Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5. Tageslicht.

Es war nämlich schon Tag – ich konnte es zwar nicht sehen, denn der sterbende Freund drückte mir mit seinen Schulterblättern die Augen fest zu – aber ich konnte es am Geräusche der Gehenden und Fahrenden auf der Straße erraten – da hörte ich Menschentritte und Menschenstimmen in dem Zimmer. Ich verstand nicht was man redete; denn es war polnisch. Aber ich bemerkte wohl, daß man sich mit dem Sarge beschäftigte. »Ohne Zweifel«, dachte ich, »werden sie den Toten suchen und mich erlösen.« – So geschah es auch, aber auf eine Weise, die ich nicht vermuten konnte.

Einer der Suchenden schlug nämlich mit einem spanischen Rohr so unbarmherzig auf den Verstorbenen oder Sterbenden los, daß derselbe plötzlich aufsprang und auf geraden Beinen vor dem Bette stand. Auch auf meine Wenigkeit waren vom Übermaß des spanischen Rohrs so viel Hiebe abgefallen, daß ich mich nicht enthalten konnte, laut aufzuschreien und schnurgerade hinter dem Toten zu stehen. Diese altpolnische und neuostpreußische Methode, Leute vom Tode aufzuerwecken, war zwar bewährt – dagegen ließ sich nichts einwenden, denn die Erfahrung sprach laut dafür; allein auch so derb, daß man fast das Sterben dem Leben vorgezogen hätte.

Als ich mich aber beim Tageslicht recht umsah, bemerkte ich, daß das Zimmer voll Menschen war, meistens Polen. Die Hiebe hatte ein Polizeikommissar ausgeteilt, der beauftragt war, die Leiche des Fremdlings beerdigen zu lassen. Der Steuereinnehmer lag noch immer tot im Sarge, und zwar im Vorzimmer, wohin ihn die betrunkenen Polacken gestellt hatten, weil es ihnen befohlen worden war, den Sarg in das ehemalige Pförtnerstübchen zu tragen. Sie hatten aber mein Vorzimmer anstatt des Pförtnerstübchens gewählt und einen ihrer betrunkenen Kameraden als Wache bei der Leiche gelassen, der vermutlich eingeschlafen, von meinem Geräusch in der Nacht erweckt, instinktmäßig zu meinem Bett gekommen war und da seinen Branntweinrausch ausgeschlafen hatte.

Mich hatte die gottlose Geschichte so arg mitgenommen, daß ich in ein hitziges Fieber verfiel, in welchem ich die Geschichte der einzigen schrecklichen Nacht sieben Wochen lang träumte. Noch jetzt – Dank sei der polnischen Insurrektion! Aufstand ich bin nicht mehr Justizkommissar von Brczwezmcisl – kann ich an das neuostpreußische Abenteuer kaum ohne Schaudern denken. Doch erzähle ich's gern; teils mag es manchen vergnügen, teils manchen belehren. Es ist nicht gut, daß man fürchtet, was man doch nicht glaubt.


 << zurück