht, ob Ihnen die Hochselige jemals von solchen Ereignissen, die leider öfters geschahen, geschrieben hat – und jener Vergiftungsversuch, welcher nur durch ihre Jugendkraft und die schnelle Hilfe der Ärzte vereitelt ward, haben ohne Zweifel den größten Anlaß zu ihrem frühen Tode gegeben. Sie war kaum einundzwanzig Jahre alt.

Ich enthalte mich aller Bemerkungen über diese Begebenheiten, durch welche die Tochter eines der edelsten Fürstenhäuser Deutschlands der Roheit eines Unmenschen preisgegeben, und eine Prinzessin von den seltensten Vorzügen des Geistes und Herzens, mit deren Schönheit und deren Tugenden keine an allen europäischen Höfen wetteifern durfte, unverzeihlich grausam hingeopfert ward.

O wie elend ist das häusliche Leben der Großen, während die Menge des unwissenden Volks, vom Glanz des Äußeren geblendet, sie wie beneidenswürdige Halbgötter anstaunt! – Welche Verbrechen muß oft der Purpur bedecken, welchen Abscheulichkeiten dient oft die fürstliche Krone zum Schilde gegen das rächende Urteil der Welt! . . . Könnte das Auge eines frommen Bettlers in die schwarzen Geheimnisse manches mächtigen Hauses dringen, er würde schaudernd sich zu seinen vertrockneten Brotrinden wenden, und mit dankbarem Blicke seinen Bettelstab segnen!

Unter den nachgelassenen Papieren der seligen Großfürstin fand ich noch einen langen, unvollendeten Brief, den sie bei ihrem Leben für Sie, meine teuerste Frau Gräfin, bestimmt hatte! Ich lege ihn, als ein köstliches Denkmal treuer Liebe, diesem Schreiben bei.

Wir wollen mit Wehmut das Andenken der erhabenen Dulderin ehren, und über ihrem Grabe den Bund der Freundschaft schließen.

12.
Der Chevalier d'Aubant an Laurent Bellisle.

Paris, den 7. November 1715.

Wie sehr, geliebter Bellisle, rührt mich Ihre beispiellose Freundschaft . . . Wahrlich, eine That, wie die Ihrige, gehört heutiges Tages zu den schönen Fabeln . . . Sie treten mir und meinen möglichen Nachkommen die Hälfte Ihres großen Vermögens ab; schenken mir das prächtige Landgut bei Bordeaux, das Ihnen die letzte Erbschaft zuwarf, und fordern für dies alles nichts, als meine Einwilligung.

Ich konnte, denn ich war allzu bewegt, ich konnte mich nicht enthalten, Ihren Brief, diese köstliche Urkunde menschlicher Herzensgüte, einigen meiner Verwandten vorzulesen. Alle waren – nicht berührt, sondern erstaunt. Sie wünschten mir Glück. Hat der Mann Kinder? fragten andere. Allerdings, und zwar einen Sohn und eine Tochter! erwiderte ich. Nun war die Verwunderung noch größer. Ein alter, kinderloser, sehr begüterter Vetter schüttelte bei dem allen den Kopf, als dürfte er dem Märchen nicht trauen. Er that hundert Fragen über Sie, und alle hundert, wie ich endlich merkte, zielten zuletzt nur dahin, zu erfahren, ob Sie nicht dann und wann an Geistesschwäche oder Blödsinn litten.

Sehen Sie, mein Bellisle, so unglaublich ist Ihre That den gewöhnlichen Menschen! Alle diese Leute bilden sich dennoch ein, zu wissen, was Freundschaft sei. Es giebt unter ihnen einige Herren, welche Dichterwerke gelesen haben mögen, sich sogar über den Mangel wahrer Freunde beklagen, und zarte und große Empfindungen bei den Menschen zu den Seltenheiten zählen. Aber daß sie irgend einen, der ihnen lieb ist, beobachten sollten, ob und wo er leide; daß sie einen Teil ihres Vermögens, nur einen geringen, daran wenden sollten, den, welchen sie lieben, in glücklichere Verhältnisse zu setzen: das fällt diesen zarten, erhabenen Seelen weder wachend noch schlafend ein. Sie schreiben Ihnen die gefühlvollsten Briefe, sie schwören Ihnen Treue in Not und Tod; sie nennen jeden ihren eigenen Feind, der Sie zu kränken wagt; sie schwören hoch und teuer, ihr Blut für Sie hinzugeben, wenn die Not es verlangt; sie wollen ihres eigenen Lebens nicht achten, wenn es darauf ankommt, Sie glücklich zu machen . . . Aber, mein Lieber, nur kein Geld müssen Sie erwarten, und wenn ein paar hundert Louisd'ors Sie von der Hölle und vom Tode loskaufen könnten! – Alle bilden sich auch gutmütig genug ein, wirkliche Freunde zu sein, und wahre Freunde zu haben; es erinnert sich aber wahrlich keiner von ihnen, weder ein großes Werk der Freundschaft ausgeführt noch erfahren zu haben.

Doch kein Wort mehr von diesen armen Sündern, die, wenn sie eine Erzählung von edlen Freunden in einem Buche lesen, oder dieselbe auf der Bühne dargestellt sehen, entzückt in die Hände klatschen, oder sich wehmutsvoll die Augen rot weinen, in der Wirklichkeit aber nicht den hundertsten Teil ihrer Güter an die Erhaltung eines treuen Herzens wenden möchten.

