Heinrich Zschokke
Die Prinzessin von Wolfenbüttel
Heinrich Zschokke

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Erstes Buch.

1.
Der Chevalier d'Aubant an Laurent Bellisle.

Petersburg, den 13 August 1714.

Endlich, geliebter Bellisle, endlich sind meine Wünsche gekrönt! Bald kehr' ich nun in Ihre Arme zurück, um im Schoße der ländlichen Natur einige Monate mit Ihnen auf Ihren Gütern zu verleben. O wie ungeduldig sehn' ich mich nach dem Augenblicke der ersten Umarmung, und wie viele hundert Stunden sind es von hier, dem traurigen Norden, bis zu den blühenden Gefilden Frankreichs!

Schon vor einem halben Jahre bat ich um meine Entlassung. Vor wenigen Tagen erst erhielt ich sie, und zwar von Seiner Majestät, dem großen Zar selbst, in den gnädigsten Ausdrücken. Ich wohnte dem in den Jahrbüchern der russischen Monarchie unvergeßlichen Tage von Aland bei, an welchem fast die ganze schwedische Flotte erobert ward. Das Glück ward mir hold. Ich focht auf dem Schiffe und an der Seite des Zaren, welcher diesmal unter dem Admiral Apraxin die Vorhut befehligte. Der schwedische Vice-Admiral Ehrenschild, uns an Stärke fast gleich, eröffnete den Angriff, indem er eine Fregatte vorrücken ließ, um unsere Bewegungen und unsere Macht zu beobachten. Bald ward das Treffen allgemein; bald donnerten aus tausend Schlünden alle Schiffe einander Verwüstung und Tod entgegen. Der Zar war mitten im Pulverdampf so kalt, ich möchte sagen so heiter, als befände er sich in seinem eigentlichen Element. Wechselsweise war er bald Matrose, bald General, bald Steuermann, bald Soldat. Seine Geistesgegenwart, sein Heldenmut hätte auch den feigsten Unterthan beseelen müssen. Zwei Stunden dauerte der höllische Kampf; Trümmer und Leichname tanzten auf den wilden Wogen des Meeres, und unaufhörlich krachte das Geschütz, das ungeheure Elend zu vermehren. Durch eine kühne Wendung gelang es uns, der feindlichen Flotte den Wind abzugewinnen, sie zu trennen, einen Teil derselben zwischen den Klippen zu umzingeln, und sie erobert in den Hafen von Abo zu führen.

Der Zar war nach diesem Siege so vergnügt, wie ich ihn nie gesehen. Mehrere der vornehmsten Offiziere von den andern Schiffen kamen herbei, ihm Glück zu wünschen. »Wer hätte das vor zwanzig Jahren denken sollen,« rief der Zar, »daß wir Russen heut in selbsterbauten Schiffen auf dem Baltischen Meere kämpfen und siegen würden!« Nachdem er die nötigen Befehle erteilt hatte, den Lauf auf die Alands-Inseln zu richten, um sich ihrer zu bemächtigen, ließ er mich vor sich kommen. Er unterschrieb noch einige Befehle, trank ein großes Glas voll Branntwein mit einem Zuge aus, stand dann auf, umarmte mich und sagte: »Junger Mann, Du hast Dich brav gehalten! Wie heißt Du?« – »Chevalier d'Aubant, Eure Majestät!« – »Gut, sollst Oberst sein! Geh' an Deinen Posten, und diene mir ferner wie heute!« Die Gnade des Zaren rührte mich tief. Doch benutzte ich den vorteilhaften Augenblick, meine Entlassung zu erbitten. Ich erzähle ihm das Wesentlichste von meinen Verhältnissen in Frankreich, vom Tode meines Vaters, und von der Notwendigkeit meiner Heimkehr, um die zerrütteten Vermögenszustände meiner Familie in Ordnung zu bringen. Der Monarch hörte mich schweigend an, drückte mir dann die Hand und sagte: »Ich verliere ungern wackere Männer; aber geh' nur, ich wills nicht abschlagen!«

Bald nachher, sobald wir wieder in Petersburg angekommen waren, ward mir die Entlassung ausgefertigt und mit der Einladung zugestellt, an allen Feierlichkeiten und Festen des Hofes teil zu nehmen, so lange ich noch in Petersburg verweile. Dergleichen schlägt man nun nicht gern aus, besonders wenn man wie ich noch einen Teil seiner Mobilien erwarten muß, welcher in Moskau zurückgeblieben ist. Ich beschäftige mich inzwischen damit, die neuen Anlagen zu sehen, welche der Monarch mit jedem Tage vervielfacht; und wahrlich, man muß Jahre zu Hilfe nehmen, um nur das alles mit den Augen durchlaufen zu können, was dieser außerordentliche Mann in einem so kurzen Zeitraum geschaffen hat! O wie elend winzig ist das Leben von tausend Königen gegen das Leben eines einzigen, in welchem fast jede Stunde die Geburtsstunde eines riesenhaften Werkes ist! Das Schlachtfeld von Pultawa, wo Peter seinen fürchterlichen Nebenbuhler Karl XII. besiegte und Schwedens Macht zertrümmerte, reihte ihn den ersten Feldherren seiner Zeit an, und auf den Gewässern von Aland gewann er den Ruhm eines Seehelden. Vor elf Jahren gründete er an den Sümpfen des Newastromes eine neue Stadt, er selbst war Baumeister und Meßkünstler; jetzt dehnt sich dort Meilen weit das unermeßliche Petersburg aus. Noch immer wird hier gearbeitet; über vierzigtausend Russen und eine zahllose Menge schwedischer Kriegsgefangenen sind täglich beim Bau beschäftigt. Und alles das, wovon die Hälfte hinreicht, einen Fürsten unsterblich zu machen, sind nur seine geringsten Thaten. Er ist der Gesetzgeber und zugleich der Umwandler seines Volkes.

Aber was thue ich? Verzeihen Sie, lieber Bellisle, wenn Sie statt eines Briefes eine Lobschrift auf den großen Mann erhalten, der in der Weltgeschichte keinen Nebenbuhler unter all den tauend Fürsten der tausend Völker findet, die einst waren. Romulus und Numa, die einst aus einer Räuberhorde den römischen Staat schufen, thaten viel; aber was ist ihr Werk neben dem Riesenwerk Peters des Großen? Karl der Große dürfte vielleicht mit dem Ruhme Peters in die Schranken treten, obgleich ohne Hoffnung des Sieges!

Ich kehre nach Frankreich zurück, aber die Erinnerung an das Große, was ich gesehen, wird mich dahin begleiten, und unter dem ungeheuern Maßstab, mit welchem ich künftig die Verdienste unserer Minister, Feldherren und Fürsten messen werde, wird das zu einer Kleinigkeit zusammenschrumpfen, was ich sonst für bewundernswert gehalten.

Der Zar hat übrigens das Schicksal aller Sterblichen, welche von Zeit zu Zeit, wie Erscheinungen aus einer bessern Welt, in die unsrige treten, um sie zu erleuchten, zu veredeln, zu erheben. Wo man ihn verehren sollte, wird er gehaßt. Sein Werk war nicht leicht. Er hatte mit Gefahren von tausenderlei Art zu ringen. Die Pfaffen verfluchen ihn heimlich; die Bauern verwunschen ihn; die Bojaren verlästern ihn; die Strelitzen möchten ihn umbringen . . . genug, all das reichere und ärmere Gesindel, der träge am Staub klebende Pöbel in allen Ständen, deren Ansehen, Geburtsrang, Herrschaft, Privilegien, Vorurteile, Aberglauben, Einbildungen und Grillen verletzt wurden, diese moralischen Vielfraße, welche nichts als ihre eigene Unbedeutendheit kennen und, unbekümmert um das von der Vernunft gebotene Bessere, sich nur in ihrem alten, hergebrachten Schlamme wohl fühlen . . . alle diese bilden um den Erhabenen eine alberne, feige Verschwörung. An ihrer Spitze steht des Zars eigener Sohn . . . der Großfürst Alexis.

Dieser junge Mensch, weit entfernt, wie einst Alexander, um die Großthaten seines Vaters zu weinen, daß sie ihm nichts zu thun mehr übrig lassen, spielt den Altklugen und zuckt die Achseln über die Erhabenheit dessen, der sein Vorbild sein sollte. Er meidet den Hof und giebt sich mit unwissenden Russen ab, die seiner Eitelkeit schmeicheln und mit ihm im Branntweintrinken wetteifern. Ist er in Moskau oder Petersburg, so sieht man ihn, statt von Künstlern, Gelehrten, Feldherren und Staatsmännern, von schmutzigen Pfaffen umgeben, die ihn als echten, altgläubigen, braven Russen segnen, der den heiligen Schlendrian liebt und Neuerungen haßt, in denen sie nicht glänzen können, weil sie nicht Geist, Bildung und Kraft genug haben. Jetzt ist der Großfürst Alexis in den Bädern von Karlsbad, wohin er seine Mätresse Euphrosyne, ein Mädchen aus der niedrigsten Volksklasse, eine Finnländerin, glaub' ich, mitgeschleppt hat. Sein Vater, der Zar, soll deswegen gegen ihn aufgebracht sein, besonders da die Gemahlin des Großfürsten erst vor kurzem von einer Prinzessin entbunden wurde und in gefährlichen Umständen war . . . Doch kein Wort mehr von diesem Unwürdigen, von dem alle Moskowiten hoffen, daß er der Wiederhersteller ihrer langen Bärte und abenteuerlichen Landestrachten sein werde!

Morgen mehr! Heute ist Ball in Peterhof.

Sie werden mir gern glauben, daß ich nicht ehrgeizig genug bin, um mein Leben, welcher Preis mir auch geboten werden könnte, in dieser Wildnis zu beschließen, doch eben so wenig würde ich die rauhen Tage, welche ich in derselben unter Kriegsgetümmel und Gefahren aller Art genoß, meinem Gedächtnis abkaufen lassen. Wir leben unterm Monde nur einmal! Und ein Thor ist, wer sich nicht so gut bettet, als er nur immer kann. Jetzt sehne ich mich nach Stille, und in den Schatten meiner heimatlichen Haine zurück. Ich stehe in der Mitte meiner irdischen Laufbahn, und will die zweite Hälfte meiner Stunden in süßer Ruhe hinbringen, da ich die erste in mannigfaltiger Geschäftigkeit durchflogen habe.

Ich denke mir den Erdball zuweilen wie einen weitläufigen Ameisenhaufen und vergleiche die Menschen mit jenen betriebsamen Tierchen. Wie klein erscheinen mir da die Sterblichen mit ihrem Thun; sie bauen für einen Tag; der folgende zerstört es. Der Erdball ist mein Vaterland; ich habe ihn ziemlich durchkreuzt; ich habe mit Bettlern und Fürsten zu Tisch gesessen; ich habe mit Katholiken, Juden und Lutheranern Brüderschaft geschlossen; ich habe die Kriege der Menschen mitgemacht, und fast in allen Ständen längere oder kürzere Zeit versucht, wie sich's darin lebt.

Das hat mich zum Philosophen gemacht; doch bin ich's nur erst halb. Es kleben mir noch so viele Ammenmärchen und Grillen aus meinen Kindheitstagen an. Ich will sie aber abstreifen, wie man Kletten abstreift, die man beim Blumensammeln auffängt. Wir glauben nicht mehr an Gespenster und Teufelskünste; aber wir glauben noch an viele andere, viel schädlichere Dinge, die unsern Geist verkrüppeln, und unser ganzes Dasein verbittern können. Unsere Erziehungskunst liegt fürwahr noch in der Wiege, trotz aller hochberühmter Männer, die sie zu veredeln glaubten, und trotz aller Bibliotheken, die sie zusammenschrieben.

Sie verstehen mich nicht, geliebter Bellisle, und ich glaub' es gern. Wollen Sie Geduld mit mir haben, so will ich Ihnen die Erklärungen in diesem Briefe geben. Legen Sie dies Blatt Tausenden Ihrer Mitbürger vor, sie werden es lesen und wieder lesen und doch nicht verstehen. Wer in meine Geheimnisse eingeweiht sein will, muß die Welt so von allen Seiten gesehen haben, wie ich, und gelernt haben, daß das Wesen nicht Schein, und der Schein nicht das Wesen sei.

Ich habe die beste Erziehung von der Welt genossen, was man nur heutiges Tages die beste nennt, und bin doch durch die Menge der Vorurteile sehr verdorben worden, welche mir mit der Muttermilch eingeflößt wurden. Ein gesunder Leib ist nicht derjenige, dessen bleiche Wangen mit Karmin gerötet, dessen fehlende Zähne durch Elfenbein ergänzt, dessen mangelnde Gliedmaßen durch Kissen und Holzformen verheimlicht werden.

Aber sehen Sie umher und suchen Sie unter den Millionen Wesen, von denen Sie umgeben sind, einen gesunden Geist! – Suchen Sie einen wirklichen kraftvollen, unverstümmelten Menschen, der mit der Natur eins ist! – Ihre Bemühungen dürften vergeblich sein.