Ja, mein geliebter Bellisle, ich danke Ihnen! Ihr Geschenk ist mehr wert, wenigstens achte ich es höher, als wenn Sie selbst das Leben für mich geopfert hätten. Deuten Sie meine Worte nicht übel! Man wird viel leichter Menschen finden, die, hingerissen von einer schönen Schwärmerei gegenseitiger Zuneigung, ihr Leben für einander lassen, als eine Zahl solcher, die ihr Hab' und Gut, oder auch nur einen namhaften Teil desselben, einem Freunde schenkten. Jede Schwärmerei, selbst wenn eine ihrer geheimen Quellen die Eigenliebe gewesen wäre, vergißt bald ihres dunkeln Ursprunges, und sie erstickt die niedrige, gefräßige Selbstsucht. Das Geldzählen hingegen verlangt kaltes Blut, da kommt die Selbstsucht wieder zu Wort und spricht so nachdrücklich, und rechnet so lange, bis die schon dem Freunde gewidmeten Geldsäcke in den eigenen Kasten zurückkehren. Dann besinnt sich der zärtliche Freund auf irgend eine schön klingende Redewendung; weint auch, wenn es nicht zu vermeiden ist, eine bittere Thräne der Wehmut an Ihrer Brust, und klagt die Grausamkeit des unerbittlichen Verhängnisses an.

Und nun, geliebter Bellisle, zum Schluß meines ewigen Geschwätzes noch eine Bitte! Ihre Güte enthob mich aller Nahrungssorgen, und setzte mich in den Stand, meinem Range, meinen Verhältnissen gemäß, sogar mit einigem Aufwande leben zu können. Aber ich würde im Besitze dieses Geschenks weniger glücklich sein, als ich's jetzt bin . . . erlauben Sie daher, daß ich's Ihnen zurückgebe, ohne Gebrauch davon zu machen. Ich behalte nichts, als die ewige Verbindlichkeit, Ihnen dankbar zu sein . . . ach, daß ich's sein könnte.

Zürnen Sie mir nicht, daß ich Ihre Gabe zurückweise! Wenn das Bedürfnis mich drückte, ich würde mich ohne Zaudern an Sie wenden, und fordern; ich würde Ihr Eigentum als einen Teil des meinigen ansehen, so wie ich nichts besitze, was nicht Ihnen gehört.

Aber ich stehe noch in der Blüte des Lebens; ich fühle meine Kraft, und bin noch nicht der Mittel beraubt, mir so viel zu erwerben, als ich für die Sorgenfreiheit späterer Jahre bedarf. – Und ein Bäumchen von unserer eigenen Hand gepflanzt, gewährt uns ein höheres Vergnügen, als ein ganzer Wald, den uns der Zufall schenkt.

Und – warum soll ich's Ihnen verbergen? – ich liebe Sie zu sehr, als daß ich's ertragen könnte, von Ihnen in den schönsten Beweisen der Freundschaft überwunden worden zu sein. Ich fürchte, Sie weniger lieben zu können, wenn ich Sie als meinen Wohlthäter ehren muß. Nichts darf das Gleichgewicht unserer Freundschaft stören, keiner erhaben über dem andern stehen, wenn wir nicht die zarten Gefühle auslöschen, welche bisher unsere Herzen erwärmten.

Und nun noch ein seltsames Abenteuer!

Vorgestern, als ich durch den Hof des Louvre ging – es war schon spät und Dämmerung – nahm mich ein Bekannter mit sich in ein in der Nähe gelegenes Kaffeehaus. Ich fand da ein großes Gewühl. In allen Zimmern waren die Spieltische besetzt. Ich ging von einem zum andern. »Kennen Sie den Rotrock da?« fragte mein Bekannter, und deutete verstohlen auf die Seite. Nicht weit von mir stand ein kleiner, breitschulteriger Mann, in scharlachenem Überrock, dessen Farbe gegen die pechschwarzen, ungepuderten Haare, und das bleiche, starkknochige Gesicht grell abstach. Er sah den Spielern gelassen in die Karten. »Ich kenne ihn nicht!« gab ich zur Antwort. – »Er verläßt Sie nicht mit seinen Augen!« sagte mein Bekannter. Ich achtete darauf nicht weiter, ließ Punsch geben und trat ins Nebenzimmer. Da fand ich wieder den Rotrock und bemerkte wirklich, daß er mich von Zeit zu Zeit scharf mit seinen vorragenden großen Augen anblickte. Mir behagte weder der Mensch, noch sein Blick. Ich eilte in den Billard-Saal: auch da war der Rotrock. Ich stellte mich vors Kaminfeuer. Mein widerlicher Beobachter pflanzte sich neben mir auf. Ich spann ein Gespräch mit ihm an; seine Sprache verriet den Ausländer. Ich würde ihn der Aussprache nach für einen Engländer gehalten haben, wenn er nicht ein so widriges Zigeunergesicht gehabt hätte. Er antwortete mir meistens sehr einsilbig. Nach einer Weile zog er plötzlich die Uhr heraus, drehte sich zu mir und sagte: »Die Gemahlin des Großfürsten, die Prinzessin von Wolfenbüttel, ist gestorben!« – Ich erstarrte, indem er die Worte sprach. Er wandte sich von mir. Ich suchte ihn in dem Gewühl. Er war verschwunden. Auch hatte ihn keiner von allen gekannt, welche gegenwärtig waren; jeder sagte, er habe ihn diesen Abend zum ersten Male gesehen. Ich eilte sogleich zum Sekretär der russischen Gesandtschaft, den ich genau kannte. Ich teilte ihm, noch zitternd vom Schreck, die entsetzliche Neuigkeit mit; ich fragte um Bestätigung oder Grundlosigkeit. Er lächelte, und sagte: Die letzten Kuriere melden das Wohlbefinden der Großfürstin und daß ihre Niederkunft täglich erwartet werde.

O, ich war bei diesen Worten selig, wie ein Gott! Was konnte aber der Rotrock für eine geheime Absicht dabei haben, mir das abscheuliche Märchen aufzubürden? Und wenn er mich, wie es doch sein muß, gekannt hätte, woher wußte er das Geheimnis meines Herzens, und was ich für die göttliche Christine empfinde?