O Bellisle, sehen Sie um sich, vom königlichen Audienzsaal bis in die Werkstatt des Handarbeiters finden Sie statt der wirklichen Menschen nur Larven! Jeder wird von allen betrogen, aber jeder will dafür auch alle betrügen. Nichts ist Natur – alles ist Einbildung und Hirngespinnst. Wir begehren nicht den Schatz, sondern glänzendes Flittergold. Wir fürchten nicht die eigentliche Gefahr, sondern sterben aus Verzweiflung und Angst vor Einbildungen. Es ist alles eine neue andere Art von Gespensterfurcht oder Schatzgräberei, und an allem ist unsere Erziehung schuld. Sie haben lange keine Briefe von mir empfangen, geliebter Bellisle! Sie haben mich lange nicht gesehen. Darum ist's gut, daß Sie auch meinen innern Menschen kennen lernen, daß ich Ihnen schreibe, wie ich denke. Sie können freilich auch in Büchern, wenn Sie Lust haben, moralische Abhandlungen lesen – aber ich weiß nicht, ob Sie den Gedanken darin finden, der in diesem Briefe liegt. Ich erzählte Ihnen nicht meine Abenteuer, aber das Ergebnis derselben.

Nach Mitternacht.

Es wird bald der Morgen grauen. Alles schläft; ich bin der Ruhe unfähig. Das Blut in meinen Adern ist Feuer geworden, meine Atemzüge sind Seufzer; mein Geist taumelt durch die Höllen und Himmel des Wahnsinns. Ich bin nicht mehr Ich selbst. Ich weiß es. Mitten in der Raserei des Fiebers ergreif ich die Feder. Es wird Unsinn geben; ich kann es voraus wissen. Aber ich will's wieder lesen, wenn ich gesund bin, um zu sehen, wie ich mich in dieser Verwandlung benahm. Daß ich noch dies denken kann, überzeugt mich von der Hoheit meines Geistes, welcher über dem Sturm der verworren in einander wogenden Sinnlichkeit wie ein Adler über Gewittern und empörten Ozeanen schwebt. Stolz giebt diese Höhe; aber süßer ist's unten im schönen Wahnsinn. Ich will mich wieder hinabtauchen; ich will nicht mehr ich sein – einst werd' ich wieder erwachen.

O Bellisle! Daß ich noch in diesem Augenblicke an Sie denken, daß ich noch in dieser Aufregung Ihren Namen schreiben kann, ist der höchste Beweis der Liebe, den ich Ihnen jemals gegeben. Aber keine Worte mehr . . . zur Sache! Ich verfluche die Langsamkeit meiner Feder, bei deren trägen Strichen in jeder Sekunde Millionen meiner Gedanken vorüberblitzen, und nur der elendeste, lahmste, wie ein ausgelebter Körper auf dem Papier liegen bleibt. Doch nein, ich kann ja mein Entzücken, meinen Jammer, alles Himmlische und Höllische, was über und unter den Sternen wohnt, mit einem Worte ausdrücken. Ich will's! Christine. Christine heißt das Wort, und ich zittere, indem ich's schreibe, und mein ganzes Wesen sinkt, wie von einer Feuerflamme verzehrt, ausgelöst aschenhaft zusammen.

Nein, ich liebe nicht, o Bellisle, gewiß nicht! Ich weiß ja wohl, was Liebe ist; ich habe ja geliebt. Nein, es ist Wahnsinn, was mich durchglüht . . . wundersüßer Wahnsinn, Trunkenheit, Taumel . . . wie soll ich es nennen? Verwandlung, Zerstörung . . . alles, seitdem ich Christinen gesehen habe.

Täuschen Sie sich nicht, Bellisle, wenn Sie diese verworrenen Zeilen lesen . . . es ist nicht Liebe; Christine ist von mir entfernter, als die Sonne vom Erdball. In keiner Ewigkeit durcheile ich die endlose Kluft zwischen mir und ihr. Auch begehr' ich's nicht, will nichts . . . ich verlasse Petersburg, Rußland . . . alles. Ich gehe nach Frankreich, ohne einen Schatten von Wunsch. Christine ist vermählt; Alexis, der Sohn Zar Peters des Großen ist ihr Gemahl; die deutsche Kaiserin ihre Schwester: vielleicht hat das Schicksal die jetzige Großfürstin zur einstigen Selbstherrscherin des russischen Nordens bestimmt.

Doch ich will Sie nicht mit Schwärmereien behelligen. Ich will Ihnen die Geschichte meines heutigen Tages ohne abzuschweifen erzählen, ich will mich mit angenommener Geduld quälen, bis ich wieder zu dem schönen Roman gelange, und in ihm die ganze Glut meiner Gefühle aushauche.

Diesen Abend war Ball in Peterhof. Das Schloß des Zaren ist noch nicht ausgebaut, aber es schien, als sollte es mit dem heutigen Feste die Weihe empfangen. Alles geschah zu Ehren der schönen Großfürstin Christine, welche, des schönsten Loses wert, vom Zar verehrt, von allen Russen angebetet, selbst von den eisgrauen Bojaren vergöttert, an einen Unhold vermählt ist, der eine verworfne Dirne aus Finnland dem Himmel an Christines Herzen vorzieht. Die Großfürstin hat das Wochenbett verlassen. Am 23. Juli gebar sie ihrem Gemahl eine Prinzessin, welche in der Taufe den Namen Natalie empfing. Der unempfindliche Halbmensch Alexis blieb mit seiner finnischen Buhlerin in Karlsbad; die Vaterfreude lockte ihn nicht zurück. Sein Vater, der große Zar, erschöpft sich indessen fast, bei seiner Schwiegertochter die Ausschweifungen und die Roheit des ungeratenen Sohnes in Vergessenheit zu bringen. Er hat sie mit einem glänzenden Hofstaate umgeben; Feste aller Art wechseln wie die Tage. Und so sah ich sie an dem heutigen. Vor neun Tagen feierte man ihr zwanzigstes Geburtstagsfest, Ach, Bellisle, erinnern Sie sich noch eines Miniaturgemäldes, welches ich Ihnen vor einigen Jahren in Calais zeigte? Sie glaubten damals nicht, daß es das Werk meines Pinsels und meiner Einbildungskraft war Ich erinnere mich noch, wie Sie es mit dem stillen Lächeln des Beifalls anstarrten, gen Himmel hoben, und ausriefen: Unter deinem blauen Gewölbe wohnt so ein Engel nicht – ich stürbe noch heute gern, fänd' ich ihn dort oben! Sie sahen mich erröten, meine Augen von einer stillen Thräne glänzen. Sie forschten nach meinem Geheimnis; ach, ich selbst hätte es mir so gern verschwiegen! Ich taumele in einem Wundergarten. Mein Leben ist ein zaubervolles Labyrinth – ich begreife nichts – die Dinge erscheinen und verschwinden, schlingen eine Zauberschnur um meine Seele und ziehen sie in den Strom der Begebenheiten nieder. Sie wird nicht genesen bis ich sterbe. Als ich mich in das festliche Gewühl der Versammlung zu Peterhof mischte . . . als ich dem Zaren vorgestellt war . . . öffneten sich die Flügel einer Nebenthür . . . am Arm der Gräfin von Königsmark trat sie herein . . . o Bellisle, soll ich sie Ihnen beschreiben? Wenn meine Einbildung das Innerste des Himmels durchdringt, finde ich unter den Seligen eine solche Gestalt nicht.

Sie war es wieder,

Doch nein, keine Silbe mehr! Ich erschrak vor meinen eigenen Worten, welche meinen Wahnsinn zurückspiegeln . . . Schon flammen die Wellen der Newa vom Morgenrot . . . Ich muß ruhen und mein Fieber verglühen lassen, ehe ich die Feder wieder nehme.

2.
Die Großfürstin Christine an die Gräfin Julie von B**.

Petersburg, den 2. September 1714.

Wie rührend ist die Stimme Deiner Liebe, meine Julie! Wenn ich Deine Briefe lese, nur die Züge Deiner Hand erblicke, dann vergesse ich träumend, wo ich bin; dann haucht mich wieder Deutschlands milder Himmel an; dann seh' ich wieder die Schattengänge und die Lauben im Schloßgarten meines Vaters, wo wir als Kinder in seliger Unschuld unter tausend Blumen hüpften, und seh' in diesen nordischen Wüsteneien, wohin mein Schicksal mich bannte, die silberne Blütenfülle der Fruchtbäume wieder, in deren Schatten wir unsere Kränze flochten.

Kalt und wild ist in der Nähe des Nordpols die Natur und der Mensch. Fast seit drei Jahren wohne ich fern von meinen Lieben, und noch immer lebe ich unter fremden Wesen. Keiner versteht meine Sprache, und die leisern Töne meines Herzens verhallen und finden kein fühlendes Herz. Ohne die Gräfin von Königsmark, so wenig auch unsere Denkart und Ansichten der Dinge zusammenstimmen, würde ich glauben, schon gestorben und vom Schöpfer auf einen traurigen Planeten verwiesen zu sein, wo ich eine Ewigkeit lang Sünden abbüßen soll.

Meine Gesundheit ist, gedankt sei es den unzerstörbaren Kräften der Jugend, wieder hergestellt. Nun will ich Dir öfter schreiben. Die Unterhaltung mit Dir soll meine schönsten Morgenstunden ausfüllen. Dein Bild hängt vor mir, vergegenwärtigt den Traum der Vergangenheit und erfüllt mich mit Täuschungen.

Glaube es doch nicht – ich beschwöre Dich –. daß in dieser Heimat des ewigen Winters auch mein Herz jemals erkaltet sei! Nein, Julie, Du bleibst mir teuer, wie ein Kleinod, welches ich aus bessern Welten hierher gebracht; wie eine Schwester, deren schönes Herz die Hand der milden Natur unauflöslich an das meinige schloß!

Und, Julie, wenn ich dein zärtliches Vertrauen nicht erwiderte . . . wenn ich auf deine tausend Fragen seit Jahren schwieg . . . wenn ich dir mein häusliches Leben verschleierte . . . glaub es mir, ich wünschte, du solltest mich glücklich wähnen! Ich wollte dich täuschen, um dich meinethalben ohne Kummer zu sehen. Bin ich nun glücklicher, nun getrösteter, nun du mich beweinst?

Du sagst, ganz Europa kenne meine traurige Lage, ganz Europa die Bitterkeit meines Loses, und schenke mir sein Mitleiden . . . nur ich allein wollte dir mein unverdientes Elend verheimlichen. Nun ja, du magst es wissen! Der Großfürst, mein Gemahl, ist von Natur von einem finstern Charakter. Ich habe nicht – o Julie, wie herbe wird es mir, dies Wort zu schreiben! – ich habe nicht das Glück, ihm zu gefallen. Ich war nicht das Weib seiner freien Wahl . . . und daher stammt vielleicht sein Widerwillen. Drei Jahre lang warb ich vergebens um seine Gunst. Man sagt wohl, wir Weiber können mit einem Lächeln, einer Thräne Wunder bewirken – nichts wäre uns unmöglich. Mir aber scheint leider die Natur dies glückliche Talent versagt zu haben. An den Launen meines Alexis scheiterte jede Kunst. Ich habe endlich – und drei Jahre ist eine lange Schulzeit – mich an den Haß meines Gemahls gewöhnt; vielleicht gewöhnt er sich an meine Liebe, die ich ihm schuldig bin. Sehen wir, wer am Ende den Preis gewinnt!

Ja, geliebte Julie, da du nun das Geheimnis meines Schicksals weißt, so wisse denn alles! Ich habe seit drei Jahren unaussprechlich gelitten, und der verborgene Kummer hat meine Kräfte fast ganz aufgezehrt. Einst war ich der Liebling meiner fürstlichen Eltern. Die Liebe wiegte mich groß; die Freuden erzogen mich. Wohin ich mich wandte, flog mir das Herz freundlicher Menschen entgegen. Ich kannte in der Welt keine Fremdlinge; kannte keine Sorgen, als die, Vergnügungen zu geben und zu empfangen; keine Thränen, als solche, welche beim Anblick der Leidenden, oder beim Lesen eines Gedichts, oder unter den schwermütigen Tönen der Musik stilles Mitgefühl meinen Augen entlockte. Jeder Morgen weckte mich zu einem kleinen Feste; unter schmeichelnden Erwartungen schlummerte ich abends ein. Ein Tag glich dem andern; jeder trat wie ein freundlicher Genius lächelnd zu mir, und schied lächelnd von mir.

So ward ich dem Sohne des größten Monarchen vermählt. Ach! Mit weissagendem Kummer sah ich hinter mir das kleine Wolfenbüttel verschwinden, wie ein Paradies, dessen ich unwert erklärt zu sein schien.