Doch der fade Spaß ist schon vergessen. Ich wünsche Ihnen, solche Zigeuner selbst im Traume zu sehen!

Paris, den 18. Dezember 1715.

Wenn keiner Ihrer lieben Briefe seit sechs Wochen von mir beantwortet wurde, o, so verzeihen Sie mir . . . ich gehörte mir selbst nicht an; ich war die Beute eines grenzenlosen Schmerzes, welcher mir endlich mit wohlthätiger Gewalt das Bewußtsein raubte! Ich hatte mit fürchterlichen Fiebern zu kämpfen. Heute ist's der dritte Tag, daß ich das Bett auf einige Stunden verlassen darf. Mit matter, zitternder Hand kann ich Ihnen meine Genesung melden. Dank sei es dem braven Arzt, der mit mir in demselben Hause wohnt, und dem Beistande meines treuen Claude!

Sie lebt nicht mehr! O, Bellisle, die Einzige, die Göttlichste unter den Weibern . . . sie lebt nicht mehr!

Tadeln Sie nicht meinen unmäßigen Schmerz! Nur wenn ich mich ihm ganz überlasse, wird [er] mir erträglicher.

Ich mag, ich kann Ihnen nicht erzählen, was ich litt, seit ich die unglückliche Zeitung in die Hand nahm, und die ausführliche Nachricht vom Tode der Großfürstin las; wie ich an Claude's Arm bewußtlos über die Straße nach meiner Wohnung zurücktaumelte, wie ich da entkräftet zusammensank und bald alle Besinnung verlor.

Seit ich Christinen in ihren väterlichen Hainen zum ersten Male gesehen, lebte ich, atmete ich nur für sie. In meinem Wesen war eine wunderbare Veränderung vorgegangen; die ganze Welt war mir um dieses ihres schönsten Schmuckes willen reizender, und jede Erscheinung der Natur bedeutungsvoller geworden.

Sie mir in dem Glanze unaussprechlichen Liebreizes zu denken, sie mir in den wichtigern Augenblicken meines Lebens gegenwärtig zu denken, im Hintergrunde aller meine Träume auch den beseligendsten schimmern zu sehen, einst wieder in Deutschland oder Rußland mich ihrem Hofe nahen, in ihren Diensten leben zu dürfen . . . das alles war mir zum Bedürfnis geworden, und zur Bedingung meines Handelns und Denkens, wie das Leben selbst.

Liebe – was man im Umgange mit Frauen Liebe nennt – war meine Empfindung nicht. Es war ein unendliches Entzücken in der Erinnerung des Heiligsten und Schönsten, was je in den Wunderkreis der Schöpfung trat.

Und nun mußte ich alle meine Hoffnungen so plötzlich erlöschen sehen, und an das Bild meiner Heiligen den Gedanken an das Vergängliche knüpfen, an Tod, an Verwesung . . .

Ach, Bellisle, die große Verwandlung ist mit mir geschehen. Der Lenz meines Daseins liegt vernichtet hinter mir, und vor mir der ewige Winter. Glanz und Anmut sind aus der Natur verschwunden; ich lebe für nichts mehr, als für den zögernden Tod.

Daß ich diese Stunde und diesen Zustand erleben mußte, daß meine Täuschungen von mir gerissen wurden, wie ein Schleier, der mir meine und des Lebens Erbärmlichkeit bisher so wohlthätig verbarg! . . .

Die Schöpfung mit ihren Herrlichkeiten ist ein entsetzliches Gähren, welches Geburten neben Geburten, wie einen flüchtigen Schaum auswirft, der wieder in sich selbst zusammenfällt. Wo hast Du, Natur, im weiten Reiche Deiner Geheimnisse einen einzigen Balsam für die ewige Wunde eines Herzens, das Du selbst so fühlend schufst? Warum rufst Du meinen Namen in die dunkle Welt toter Stoffe und Keime, und mich selbst aus dem stillen, bewußtlosen Nichts in's Leben? Kannst Du einen einzigen Schmerz, den wir dulden müssen, mit Deinen tausend Freuden bezahlen?

Furchtbare, eiserne Herrschaft der Natur, die, weil sie es will, uns zu leben befiehlt, statt nicht zu sein; uns zwischen Dornen und Rosen wirft, und uns tötet, wenn sie es will.

Paris, den 3. Januar 1716.

Es kann sein, lieber Bellisle, wie Sie sagen, daß mein letzter Brief noch einen sehr fieberhaften Puls verrät! . . . Ihre gute Laune ist unüberwindlich! Ihre Einfälle beleben mich wieder. Ich will alles versuchen, mich in meine ehemalige Heiterkeit zurückzukünsteln: ich will mich mit Gewalt in Täuschungen werfen, und den Rest meines Lebens, wie in einem Rausche, verbringen; denn wahrlich, dem Nüchternen ist dies armselige Dasein nicht wert, genossen zu werden! Das fühlen alle Menschen, sobald sie dem verworrenen, nebelhaften Kindesalter entwachsen sind, und deutlicher zu sehen und zu denken beginnen. Woher entspränge auch sonst wohl der Hang der Nationen, durch Wein, durch Biere, gebrannte Wasser, Opiate und betäubenden Tabak ihre Sinne auf längere und kürzere Zeit zu verwirren? Es muß doch eine sehr allgemein empfundene Wollust sein, die Welt, diese langweilige Prosa, nicht zu genießen, wie sie uns aufgetischt ward.

Europa gefällt mir nicht; ich suche mir einen neuen Weltteil zur Wohnung; auch wäre es mir gleichgültig, wenn ich der Robinson eines unbewohnten Eilandes würde. Was ist am Ende daran gelegen, wohin mein Staub fällt! Ich lebe; und es wird eine Zeit kommen, wo ich nicht mehr bin.