Schon der erste Anblick dessen, dem meine Hand bestimmt war, erfüllte mich mit bangen Ahnungen. Nicht, daß Alexis kein Mann gewesen wäre, der durch sein Äußeres wohl zu gefallen hoffen dürfte. Der Großfürst ist von hohem schlanken Wuchs und männlicher Haltung. Schwarzes Haar und schwarze Augen, ein angenehmer Ernst in seinen Gesichtszügen, eine würdevolle Haltung, die ihn als den Erben des größten Reichs der Welt kenntlich macht, geben seiner Gestalt Interesse. Er kann, wenn er will, sehr liebenswürdig sein – aber – er will es nie.

Seine Erziehung ist versäumt. Während der Zar, sein erlauchter Vater, Europa durchreiste, um Künste und Wissenschaften milderer Himmelsstriche auf seinen nordischen Schnee zu verpflanzen; während er einem nie beschifften Meere Flotten, wilden Völkerstämmen Sitten und undurchdringlichen Wäldern Städte gab, vergaß er, für diese neue Schöpfung einen würdigen Thronerben zu bilden. Der Prinz, von mißvergnügten Bojaren und abergläubischen Pfaffen umgeben, sog mit der Muttermilch alle Vorurteile seiner Nation und den Haß gegen alle Neuerungen seines erhabenen Vaters ein. Das Schicksal seiner Mutter Eudoxia, welche der Zar ins Kloster schickte und den Schleier zu nehmen zwang, goß neue Bitterkeit in seine Seele. Ein finsterer Trotz bemächtigte sich seines Gemüts. Er haßte, was von seinem Vater stammte. Was diesen kränkte, machte ihm Freude. Er nahm den Aberglauben der dummen Priester, die rohen Sitten der Bojaren an, und gefiel sich, der Abgott des niederen Pöbels zu werden. So verwilderte der Prinz. Sein Betragen ist roh, seine Kleidung ohne Wahl und unreinlich, seine Gesellschaft ein Haufen Mönche und verdorbener Wüstlinge.

Julie, und dieser ist mein Gemahl!

Am Tage unserer Vermählung zog mich der Zar zu sich an ein Fenster des Versammlungssaales, wo der Prinz stand. »Sieh,« sagte er zu seinem Sohne, »Du kannst die alten Gebräuche nicht vergessen, und die langen Bärte verdrehen Dir noch immer den Kopf. Mir folgst Du nicht. So hoff' ich denn alles von der Herrschaft einer schönen, geistvollen, tugendhaften Frau über Dein Herz. Gehst Du auch aus dieser Schule ungebessert hervor, so bist Du wahrhaftig für die ganze Welt verdorben.« Ich schlug die Augen nieder und fühlte es, wie meine Wangen brannten. Diese Anrede, welche alles Zartgefühl so tief verwundete, mußte den Prinzen mit Argwohn und Verdruß erfüllen. Ich hatte es schon in den ersten Tagen aus tausend kleinen Zügen bemerkt, daß Alexis mich nicht aus freier Wahl, sondern auf Befehl seines Vaters zu seiner Gemahlin erhoben. Und als ich mit furchtsamer Verlegenheit nun die Augen zu dem Neuvermählten aufschlug – o Julie, da las ich in den düstern Falten seiner Stirn, in den finster vor sich funkelnden Augen den Schwur seines ewigen Widerwillens, und mein entsetzliches Schicksal!

So ward es – so blieb es.

Sei verschwiegen und liebe mich!

Kaum hatte ich, geliebte Julie, den letzten Brief abgesandt, so empfing ich den Deinigen. . . . Wie bezaubernd ist das Familiengemälde, welches Du mir entwirfst und in welchem Du selbst die angebetete Göttin bist! Ich sehe Dich auf Deinem ländlichen Schlosse, im Schatten majestätischer Kastanien und Eichen, zu Deinen Füßen den lachenden Garten, über welchen selbst der Herbst noch hundert Blumen streut, und im Hintergrunde das frohe Dorf, dessen Bewohner Dich wie ihren Schutzgeist verehren. Ich sehe Dich, glückliche Mutter, den schönen Säugling an Deiner Brust, wie er tändelnd die Ärmchen nach Deinen herabfallenden Locken ausstreckt, und den Mann Deines Herzens, wie er entzückt vor der reizenden Gruppe dasteht, bald mit väterlicher Zärtlichkeit den flügellosen Liebesgott auf Deinem Schoße küßt, bald seine glühenden Lippen mit der Innigkeit des Bräutigams an die Deinigen schließt!

Ach, was habe ich verschuldet, daß ich auf diese Freuden Verzicht thun muß! Wie ganz wäre mein Herz für dieselben geschaffen, wie geringen Ersatz gewährt mir der Glanz meines traurigen Ranges! Töchter der Fürsten, unter allen Weibern die beklagenswürdigsten, beneidet die Tochter eures ärmsten Unterthans; denn sie darf lieben, darf ihre Hand dem geliebtesten der Männer reichen und an seiner Brust ihr Dasein verträumen, an seiner Brust mit stiller Seligkeit sterben! Wie die Sklavinnen des Morgenlandes geschmückt, werden wir dem Mächtigen dahin gegeben, der uns fordert; die Staatskunst schließt den Vertrag, und unser gebrochenes Herz ist eine Ware. Man nennt uns Götter der Erde, aber nimmt uns den Himmel. Wir sind Menschen, und man raubt uns das heilige Recht des Willens; wir haben ein Herz, und wir dürfen es nicht bekennen; die Natur ist unsere Mutter, und wir müssen sie verleugnen. Mit Thränen sehen wir von unserm Thron aus die häuslichen Freuden der Armut, die uns versagt sind. Mit unsern Juwelen und Schätzen können wir die Glückseligkeit nicht kaufen, die unter dem Strohdache des Landmanns wohnt. Wir schmücken unsern Leib mit kostbaren Metallen und Steinen; wir hüllen uns in prächtige Stoffe, und die Leckerbissen fremder Weltteile und Meere zieren unsere Tafeln . . . aber den niedern Ständen lassen wir die höhern Güter des Lebens; unsere Kleinodien erwärmen das Herz nicht; unsere Kronen verschaffen uns keinen Freund; ach! und ob Millionen ihre Kniee vor uns beugen und die Völker des Erdballs uns bewundern . . . diese tote Herrlichkeit wiegt nicht die lebendige Liebe und Treue eines Einzigen auf. Barbarische, vom Wahnsinn des Ehrgeizes eingeführte Ordnung, welche dem geringsten der Sterblichen alles gab, was das Leben verschönert, und uns zu goldenen Kerkern verdammte!

Verzeihe mir, Julie, wenn ich einen Augenblick dem Elende meines fürstlichen Standes erliege! Meine Klagen ändern die Einrichtungen der Welt nicht; das Vorurteil des Ranges und der Geburt behauptet seine Herrschaft, solange die Völker mit ihrer Barbarei behaftet sind. Tausend bittere, stille Thränen benetzten schon den Purpur der Fürsten und werden ihn noch lange benetzen. Ach, niemand versteht mich, als Du – niemandem klag' ich, als Dir!

Ich lebe – empfange denn als Gegenstück des Deinigen auch ein Familiengemälde von mir – das einsame Leben einer Witwe, ungeachtet des glänzenden Hofstaats, mit welchem die Güte des Zaren mich umgeben hat, und ungeachtet der Kette von Festtagen, mit welcher er mein Leben in Rußland durchflochten, um meinen Kummer zu zerstreuen. Ich bin in diesen feierlichen Versammlungen, bei diesen Lustbarkeiten und Spielen wie eine fremde Zuschauerin; meine Augen irren suchend durch das schimmernde Gewühl, mein Herz bleibt leer, nur meine Sehnsucht nach dem Bessern bewegt es.

Zuweilen seh' ich den Zar und seine Gemahlin, die Kaiserin Katharina Alexejewna. Mir ist wohl bei diesem edlen Paar; doch ihre Sorgen um das unermeßliche Reich erlauben ihnen selten einen freien Augenblick.

Man erzählt in Europa so manches von dem wunderbaren Manne, dem ich, wie einem zweiten Vater, mit kindlicher Liebe zugethan bin: sein Wesen erscheint in den tausend Märchen oft sehr entstellt. Ich will meinem Briefe eine Anekdote einflechten, die noch zu neu ist, als daß sie Dir bekannt sein könnte, und welche einen bedeutenden Charakterzug von ihm und der Zarin giebt. Es ist ungefähr ein Jahr, daß der Monarch bei einem hier angesessenen fremden Hausmann zu Mittag speiste. Er sah dessen Tochter, welche in der That den Namen einer Schönheit verdient, verliebte sich in sie, und verschwendete alle Künste der Beredsamkeit, sie, zu bewegen, ihrem Gatten die Treue zu brechen. Sie aber widerstand mit edelm Mute seinen Anträgen. Sie zitterte vor den Folgen der Leidenschaft eines in seinem Staate allmächtigen Fürsten, nahm einiges Geld an sich, und verschwand noch denselben Tag. ohne ihre Familie wissen zu lassen, wohin? Sie flüchtete in ein Dorf, wo ihre Amme lebte, die Frau eines Köhlers; ließ sich in den Wald führen, wo letzterer arbeitete, und sich daselbst von ihm eine Hütte errichten. In dieser wohnte sie nun, aller Welt verborgen. Die getreue Amme brachte ihr täglich die notwendigen Lebensmittel. Den Tag nach der Flucht kehrte der Zar in das Haus des Kaufmanns zurück. Er wollte die Tochter sehen. Zitternd erzählte der Vater, wie sie sich entfernt habe. Der Fürst war wütend vor Zorn, ließ das ganze Haus und die Häuser aller Verwandten durchsuchen, aber alle seine Bemühungen waren fruchtlos. Es verstrich ein Jahr. Man vernahm nichts mehr von dem schönen und tugendhaften Flüchtling. Man hielt sie für tot, wie denn ihr Gatte ebenfalls in der Zeit gestorben war. Durch ein Ungefähr entdeckte sie ein Oberst, der in demselben Walde jagte, worin ihre Hütte stand. Es gelang ihm, sie wegen der Nachstellungen des Zaren zu beruhigen, und sie in das Haus ihrer Eltern zurückzuführen. Er meldete seinen Fund der Kaiserin. Diese führte ihn selbst zum Zaren; hier mußte er alles erzählen, was die tugendhafte Frau während ihrer Entweichung gelitten. Der Zar, bis zu Thränen gerührt, überhäufte sich selbst mit Vorwürfen. Er gelobte, sein Unrecht gut zu machen. Die junge Witwe ward die Gemahlin des Obersten; der Zar machte den Eheleuten die ansehnlichsten Geschenke, und sicherte dem ehemaligen Gegenstande seiner Liebe eine Pension von dreitausend Rubeln zu.

So wechseln in seinen Handlungen unaufhörlich Seelengüte und Härte, Achtung für Tugend und rohe Leidenschaft. Er ist ein Sohn der wilden Natur, die ihn umgiebt, stürmisch, wohlthätig und erhaben wie sie: voll unermeßlicher Wünsche und furchtbarer Kraft.

Die Fürstin von Ostfriesland und die Gräfin von Königsmark sind meine täglichen Gesellschafterinnen. Es ist mir unmöglich, mit jener ein enges, trautes Band zu knüpfen. Nur im Hofwesen atmend, nur der Hofsitte huldigend, unbekannt mit edlern Gefühlen, sieht sie in mir ewig die künftige Kaiserin Rußlands, nie das leidende Weib. – Interessanter ist die noch immer, ungeachtet ihres Leichtsinns, liebenswürdige Königsmark. Sie schmiegt sich mit unendlicher Gewandtheit jedem meiner Wünsche, jeder meiner Klagen an. Sie ist eines von jenen zarten, gefälligen Wesen, welche, das Gegenteil spröder Selbständigkeit, tief in die Denkart anderer eindringen, und unwillkürlich die Laune, die Empfindungsweise des andern zu ihrer eigenen machen. Unter den Frohen ist sie die Mutwilligste, unter den Ernsten die Philosophin, unter den Unglücklichen die Beklagenswürdigste; sie bildet sich selbst ein, das alles zu sein, und ist doch nur ein zartes Echo.

Du kennst den alten Herbert? Erinnerst Du Dich seiner noch, wie er uns als Kinder bald in kleinen Wagen durch den Schloßgarten zog und unser Pferdchen hieß, bald mit uns über Zaun und Graben ging, bald unser Schiffsmann, bald unser Baumeister wurde? Dieser treue Diener ist noch immer bei mir, noch immer derselbe, und seine Laune noch immer die rosenfarbene, wie sonst. Er ist mir unentbehrlich geworden. Wenn ich ihn verlieren sollte, wäre ich untröstlich.