Sie werden sagen: Ändere Dich, aber nicht den Weltteil! Der alte Gemeinspruch hat an mir sein Recht verloren. Ich bin frei; warum soll ich bei Schlafenden wohnen, wenn ich wachen . . . bei läppischen Buben, wenn ich ernst sein will? Mich ekelt Europa mit seiner halben Kultur an. Ich will unter Weisen, oder einfältigen Kindern der Natur leben; beide sind gleich liebenswürdig, weil sie einfach, wahrhaft, ungeziert einhergehen. Die Völker unseres Weltteils befinden sich noch in den Knabenschuhen, sind linkisch, widerspruchsvoll und reich an unreifer Schulweisheit, wie Knaben. Jeder scheint. Niemand ist.

Mein Handel mit dem Schiffskapitän de Blaizot ist im Reinen. Ich verlasse Europa und gehe nach Louisiana. An den schönen Ufern des Mississippi will ich meine Wohnung bauen, und das Oberhaupt einer kleinen Kolonie werden, die mich zu ihrem Führer gewählt hat. Es sind sechs Handwerksleute, welche auf eigene Kosten nach Nordamerika gehen wollen; diese treten in meine Dienste. Schon habe ich in Bordeaux ansehnliche Bestellungen zum Ankauf von allerlei Samen, Vieh, Acker- und Hausgerät gemacht. Künftigen Monat reise ich von Paris ab, und im März schiffen wir uns ein.

Glauben Sie nicht, daß ich, wie tausend Andere, dahin eile, um Schätze von edlen Metallen zu sammeln! Mögen sie für mich noch manches Jahrtausend in Frieden ruhen; ich werde ihrethalben keines Indianers Ruhe stören. Keine Leidenschaft, außer derjenigen, welche Religionseifer erzeugt, ist so fürchterlich – Alles verheerend, ist grausamer in ihren Mitteln, nichtiger in ihren Zwecken, als der Durst nach Gold. Millionen Menschen wurden seine Schlachtopfer; Millionen zogen über entlegene Meere und verdarben elend in den Wüsten fremder Weltteile unter ihren Hoffnungen, Die Unglücklichen! Und wenn sie nun Haufen Goldes zusammengescharrt und nach Europa zurückgeschleppt hätten, wären sie froher, glücklicher, reifer gewesen? Konnten sie mehr, als ihren Hunger stillen, sich gegen Frost und Hitze in Kleider hüllen und sanft schlafen? . . . Was ist eine Tonne Goldes neben einem siechen Körper? Was ist ein ganzes Goldland neben einem krankenden Herzen?

Nein, darum verlasse ich den vaterländischen Boden nicht! Ich sehne mich nach einem schönern Leben. Ich will der Stifter einer glücklichen Gesellschaft werden, welche durch Arbeitsamkeit blühend, durch Unterricht weise, durch bürgerliche und religiöse Freiheit kraftvoll und beneidenswürdig sein soll. Ich werde mich tief in das Innere des Landes hineinbegeben, fern von den Pflanzstätten habsüchtiger Europäer und von den beunruhigten Meeresküsten. Ich werde Verträge mit meinen indianischen Nachbarn schließen, und unsere einfachen Bündnisse sollen heiliger sein, als die sogenannten ewigen Frieden arglistiger Politik der Europäer.

Sivray, den 20. Februar 1716.

Von den reizenden Ufern der Charente, schon neunzig Stunden von Paris entfernt, schreibe ich Ihnen. Die ersten Blumen des jungen Frühlings sollen mich vom Boden fremder Inseln anlächeln; nichts wird mich zurückhalten, wäre auch ganz Frankreich voll Zauber, wie eine Feenwelt.

Vielleicht erstaunen Sie, Geliebter, mich entfernt von der gewöhnlichen Straße, in einem armen, unbedeutenden Städtchen rasten zu sehen! Sie haben Recht. Sie werden noch mehr erstaunen, wenn ich Ihnen sage, daß ich schon seit neun vollen Tagen diese Gegenden nach allen Richtungen durchkreuze, wie ein Jäger, der die Fährte eines kostbaren Wildes verfolgt. Aber – lächeln Sie nur immerhin – mich umgibt überall Zauberei. Ich weiß nicht mehr, ob ich träume, ob ich wache, ob ich rase? Die übernatürlichen Dinge werden zur Wirklichkeit: meine Träume verkörpern sich, und Engel, die ich in den Entzückungen meiner Einbildungskraft sehe, schweben auf Erden als menschliche Wesen an mir vorüber.

Von meinem Claude begleitet, verließ ich die Hauptstadt. Meine Seele wandelte schon in jenen Gefilden am Mississippi, welche mit Griechenland, Persien und China unter gleichem Himmelsstrich liegen. Ich sah mich dort schon umgeben von meinen Hütten, meinen Pflanzungen, meinen Heerden in philosophischer Einsamkeit; sah meinen Garten mit allen Blüten geschmückt, welche der ewige Lenz des Südens streut, und sah im dunkelsten Heiligtum meiner selbstgepflanzten Gebüsche das Denkmal, welches ich der angebeteten Fürstin weihen wollte . . . Sie ist nicht mehr, aber ich bin noch, und bin und atme nur für sie. Ich werde sie beweinen, so lange meine Augen Thränen haben; ich kann das Unvergeßliche nicht vergessen, und keine Freude der Welt gilt meinem Herzen soviel, als die stille, hoffnungslose, immer rege Sehnsucht nach ihr.

So kamen wir nach Poitiers. Hier machte ich Rasttag, um einen alten Kriegsgefährten, den Obersten Brouin, im Vorbeigehen zu besuchen. Es war morgens. Ich fand ihn nicht zu Hause. Ein Lohnbedienter führte mich durch die Stadt umher, mir die Merkwürdigkeiten und Altertümer derselben zu zeigen.

Die schönste Gegend von Poitiers ist vor dem Thore St. Lazare. Hier erheben sich von verschiedenen Seiten Trümmer zerstörter Römerwerke; auch ein altes, verfallenes Schloß, und nicht weit davon fällt ein kleiner Fluß in den Clainstrom.

Die Landschaft hat ungemein viel Anmut und romantisches Interesse. Ermüdet setzte ich mich unweit der Burg auf ein morsches Mauerstück, und während mir mein wohlunterrichteter Führer von der alten Herrlichkeit Poitiers' erzählte, und wie Kaiser Augustus es selbst gebaut habe, wie vor Zeiten hier berühmte Kirchenversammlungen gehalten worden wären, und unter Karl VII. sogar das Parlament von Paris sich hierher geflüchtet habe, gedachte ich der Vernichtung und Verwesung alles Irdischen. Der glückliche Augustus und der unglückliche Karl, die frommen Männer der Kirchenversammlung und die berühmten Redner des Parlaments sind nicht mehr, und ihre Werke sind untergegangen. Alle haderten, sorgten und litten umsonst, und starben nach einem freudenarmen, verkümmerten Leben. Und ich gedachte der schönen Kirchenlehre von der Auferstehung und dem Wiederkommen aller Dinge. Da schauerte meine Seele froh. Unter den Millionen würde dann auch die Einzige verklärt da stehen; ich würde sie unter den Millionen finden.

Und indem ich's dachte – o Bellisle! – trat sie hinter der halbverfallenen Ringmauer des Schlosses, in der Mitte einiger Herren und Frauen hervor, ging den Steig gegen den Fluß hinab, wo ein Schiff sie erwartete, und fuhr mit ihrer Gesellschaft den Strom entlang, wo sie mir zwischen den Gebüschen und Uferkrümmungen entschwand, ehe ich mich von meinem Schrecken, von meiner unaussprechlichen Verwirrung erholen konnte. War sie's selbst? War's ihr Geist? War's Augentäuschung? War's ein Wunderspiel der Natur, die ihr schönstes Werk zweimal erschuf, um durch den Tod der Großfürstin nicht das edelste Glied in der Kette ihrer Schöpfungen fehlen zu lassen?

Christine ist nicht mehr, und doch sah ich sie – sie war's! Ihre Gestalt, ihre Anmut, ihr Gesicht, ihr lichtbraunes, üppiges Haupthaar, ihre Bewegung – alles war sie selbst!

Ich sprang auf und eilte, als es schon zu spät war, dem Ufer zu. Ich fragte den Lohnbedienten um die Namen der Gesellschaft. Der Dummkopf wußte mir nichts zu antworten. Er schwatzte mir statt dessen mit Zungenfertigkeit viele Märchen von einem großen Steine vor, der bei Poitiers auf vier anderen Steinen liegen soll, und wollte mich dahin führen. Ich lief das Ufer entlang. um das Schiff noch einmal in der Ferne zu erblicken; allein die Gesträuche hinderten mich, vorzudringen.

Wie ein Berauschter kehrte ich in die Stadt zurück. Der Oberst Brouin nahm mich mit Liebe auf; vergebens forschte ich aber nach den Namen der Personen, die mich so lebhaft angezogen hatten.

Urteilen Sie nicht zu früh über mich, ab, Bellisle! Lesen Sie diesen Brief zu Ende! Was ich gesehen zu haben glaube, ist mehr als Wahnsinn!

Am Abend desselben Tages – ich weiß nicht, welches Fest die Leute in Poitiers hatten – ging ich mit Brouin und seiner Familie in die Messe. Wir traten in das Innere einer altgothischen, prächtigen Kirche, deren hohe, kühne Massen, Pfeiler, Wölbungen und hundert Altäre vom Glanz unzähliger Lampen und Kerzen erleuchtet waren. Kaum fanden wir noch Raum für uns, so groß war die Menge des Volks.

Sei es die Feierlichkeit des Orts, die Pracht der Erleuchtung, die Gewalt der Musik und der Chöre, die zuweilen vom majestätischen Ton der Orgel unterbrochen ward . . . genug, ich erlag bald den heftigen Empfindungen der Wehmut. Christinens Bild umschwebte mich; meine Sehnsucht ward ungestümer, und ich fühlte all den namenlosen Schmerz wieder, der mich bei der Nachricht von ihrem Tode und Begräbnisse fast getötet hatte. Meine Augen schwammen in Thränen, und ich seufzte mit zitternder Stimme gen Himmel: »O warum gabst Du mir dies Herz und des Jammers so viel!

Indem ich die Augen wieder senkte, überflogen sie seitwärts die Stühle der Damen und . . . Bellisle . . . da sah ich dieselbe Gestalt wieder, welche mir diesen Morgen bei dem alten Schlosse erschienen war! Ihre seelenvollen Blicke ruhten auf mir! . . . Bellisle, auf mir! . . . Sie war es wieder, ganz die Großfürstin, in allen Zügen, in allen Bewegungen, nur möchte ich sagen, frischer, blühender, schöner, als ich sie in Petersburg zuletzt gesehen hatte, wo sie schon der Gram dem Tode langsam zuführte. Wie am Morgen, war sie auch jetzt in schwarzen Trauerkleidern und trug einige Blumen am Busen.

Meine starren Blicke hingen an der Wundergestalt. Sie bemerkte es, schien betroffen und zog den schwarzen Schleier schnell über ihr himmlisches Angesicht. Und doch war mir's, als beobachtete mich ihr Auge durch die Dunkelheit des Schleiers.