Siehe, nun kennst Du die wichtigsten Personen, welche mich umgeben! Alle übrigen gleiten vorüber, wie Schattenspiel an der Wand; ich sehe sie, und vergesse sie. Jedes treibt sich in seinen Sphären umher, macht mir den Hof, um sich glänzend zu zeigen, und kümmert sich weniger um mich, als um Spieltische und Tafeln. Die einzige Freude, die mir gewährst ist – Du bist Mutter, meine Julie, und errätst es voraus – ist meine kleine Natalie. Wie reizend ist der kleine Engel! Wie beklage ich ihn schon jetzt, daß er eine Fürstentochter ist, daß ihm einst das Los seiner Mutter zu teil werden soll!

Indem ich diesen Brief schließen will, kommt Herbert und meldet die Ankunft des Großfürsten Alexis, meines Gemahls. O Julie, mit zitternder Hand schrieb ich diese Zeilen! Um mir den Schrecken zu ersparen, bereitete mich Herbert lange auf diese Nachricht vor und doch vergebens. Mein Elend erneuert sich nun. Ach, daß ich den mit Furcht und Beben begrüßen muß, dem ich mit der Wonne des Wiedersehens an die Brust fliegen sollte! – Lebe wohl und beweine mich!

3.
Der Chevalier d'Aubant an Laurent Bellisle.

Noch immer datieren sich meine Briefe aus der Hauptstadt des russischen Reiches. Ich bin an diesen wilden Boden wie durch einen Zauber gebannt. Während in Frankreich noch alle Lauben grünen, noch hundert Blumen glänzen und an den Hügeln der Gesang der Winzer erschallt, verkürzen sich hier schon die nebligen Tage; das Laub fällt welkend von den Bäumen und von den finstern Tannen glänzt schon der Reif kalter Nächte und verkündet den nahen Schnee.

Dennoch – in dem Augenblick, wo ich sie verlasse – gefällt mir die rauhe Weltgegend. Auch hat sie ihren Schmuck und ihre Wunder. Wenn die Sonne rötlich durch den grauen Nebel bricht und ein melancholisches Licht über die schwarzen Wälder, über die kahlen Ebenen und armseligen Hütten verbreitet, hat sie einen Reiz, wie sie ihn kaum zeigt, wenn sie über den üppigen Gefilden der Champagne in vollem Strahlenglanze schwebt. Die hölzernen Häuser haben etwas einladend Heimliches. Die behagliche Wärme der Stuben lockt zu vertraulicher Geselligkeit.

Lachen Sie immer, mein Bellisle . . . aber die Welt ist überall weder häßlich noch schön; sie ist ein farbenloses Bild, das sich unsere Seele erst selbst ausmalen muß! Erst wir bringen Leben und Anmut hinein, wir erblicken nicht sie, sondern unser Selbst in ihr. Dem sibirischen Nomaden gefällt sein Dorf in der Schneewüste so gut, als dem Pariser Künstler das prächtige Rom. Gewohnheit macht alles erträglich, aber die Stimmung unsers Herzens ist die Zauberkraft, welche eine Sandsteppe zum Feengarten verwandelt.

Ich bin Ihnen noch die Erzählung von meiner Vorstellung bei der Großfürstin Christine und die Erklärung des geheimnisvollen Gemäldes schuldig. Ich will mich selbst vergessen und die fabelhafte Geschichte so einfach erzählen, als wär's ein Ammenmärchen.

Auf meiner Reise durch Deutschland streifte ich einst am Harzgebirge vorüber. Ich schickte Pferde und Wagen in die nächste Stadt voraus, um diese Gegend zu Fuß durchwandern zu können. Sie wissen, wie sehr ich Gebirgslandschaften liebe Eines Tages, die Mittagssonne brannte heftig, verließ ich die Landstraße; ich glaube, es war in der Nähe eines Ortes namens Blankenburg; ich wählte den Fußweg, welcher im Schatten eines Gehölzes neben dem Fahrwege in gleicher Richtung zu laufen schien. Die Landleute, die auf dem Felde arbeiteten, versicherten mir, daß ich auf demselben nicht fehl gehen könnte. Ich geriet immer tiefer in den Wald. Der Pfad hatte sich unmerklich unter meinen Füßen verloren. Ich kehrte zurück, fand einen Weg, verfolgte ihn, entdeckte bald, daß er mich ganz von meiner Richtung ableitete, verließ ihn wieder, suchte den ersten und verirrte mich zuletzt so tief, daß ich nicht wußte, woher ich gekommen war oder wohin ich mich wenden sollte. Der Abend trat ein. Noch immer war ich in dem verwünschten Buchenwalde; je weiter ich ging, desto unendlicher schien er zu werden. Ich machte mich schon gefaßt, mein Nachtlager auf weichem Moose zu nehmen und mit Bären oder Wölfen ein Abenteuer zu bestehen. Indem gelangte ich aus dem verhaßten Dickicht auf eine vom Walde rings umschlossene kleine Wiese. Das Gras stand hoch. Ich beschloß, sie zu durchkreuzen, in der Hoffnung, eine betretene Spur zu entdecken. Noch stand ich unentschlossen, wohin ich mich zuerst wenden sollte, als auf der andern Seite der Wiese zwei Frauenzimmer aus der Finsternis des Waldes, wie ein Paar freundliche Elfen hervortraten Sie erblickten mich; sie riefen und winkten. Ich flog der schönen Erscheinung froh entgegen. Ihre einfache, aber kostbare und geschmackvolle Kleidung ließ mich erraten, daß sie von gutem Hause seien; aus ihrer Verwirrung und Ängstlichkeit schloß ich, daß ihnen etwas Unangenehmes begegnet sei. O Bellisle, und als ich näher trat . . . als mir die jüngste zurief: »Führen Sie uns nach dem Jagdhause zurück! Wir haben uns verirrt . . . wir können keine Viertelstunde weit davon sein!« . . . da glaubte ich, die alten Wunderzeiten der Feenwelt seien in diesem Walde wiedergekehrt. Die begabteste Phantasie eines Dichters sah ein solches Ideal edler Schönheit nicht, als hier mit unendlicher Anmut meine Hülfe begehrte. Ich selbst ein Verirrter in dem bezauberten Forst, vergaß, daß ich diese unbekannten Gegenden zum ersten Male betrat. Das Unmögliche schien mir möglich zu werden. Ich begleitete die jungen Damen in derjenigen Richtung zurück, in welcher sie hierher gekommen zu sein schienen. Sie waren ermattet. Sie ruhten unterwegs. Sie fragten um meinen Stand, Namen und Vaterland. Ich antwortete. »Wie?« rief die jüngste der Grazien lächelnd: »So sind Sie selbst hier fremd und verirrt? Und Sie wollen uns führen?« Ich sprach ihr mit einer Zuversichtlichkeit Mut ein, daß sie mir zuletzt glaubte. Wir setzten unsern Weg fort. Ermüdet lehnten sich Beide an meinen Arm. Ja, Bellisle, ich war der glücklichste aller Sterblichen in diesen köstlichen Augenblicken, wo vertrauensvoll das unbekannte Wesen neben mir schwebte, welches von nun an der Abgott meiner Wünsche und Träume werden sollte! Ach, wie süß, wie unvergeßlich sind mir jene Augenblicke, jene Gespräche, jene kleinen Sorgen, die ich für den wunderbaren Engel übernehmen durfte! Bald mußte ich ihr Kleid von einem Dorn befreien, bald ihr durchs verwachsene Gebüsch Bahn brechen; und wie sie dann jedesmal zum Danke mich so gütig anlächelte, mit einem Blick, der die reinste Wollust der Seligen über mich goß! Plötzlich standen wir auf einem freien Felde, au einem Fahrwege, der neben dem Walde sich hinzog . . . Nicht weit von uns hielt wartend ein prächtiger Wagen. Er fuhr heran. Die Damen dankten mir, stiegen ein und verschwanden. Lange, wie ein Berauschter, wie ein Träumender, starrte ich ohne Bewegung dem Wagen nach, dessen Spur der wolkige Staub bezeichnete. – Mir war's, als würde mir meine Seele entrissen. Ich folgte dem Wege, welchen die Unbekannte genommen. Nur einmal wollt' ich sie noch sehen . . .