Ich aber hatte fast mein Selbst verloren in diesen begeisterten Augenblicken meines Daseins – in diesen seltenen Licht- und Verklärungspunkten meines schattenvollen Lebensgemäldes. Wie soll ich Ihnen meinen Zustand schildern? Ich gedachte nicht des ungeheuern Widerspruchs, daß die russische Großfürstin im kaiserlichen Begräbnis zu Petersburg den tiefen Schlaf des Todes schlafe und zugleich in einer Kirche zu Poitiers die Messe höre. Ich sah nicht mehr die Kirche mit ihren glänzenden Altären und verdämmernden Schwibbogen und Hallen, sondern es war mir, als atme ich in einer Vorhalle des Himmels, wo die seligen Geister, des Irdischen entkleidet, sich unter süßen Ahnungen versammeln, ehe sie in das Allerheiligste gerufen werden. Und die Fülle der Strahlen, die aus der Finsternis auf mich niedersanken, und die Betenden alle und der Klang heiliger Töne aus der Höhe fügten sich in meinen Traum oder in meine überirdische Erscheinung. Ich fand nichts mehr unbegreiflich; und hätte ein Gott mir Diesen Zustand verewigt, ich würde unter allen Wesen der Schöpfung das seligste geblieben sein.

Die Zeit verfloß. Viele verließen die Kirche. Auch das wunderbare Ebenbild Christinens schien sich zum Aufbruch zu rüsten. Da erst genas ich von meinem Taumel.

»Wer ist die schwarze Dame dort?« fragte ich ängstlich den Obersten Brouin neben mir.

»Ich kenne sie nicht!«

»Also eine Fremde?«

»Sehr wahrscheinlich, denn ich sah sie nie in Poitiers. Die junge Dame neben ihr, mit der sie sich unterhält, ist die Tochter des Gastwirts zum goldenen Stern.«

»Kennen Sie diese genauer?«

»Ich sah sie einigemal auf Bällen. Sie tanzte vortrefflich.«

»Ich beschwöre Sie, lieber Oberst, fragen Sie Ihre Bekannten um Namen und Vaterland der schwarzen Dame!«

»Mit Vergnügen!«

Während unseres Gesprächs hatten sich jene Damen schon im Gewühl der Menge verloren. Wie gern wäre ich ihnen nachgeeilt, aber ich mußte dem Anstand ein Opfer bringen.

Am folgenden Morgen ließ ich nicht vom Obersten ab, bis wir miteinander nach dem Gasthofe zum goldenen Stern gingen.

Der Oberst erkundigte sich bei der artigen Tochter des Wirtes nach der fremden Dame.

»Sie ist aus Lyon!« war die Antwort. »Ihr Vater heißt de l'Ecluse; er scheint ein Kaufmann zu sein. Diesen Morgen ließ er in aller Frühe anspannen und reiste mit seiner liebenswürdigen Tochter ab.«

»Wohin?« rief ich.

»Wir wissen es nicht. Er erkundigte sich gestern nach der Heerstraße von Sivray,« antwortete die Befragte. »Es scheint,« setzte sie lächelnd hinzu, indem sie mich schalkhaft ansah: »Sie haben einander in Lyon gekannt und sind hier bei uns unerwartet zusammengetroffen. Waren Sie nicht gestern Abend mit dem Herrn Obersten in der Kirche St. Eustache?«

Ich bejahte es.

»Nun wohl, Fräulein de l'Ecluse befragte mich um Sie! Ich konnte ihr nur erwidern, daß Sie ein Fremder wären.«

Dies war nun alles, was wir über die Unbekannte erfahren konnten, die sich mit ihrem Vater kaum zwei Tage in Poitiers aufgehalten hatte.

Vergebens waren Brouin's Bitten. Ich reiste noch denselben Morgen nach Sivray ab.

Wohin ich kam, forschte ich nach dem Kaufmann aus Lyon und seiner Reisegesellschaft. Man wies mich bald rechts, bald links. Immer glaubte ich die Spur entdeckt zu haben; immer fand ich mich wieder getäuscht, bis ich die Hoffnung aufgab, jemals das rätselhafte Abenteuer aufklären zu können.

Morgen reise ich von hier ab.

Mögen Sie auch, mein Bellisle, immerhin sagen, daß die lebhafte Einbildungskraft mir den Streich gespielt, daß ich ein artiges Mädchen von Lyon, einiger Ähnlichkeit wegen, für eine Geistererscheinung genommen; daß es durchaus nicht wunderbar sei, wenn eine Dame, unaufhörlich von den Augen eines jungen Mannes verfolgt, endlich neugierig genug werde, nach dein Namen dieses Mannes zu fragen . . . den Tag von Poitiers vergesse ich nicht! Auch ihm baue ich in meiner Einsiedelei am Mississippi ein Denkmal.

Bordeaux, den 13. März 1716.

Nachdem ich kaum meine ersten Besuche in dieser blühenden Handelsstadt abgestattet hatte, erschien bei mir der Bankier Herr Duchat, und fragte, ob ich die in seinem Büreau für mich liegenden Geldsummen in Wechseln oder bar beziehen wolle? Welche Geldsummen? Herr Duchat stand, ehe ich nach Bordeaux gekommen, weder mit mir, noch mit einem meiner nähern Freunde in Briefwechsel. Nicht einmal eine Karte hatte ich an ihn durch Sie, geliebter Bellisle, erhalten! Ich bezeigte ihm meine Verwunderung; ich behauptete, er irre sich schlechterdings in meiner Person. Er wies mir einen Brief ohne Ort und Namensschrift vor, und fragte mich, ob ich der darin bezeichnete Chevalier d'Aubant sei, ob ich in russischen Diensten gestanden? ob ich entschlossen sei, mit Kapitän de Blaizot nach Louisiana zu gehen? . . . Ich läugnete es nicht, und er zeigte mir noch einmal an, daß ich bei ihm ein Kapital von 150,000 Livres zu beziehen habe. Nähere Auskunft wollte er mir nicht geben. Denn daß die Anweisung dazu, wie er vorgab, von London gekommen, wo keine Seele wußte, daß der Chevalier d'Aubant im März zu Bordeaux eintreffen würde, um sich nach Amerika einzuschiffen . . . das ist wohl ein Märchen.

Wer ist mein unbekannter Wohlthäter? . . . O Bellisle, darf ich auf einen andern als Sie rathen? Nur ein Freund wie Sie ist fähig, seinem Freunde ein so königliches Geschenk zum Abschiede mitzugeben! . . . Ja, ich nehme die Summe an, aber vermehren Sie mir den Wert derselben durch das Geständnis, daß Sie der Geber seien.

Santa Cruz, den 8. Juli 1716.

O Bellisle, mich verfolgt das seltsamste Schicksal, welches jemals einen Sterblichen neckte! Der unermeßliche Ozean trennt mich von Europas Küsten, und was ich dort sah, sehe ich hier wieder; und was mich dort bezauberte, übt auch hier seine feenhafte Gewalt an mir. Mein Lebenslauf gleicht einem schönen Feenmärchen; dieselbe Wundergestalt, welche mich in dem deutschen Hain entzückte, die ich am Hofe des russischen Kaisers als Großfürstin glänzen sah, die mich an den Ufern des Clain überraschte, im Tempel zu Poitiers begeisterte . . . nennt meinen Namen unter den Palmen von Teneriffa.

Doch ich will alles in stiller Ordnung erzählen, damit Sie nicht wieder auf die Verworrenheit meiner Briefe schmählen. Meinen letzten Brief, welchen ich Ihnen von der Insel Madeira schrieb, werden Sie schon erhalten haben; denn wir mußten dort, widriger Winde wegen, noch viele Tage liegen bleiben. Der Kapitän de Blaizot ließ endlich am dritten Juli in der Frühe die Anker lichten, und schon am vierten gegen Abend konnte man in dämmernder Ferne die Insel Teneriffa am Horizont erblicken, die wir jedoch erst am folgenden Tage erreichten.

Der Kapitän wollte sich auf dieser Insel mit Wein versorgen. Wir mußten also auch hier einige Tage verweilen. Ich ging mit de Blaizot auf Land und hatte beim Anblick des majestätischen Pic, der sich kegelförmig bis in die Wolken emporstreckt, nichts Geringeres im Sinne, als diesen berühmten Berg zu besteigen. – Doch der Schiffskapitän hinderte mich daran, ich habe dadurch aber nichts verloren, denn ich erblickte dafür die geliebte Überirdische.

Es war gestern ein herrlicher Tag. Ich begab mich am Abend auf den Spaziergang am Ufer, die Almeida genannt, wo ich im Schatten hoher Palmen und Kastanienbäume eine schöne Stunde mit Träumereien über meine Zukunft zubrachte. Der Anblick des ewig regen, unendlichen Meeres und dann wieder des jenseits der Stadt sanft anschwellenden Gebirges, dessen höchste Gipfel ein Kranz von gekräuselten Silberwolken umfloß . . . die leichtere, reinere Luft, in der ich tiefer und gesunder zu atmen wähnte . . . der aromatische Geruch, der mir von unzähligen, wild wachsenden, fremdartigen Stauden und Gesträuchen entgegenströmte . . . das geschäftige Getümmel der Arbeiter, Lastträger und Matrosen am Gestade . . . Alles war mir ein so neues, schönes Bild, wie ichs nie gesehen, und welches meine Brust mit den lieblichsten Gefühlen schwellte.

Siehe! – ich war zum Ausgang der Almeida, zu dem weit in die See hinausgebauten Hafendamm gelangt – da kommt atemlos, mit einem Päckchen unterm Arm, derselbe Mensch gesprungen, den ich dir in meinen Briefen aus Paris stets den Rotrock nannte.

Es war dasselbe Zigeunergesicht; nur statt des Scharlachrockes trug er ein leichtes grünes Reisekleid.

Er lief an mir vorüber, sah mich, blieb verwundert stehen und rief:

»Herr Chevalier, Sie hier? Willkommen auf Teneriffa! Wohin geht die Reise?«

Ich antwortete ebenso schnell, als er fragte.

»Nach Neu-Orleans in Louisiana!«

»Viel Glück!« rief er, und lief davon, den Hafendamm entlang.

Die Eilfertigkeit dieses Sonderlings verdroß mich, ich rief ihm nach. Er hörte mich nicht. Gern hätte ich ihn gesprochen. Langsam folgte ich ihm. Die Seiten des Hafendammes wimmelten von Booten, die landen oder abstoßen wollten. In eins dieser Boote sah ich meinen Grünkittel springen; es waren darin zwei Damen und ein ältlicher Herr. Ich trat näher. Das Boot war schon vom Ringe abgelöst, und ruderte seewärts. Ich hörte eine weibliche Stimme aus dem Fahrzeuge: »d'Aubant!« rufen.

O mein Freund, da ward es dunkel vor meinen Augen . . . es war die göttliche Lyonerin, die Großfürstin, das Mädchen aus dem deutschen Walde . . . nennen Sie es, wie Sie wollen!

Mit Vogelschnelle flog das Boot dahin und verlor sich unter den Schiffen, welche auf der Rhede vor Anker lagen. Ich Elender, den alle Besonnenheit und alle Geistesgegenwart verlassen hatte! Ich beschoß zu spät, der Wunderbaren nachzueilen, und endlich das unbegreifliche Rätsel zu lösen. Ich lief den Damm auf und ab, und suchte um jeden Preis ein Boot zu mieten. Ich fand alle schon versagt; bei andern fehlten die Schiffer, und wieder bei andern hatte ich Mühe, mich den Leuten verständlich zu machen die nur spanisch redeten.