Doch nein, ich wollte Ihnen meine Geschichte mit dürren Worten erzählen! Nun denn, wie in stillem Wahnsinn lief ich den Weg entlang, und dachte nur an sie! Es war dunkel. Die Sterne leuchteten am Himmel. Ich ward nicht müde: kam von Weg zu Weg, Gott weiß, wohin, bis ich gegen Mitternacht ein Dorf erreichte. Mein Forschen nach dem Wagen und den beiden Damen war vergebens. Niemand wußte mir Auskunft zu geben. Wahrscheinlich hatte ich wieder zehnmal des Weges gefehlt, und mich mehr von denen, die ich suchte, entfernt, als mich ihnen genähert. Genug, ich sah die Zauberin des Waldes nicht wieder; erfuhr weder ihren Namen, noch Wohnort, und kehrte mit einer hoffnungslosen Sehnsucht in mein Vaterland zurück.

In einsamen Stunden versuchte ich's, das liebliche Engelsgesicht, voll süßer Kindlichkeit und hoher Würde, aus dem Gedächtnis zu malen. Sie sahen das Bild. Das ganze Abenteuer war einfach; aber es entschied über den Gang meines Lebens. Oft hat der Untergang eines Reiches nicht so viel Interesse, als die Geschichte eines Augenblicks. Ich liebte, was ich verloren – einen Traum, ein Ideal – aber genug, meine Seele hing mit unüberwindlichem Eigensinn daran! Kein Romanenheld konnte mir lächerlicher sein, als ich selbst . . . aber ich liebte. Ich wagte keinem meiner Freunde eine Silbe zu gestehen, um nicht ihr Spott zu werden; aber dafür erfüllte das Geheimnis mein ganzes Wesen mit einer unendlichen Glut. Und nun ich in Rußland bin, folgte mir das zauberhafte Bild in die fernsten Zonen. Es umgaukelte mich in den Schrecken der Schlacht; es ging mit mir durch die Prunksäle der Großen; es lächelte, wie ein tröstender Engel, an meinem Krankenlager; es zog den Himmel in meine Fieberträume. O Bellisle, und diejenige, welche in der festlichen Versammlung zu Peterhof am Arm der Gräfin Königsmark in den Saal trat . . . war wieder die holde Fee des Buchenwaldes . . . die längst Verlorene . . . Jetzt Gemahlin des Großfürsten Alexis, die Erbin des russischen Throns!

Fordern Sie nicht, geliebter Bellisle, daß ich Ihnen sage, wie mir ward! Ich zweifelte an Allem, was ich sah, selbst an der Wahrheit des Tages. Und während ich mir's tausendmal rief: »Du bist dem Wahnsinn nahe, armer d'Aubant. Glaub' es nicht, du siehst es nicht, es ist grobes Blendwerk!« . . . verging ich in Anbetung und Entzücken.

Die Fremden wurden ihr der Reihe nach vorgestellt. Auch ich mußte mich ihr nähern. Mir war's, als trät' ich in den Kreis eines überirdischen Wesens. Sie bemerkte meine Verwirrung; mich zu schonen, schien sie es zu übersehen. Der Haushofmeister nannte ihr meinen Namen. »Wie?« sagte sie. »Chevalier d'Aubant?« sah mich aufmerksamer an, und setzte zweifelnd hinzu: »Ich erinnere mich dunkel dieses Namens und daß ich Sie schon einmal gesehen. Vielleicht in Deutschland!« Und indem sie dies sprach, flog über ihr schönes Gesicht eine matte Röte, wie ein Widerschein des Morgenhimmels. Ich zitterte, Die Antwort erstarb auf meinen Lippen. Ich stammelte endlich eine Lüge, ich gab vor, die nie gesehen zu haben, deren Bild mich seit Jahren nicht verließ. Ich wußte nicht, was ich that und sagte. »Gewiß!« sagte sie nach einer kurzen Pause, »Sie sind's, der eine meiner Freundinnen und mich einst aus dem Walde führte, wo wir uns verirrt hatten. Sie sehen, daß Dankbarkeit wenigstens ein treues Gedächtnis hat.« Wie gern gestand ich's nun, daß jener Tag der schönste, der unvergeßlichste meines Lebens sei! Sie nannte sich, mit einem Lächeln, womit auch ein Thron, ein Leben bezahlt gewesen wäre, meine Schuldnerin, und wandte sich zu den übrigen Fremden.

Jetzt, Bellisle, kennen Sie meine Lage! – Und wenn die Advokaten daheim den ganzen Rest meines kleinen Vermögens verschlängen und ich ein Bettler würde, ich kann Petersburg noch nicht verlassen! Fragen Sie nicht, was ich wolle, was ich hoffe . . . schelten Sie meine Leidenschaft nicht . . . nennen Sie mich nicht einen Rasenden! Nein! Sie irren sich! Ich liebe die Großfürstin nicht . . . dies wäre Raserei. Aber ich verehre sie, wie ein höheres Wesen, dessen Nähe uns über uns selbst erhebt. In dieser Fürstin Dienst zu sterben, dies, Bellisle, ist mein letzter Wunsch!


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