Als ich endlich ein Fahrzeug gewonnen, sah ich drei große Schiffe mit gespannten Segeln ins Meer gehen. Ein Landwind, der bei Teneriffa zu den Seltenheiten für Schifffahrer gehört, begünstigte sie. Ich zitterte bei dem Gedanken, daß eins derselben die wunderbare Unbekannte entführe. Ich kam zum Ankerplatz und fragte von Schiff zu Schiff, und meine Furcht fand ihre Bestätigung. Die Damen waren auf das französische Schiff, der »Delphin« genannt, an Bord gegangen, welches unter den Absegelnden gewesen. Man wußte mir nur noch zu sagen, daß der Commandeur des »Delphin« nur um dieser Damen willen die Abfahrt verzögert, und bei ihrer Ankunft schon die Anker aufgewunden gehabt habe.

Es war dunkel, als ich wieder auf Ufer trat . . . ich liefen die Almeida zurück, wie ein Verzweifelter, und machte – ich erröte nicht, es zu bekennen – in tausend Thränen meinen Schmerzen Luft. Meine Augen fanden in dieser Nacht keinen Schlummer.

Sobald der Morgen graute, ging ich aus, um zu erforschen, wo sich die Damen während ihrer Anwesenheit auf der Insel aufgehalten hatten. Es war in Santa Cruz selbst, wo sie in einem Privathause gewohnt hatten. Der Eigentümer des Hauses, ein Weinhändler, wußte mir nichts zu sagen, als daß die Dame, die mich interessierte, die Tochter eines Deutschen mit Namen Walter sei, der nach Westindien zu seinen Verwandten reise. Das zweite Frauenzimmer habe er für die Dienerin der Tochter gehalten; und eine Mannsperson, die nach der davon gegebenen Beschreibung keiner als mein Rotrock zu Paris, oder der Grünrock von Teneriffa sein kann, schien der Bediente des Herrn Walter zu sein, der ihn schlechtweg nur Paul gerufen habe.

So weit meine Aufklärung, wenn ich das Aufklärung nennen darf, was meine Verwirrung noch vergrößerte . . . Ich erlangte ohne Mühe, daß mir auch das Zimmer gezeigt wurde, welches die schöne Walter bewohnt hatte. Ich betrat es mit sanftem Schauer, wie das Allerheiligste eines Tempels. Ihr Geist schien aus diesen einfachen Geräten und Verzierungen mich noch anzusprechen, und jedes schöner und bedeutender zu sein, weil es durch ihre Berührung geweiht worden. Dieser Boden hatte sie getragen, dieser Sessel sie umfangen, dieser Spiegel ihre himmlische Gestalt zurückgestrahlt. Ich durchspähte alles mit Blicken der Neugier und heiligen Scheu, wie ein Pilger, welcher die heilige Erde Jerusalems betritt, und das Grab sieht, aus welchem der Erlöser auferstanden ist.

Auf einem Winkeltischchen lagen einige zerschnittene Papiere, von denen noch eins die abgerissenen deutschen Worte enthielt:

Vergessenheit aus Lethes dunkeln Wellen,
Der Hoffnung grüner Feenkranz . . .

Man sah 's den Zügen der Schrift an, daß eine weibliche Hand sie gezeichnet hatte. Auch der Weinhändler bestätigte, daß er die schöne Fremde in diesem Zimmer einmal schreibend gefunden. Dies war genug für mich. Das Blättchen mit den sinnvollen Zeilen ward mein Kleinod.

Bellisle, Bellisle! Wer ist diese Wunderbare, die mir unter wechselnden Gestalten und Namen in den verschiedensten Gegenden des Erdballs begegnet? Ist es nicht eine . . . sind es mehrere? Daran glaube ich nicht mehr, seit ich auf dem Hafendamm meinen Namen von ihr aussprechen hörte! Die Tochter Walters und die Lyonerin d'Ecluse ist eine und dieselbe. Die Tochter Walters und die Gemahlin des Großfürsten Alexis sind in meinen Vorstellungen durch den sogenannten Paul wundersam verwandt, der ihr Diener ist, und in Paris mir doch – und warum gerade mir – den Tod der Prinzessin von Wolfenbüttel verkündete, ehe die Gesandtschaft davon unterrichtet war . . . Bellisle, hier walten seltsame Geheimnisse! Wer kennt die vor der Welt verhüllte Geschichte manches Fürstenhauses? Die Gemahlin des Großfürsten ist gestorben, ihr Leichnam ist in das kaiserliche Begräbnis beigesetzt worden – aber eben diese Prinzessin wandelt noch lebend unter dem Himmel! Die Prinzessin von Wolfenbüttel schwebt in diesen Augenblicken auf den Wellen des Meeres zwischen den Wendezirkeln, während Europa sie beweint.

Ich ruhe nun auf Erden nicht, bis ich die Unerklärliche gefunden. Als das schwankende Boot sie übers Meer trug, sprach sie mit süßer Stimme meinen Namen . . . und dieser Ruf zieht mich ihr nach durch alle Wüsten, alle Paradiese . . . und immer tönt es noch vor meinen Ohren, und mein erloschenes Leben flammt wieder mit verjüngter Gewalt auf.

Der »Delphin« trug sie zu den Küsten Amerikas. Er wird doch zu erforschen sein. Ich will rastlos und unstät von Hafen zu Hafen, von Land zu Land ziehen, bis ich die Spur entdecke . . . und dann . . . blüht mir noch ein Arkadien, und dieser Stern wird mich nicht belügen!

Vielleicht erhalten Sie nun in langer Zeit keine Briefe von mir . . . senden Sie die Ihrigen für mich nach der neuen Kolonie Neu-Orleans am Mississippi. Dahin werde ich, von meinen Abenteuern müde, einst gewiß zurückkehren.


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